Beim Aufwachen trage ich noch den Kopfhörer. Die Sonne geht hinter den Dächern unter und schickt rötliches Licht durch das kleine Dachfenster. Das Zimmer, in dem ich zur Untermiete wohne, ist die Rumpelkammer einer alten herrschaftlichen Wohnung, die sich über zwei Etagen erstreckt.

Auf dem Toaster im Flur liegen zwei Scheiben Brot, leicht verbrannt auf einer Seite. Ich bin eingeschlafen, bevor ich sie essen konnte.

Ich ziehe mich an, spritze mir Wasser ins Gesicht und gehe die Treppe hinunter. Auf dem Küchentisch liegt Elsebeths Einkaufszettel, in der Dose neben der Kaffeemaschine ist Geld.

Der Supermarkt ist voller Menschen mit müden Gesichtern und Kindern, die an Mänteln ziehen und nicht im Einkaufswagen sitzen wollen.

Elