Ich lasse mich in den Sitz fallen und decke mich mit der Jacke zu. Ein Brummen und Knirschen, dann fährt der Zug los. Es ist kurz nach sechs am Morgen des ersten Weihnachtstages.
Der Zug verlässt die Stadt. Mietshäuser, Reihenhäuser, Einfamilienhäuser und Villen ziehen vorbei. Die Fenster sind dunkel, nur in einigen leuchten Weihnachtsbäume. Der Zug hält an leeren Bahnhöfen.
In ein paar Tagen wird Elsebeth sich fragen, wo ich stecke. Sie wird lange brauchen, um die Treppe hinaufzukommen. Sie wird anklopfen, obwohl die Tür nur angelehnt ist, dann wird sie den Zettel finden. Die Buchstaben sind groß und deutlich, damit sie ihn leicht lesen kann. Eine Entschuldigung, aber keine Erklärung. Neben dem Zettel liegt eine Monatsmiete extra. Auch im Verteilerzentrum werden sie bald herausfinden, dass ich nicht mehr zur Arbeit erscheine. Ich bin nicht der Erste dort, der durch Fernbleiben kündigt.
Der Zug fährt durchs Land, die Sonne geht auf, und Familien mit Geschenkpaketen steigen ein.
Ein kleines Mädchen in einer hellblauen Daunenjacke sitzt mir gegenüber. Es hat mit seiner Mutter gestritten, die weiter vorne sitzt.
Das Mädchen spielt mit den Schnürsenkeln seiner Stiefel, als der erste Krampf mich schüttelt. Vom Hals bis zu den Füßen ziehen sich alle Muskeln zusammen. Mein Körper erinnert sich an das kalte Wasser. Ich kralle mich an den Armlehnen fest, die Fingernägel bohren sich in den Kunststoff. Als ich die Kontrolle wiedererlange, sehe ich das Mädchen an, seine Augen sind weit aufgerissen, ich versuche zu lächeln, aber ich schmecke Blut im Mund. Ich muss mir auf die Zunge gebissen haben. Das Mädchen weint und läuft zu seiner Mutter.
Ich merke nicht, dass wir die Grenze überqueren. Plötzlich stehen deutsche Namen auf den Bahnhofsschildern.
Ich steige um in einen modernen Zug mit roten Streifen an der Seite. Nachdem ich einen freien Platz gefunden und den Rucksack abgestellt habe, gehe ich in den Speisewagen und bestelle eine Tasse Kaffee, ein Würstchen mit Senf und ein kleines Brötchen. Ich verschlinge das Essen in großen Bissen und habe den Kaffee erst halb ausgetrunken, als ich die Augen nicht mehr offen halten kann. Die ganze Nacht bin ich in der Stadt herumgelaufen. Jedes Mal, wenn eine Polizeisirene ertönte, musste ich mich zwingen, nicht zu rennen. Ich ging von Kneipe zu Kneipe und trank Kaffee, wartete auf den ersten Zug.
Mein Schlaf ist unruhig, er ist grün und dunkelblau.
Die Lautsprecheransage weckt mich, wir erreichen Berlin. Ich sehe Betonhochhäuser und kleine Parks mit nackten Bäumen. Als wir in den großen Bahnhof einfahren, verschwindet das Licht.
Ulrich steht auf dem Bahnsteig, er hält ein Schild aus Pappe, auf dem »Hr. Mehmet Faruk« steht. Er lacht und faltet es zusammen. Umarmt mich so fest, dass ich sein feuchtes Halstuch schmecke.
»Ich war überrascht, als der Wagen mit den Bildern kam«, sagt er. »Die sind ja alle neu.«
»Gefallen sie dir nicht?«
»Doch, verdammt, ich habe fast geheult.«
Große, nasse Schneeflocken landen auf unseren Köpfen, schmelzen und rinnen als Wassertropfen in den Nacken. Ein paar Blöcke weiter steht ein alter Renault. Ulrich benutzt das Pappschild mit meinem Namen, um den Schnee von der Windschutzscheibe zu fegen. Er rüttelt fest an der Tür, bis sie sich öffnet. »Man muss wissen, wie es geht«, sagt er. Ich steige ein und stelle die Füße zwischen Papiertüten mit Essensresten und Pappbecher mit Kaffeerändern.
Ulrich schaut in den Rückspiegel und zwängt das Auto in den Verkehr.
»Die Ausstellung soll die erste im neuen Jahrtausend werden, wir öffnen um Mitternacht.« Er reißt ein Stück Toilettenpapier von der Rolle, die auf der Handbremse steckt, und wischt das Fenster. »Die Presse darf sie natürlich vorher sehen. Wir wollen die Besprechungen am ersten Januar, aber nicht früher.«
Die Ampel wird rot. Ulrich bremst, das Auto rutscht über den nassen Asphalt und bleibt wenige Zentimeter vor einem Mercedes stehen.
Ich wische das Seitenfenster mit dem Ärmel, sehe Bürogebäude mit den Namen internationaler Firmen, Hotels und Glasfassaden. Doch langsam verändert sich die Stadt, und ich sehe Gemüsehändler und kleine Läden, die Meterware verkaufen. Viele der Schilder sind auf Türkisch.
»Die Galerie liegt in Neukölln. Ein paar Jahre können sie mich noch auslachen, aber Neukölln wird der neue Ort. Weißt du, dass David Bowie dort gewohnt hat?«
Wir fahren in eine Seitenstraße. Die Gebäude sind dunkel und schmutzig, etliche zerbrochene Fensterscheiben sind mit Pappe geflickt. Ulrich hält an, zieht die Handbremse, und wir steigen aus. Auf der anderen Straßenseite liegt die alte Metzgerei, ich erkenne sie von dem Bild wieder. Über dem Schaufenster hängt ein neues, schwarzes Schild, auf dem in weißen Buchstaben »Fleisch« steht.
»Der Metzger hat Gammelfleisch verkauft und musste schließen.«
Wir laufen um große Pfützen herum.
»Im Keller habe ich eine große Gefriertruhe gefunden, sie war voll mit Koteletts aus den Achtzigern.«
Ulrich schließt auf, und wir betreten den leeren Laden. An den Wänden hängen Plakate mit Bildern von Schlachtvieh und Filetieranleitungen.
Wir gehen an der leeren Theke und dem Fleischwolf vorbei zu zwei stählernen Schwingtüren, durch deren Bullaugen gelbliches Licht schimmert.
»Bereit?«
Ich nicke, er stößt die Türen auf.
Ich habe ein Hinterzimmer erwartet, aber der Raum, in den wir eintreten, ist groß, wie die Vorhalle eines Schlachthofs.
Die Wände sind weiß gestrichen, aber unter der frischen Acrylfarbe nehme ich einen anderen, schwereren Geruch wahr.
»Den Boden habe ich original belassen«, sagt Ulrich. »Ich mag die Ablaufrinnen.«
Aus den Wänden ragen Fleischhaken, blank poliert, an der Decke hängen Flaschenzüge.
Der nächste Raum ist noch größer.
»Hier haben sie das Fleisch filetiert.«
In der Mitte des Raumes steht ein langer, in den Boden eingelassener Stahltisch mit Ablaufrinnen an beiden Seiten.
»Der macht sich gut fürs Büfett«, sagt Ulrich. Plötzlich hören wir eine Frauenstimme, leise, als würde sie mit sich selbst reden. Wir schleichen zur nächsten Tür.
Meine Bilder stehen an der Wand, manche sind schon aufgehängt. Vor einem davon steht eine junge Frau mit kastanienbraunem Haar und spricht in ein Mikrofon.
Ulrich flüstert: »Mona ist Kulturjournalistin beim Radio. Außerdem ist sie meine Großcousine.« Sie schaut zu uns hinüber und lächelt scheu, als hätten wir sie in einem privaten Augenblick ertappt. Sie schaltet das Tonband aus und gibt mir die Hand.
»Ich freue mich, dass ich deine Bilder sehen darf, wirklich.«
Sie hat braune Augen und kleine Muttermale im Gesicht.
Auf dem Rückweg zeigt mir Ulrich die Leisten an der Decke, von denen die Bilder an dünnen Metalldrähten hängen sollen. Die Neonröhren hat er gegen kleine Spots ausgetauscht, die sich einzeln an- und ausschalten lassen. Das Licht war fast am teuersten, verrät er.
»Du hast mir versprochen, dass ich ihn ausleihen darf«, sagt Mona, als wir wieder vorne im Laden stehen.
»Ich muss sowieso ein Geschenk kaufen.«
»Für Elisa?«
Er nickt, sieht ihr nicht in die Augen.
»Ein bisschen spät, oder?«
Er wickelt sich ein Tuch um den Hals.
»Wo kann ich euch treffen?«, fragt er.
»Wir gehen ins Leos.«
»Snob«, sagt er.
Auf dem Gehweg ist nur ein schmaler Streifen geräumt, wir müssen dicht nebeneinandergehen.
»Hat Ulrich schon erwähnt, dass Bowie in Neukölln gewohnt hat?«, fragt Mona.
»Ja.«
»Und dass Kreuzberg out ist?«
»Nicht direkt.«
»Das kommt noch, warts ab.«
Wenn sie lächelt, sieht es aus, als würden sich ihre Muttermale verschieben.
Wir warten an der Bushaltestelle. Eine Frau mit Kopftuch schimpft auf Türkisch mit ihrem kleinen Jungen, dessen Ball auf die Straße rollt.
»Hier gibt es Stadtteile, in denen man weniger als die Hälfte der Leute versteht.« Sie hält ein, hat Angst, dass sie etwas Falsches gesagt hat. »Du kannst doch Türkisch, oder?«
»Nur ›Guten Tag‹ und ›Auf Wiedersehen‹.«
Wir fahren vier Stationen mit dem Bus, und als wir aussteigen, sagt Mona, dass wir nun in Kreuzberg seien. Hier sind mehr junge Menschen auf der Straße, es gibt mehr Graffiti an den Wänden, aber im Grunde sehe ich kaum einen Unterschied zwischen den beiden Stadtteilen.
Die Bar liegt im Keller, ich muss mich bücken, um den Kopf nicht am Eingang zu stoßen.
Die Wände und Tische sind bordeauxrot. Der Kellner trägt ein Piercing zwischen den Augenbrauen und ein zweites an der Unterlippe. Er lächelt, als würde er Mona kennen.
»Wir sitzen unten in der Ecke«, sagt sie und zeigt auf ihre Tonausrüstung.
Ich folge ihr in eine Nische, wir setzen uns auf ein rundes Sofa mit kleinen Kissen. Sie stellt das Aufnahmegerät auf den Tisch und schaltet es ein.
»Ich lasse es einfach laufen, ich hoffe, das stört dich nicht.« Sie drückt auf einen Knopf am Mikrofon.
»Ich schneide meine Fragen raus, du darfst gern mit ganzen Sätzen antworten.«
Der Kellner bringt zwei große Bier.
»Vielleicht irre ich mich, aber es sieht aus, als ob deine Bilder zusammenhingen. Als würden sie eine Geschichte erzählen. Kannst du mir sagen, wovon sie handelt?«
Ich sehe sie an, ihre Muttermale. Klein und über das ganze Gesicht verteilt, wie Inseln auf einer Karte. Wie Mikronesien.
Sie dreht am Aufnahmegerät, mein Blick hat sie selbstbewusst gemacht.
»Kannst du mir kurz erzählen, wer Mehmet Faruk ist?«
Am Mikrofon leuchtet ein kleines rotes Lämpchen.
»Vielleicht kannst du etwas von deiner Kindheit erzählen? Wo bist du aufgewachsen?«
Kleine Blasen bilden sich auf der Innenseite der Gläser.
»Denkst du beim Malen an deine Kindheit?«
Ich nicke. Sie lächelt, die Inseln bewegen sich.
»Im Radio reicht es leider nicht, zu nicken.«
Ich nicke.
»Du magst keine Interviews, stimmts?«
Sie schaltet das Aufnahmegerät aus, lehnt sich zurück, zündet sich eine Zigarette an und formt einen perfekten Rauchring. Ich habe Lust, ihn mit dem Finger aufzufangen.
»Wenn ich deine Bilder ansehe, weiß ich, warum ich mit dem Malen aufgehört habe. Ich bin auf die Kunstakademie gegangen und war sehr stolz, dass sie mich aufgenommen hatten. Ich wollte unbedingt Malerin werden.«
Wir trinken Bier, und sie erzählt von sich selbst. Sie ist achtundzwanzig und sagt, sie sei froh, überhaupt mit Kunst arbeiten zu können. Die meisten ihres Jahrgangs würden Windeln wechseln, entweder zu Hause oder im Altersheim.
Beim dritten Bier betritt Ulrich die Bar. Er schaut Mona fragend an, sie nickt, wir sind fertig.
Ulrichs Auto steht halb auf dem Gehweg. Er gibt mir die Schlüssel und sagt, er müsse Mona kurz etwas fragen, ich solle mich schon hineinsetzen.
Ich versuche, die Beifahrertür zu öffnen, aber sie geht nicht auf, sosehr ich auch rüttle. Ich steige auf der Fahrerseite ein und kurbele das Fenster herunter, damit die Scheibe nicht beschlägt. Auf dem Rücksitz liegen ein weißes Plüschkaninchen und eine Rolle Geschenkpapier. Ein paar Minuten später kommt Ulrich. »Willst du fahren?«
Ich schüttle den Kopf und klettere über den Schalthebel.
Wir fahren durch eine Stadt in Veränderung. Von großen monumentalen Bauwerken zu Wohnkomplexen und neuen Bürogebäuden.
»Ehrlich gesagt habe ich Mona gebeten, dich zu interviewen. Ich wollte sehen, wie es läuft.«
Ulrich wechselt die Fahrspur, rammt fast einen BMW.
»Es lief nicht so gut, oder?«
»Nein.«
»Deshalb habe ich meine Pläne geändert. Die Journalisten sollen auch raten dürfen. Du wirst ein Mysterium. Nicht einmal ein Bild von dir wird im Katalog sein. Keine Hintergrundgeschichte. Nichts. Wir verraten nur deinen Namen. Natürlich kannst du auch einen Künstlernamen wählen.«
»Peter«, sage ich.
»Gut.« Er lächelt. »Ich werde die Kataloge bei irgendeinem Türken drucken lassen. Das ist die einzige Möglichkeit, sie so schnell zu bekommen. Die machen sonst nur Speisekarten für Dönerkneipen.«
Ulrich fährt durch immer ruhigere Straßen.
»Peter Faruk.« Ulrich testet den Namen. Dann zieht er eine Rolle Klebeband aus der Tasche und fragt: »Kannst du mir einen Gefallen tun und das Kaninchen einpacken?«
Wir fahren durch eine Allee mit hohen Bäumen. Der Wohnblock, vor dem wir parken, ist das einzige Betongebäude in der Straße, seine vier Etagen überragen die umliegenden Villen.
Eine Frau im Morgenmantel öffnet die Tür, ihre Augen sind schwer vor Schlafmangel, ihr Haar ist ungekämmt.
»Du hast einen Schlüssel«, sagt sie, noch ehe sie mich im Treppenhaus erblickt. Sie zwingt ein Lächeln hervor.
Wir folgen ihr in eine schmale Küche. An einem Klapptisch sitzt ein kleines Mädchen auf einem Kinderstuhl. Vor ihm steht eine Schale Brei, in der ein Pu-der-Bär-Löffel steckt.
Das Mädchen streckt die Arme nach Ulrich aus, er legt das Geschenk auf den Tisch. Die Kleine zerrt an dem Papier, bis ihre Mutter hilft. Sie umarmt das Kaninchen und kleckert Brei auf das weiße Acrylfell.
»Dann hast du zwei Geschenke von deinem lieben Papa bekommen, mein Schatz.«
Die Mutter drückt mir den Löffel in die Hand und fragt, ob ich nicht übernehmen wolle. Sie gehen ins Nebenzimmer. Sie schließt die Tür, aber sie ist so dünn, dass wir alles hören.
»Hast du den Jungen mitgebracht, damit ich dich nicht anschreie?«
»Ja.«
»Ich schreie dich nicht an.«
»Ich wünschte fast, du würdest schreien.«
Ich tauche den Löffel in den Brei, die Kleine öffnet den Mund.
»Du hast ihr schon ein Geschenk von mir gegeben?«, höre ich Ulrich sagen.
»Natürlich, was hätte ich denn sagen sollen? Sie ist erst anderthalb Jahre.«
»Das freut mich.«
»Der Teddy, den du ihr geschenkt hast …«
»Kaninchen.«
»Es hat Glasaugen.«
»Und?«
»Kinder unter drei dürfen nicht mit Stofftieren spielen, die Glasaugen haben. Sie können sie verschlucken.«
Es wird still, ich füttere weiter. Sie hat dicke Backen, lächelt mich an. Ich wische ihr den Mund ab, auf der Serviette ist ein Bild von Pus Freund Tigger.
»Brauchst du Geld?«, fragt ihre Mutter im Zimmer nebenan.
Die ersten zehn Minuten der Rückfahrt schweigen wir, dann greift Ulrich auf meine Seite und öffnet das Handschuhfach.
»Wir brauchen Musik«, sagt er.
Ich wühle im Dunklen, bis ich eine Kassette finde. Die Aufschrift kann ich nicht lesen. Ulrich steckt sie in den Kassettenrekorder. Erst Trommeln, dann Iggy Pops Stimme. Ulrich dreht auf, bis die Lautsprecher kratzen, er bewegt die Lippen lautlos zum Gesang. »Here comes Johnny Yen again …«
Wir fahren zurück durch die Stadt.
»Ich hätte dir das vorher sagen sollen, aber es gab irgendein Problem mit der Hotelreservierung. Ich hoffe, du hältst es auch eine Nacht bei mir aus.«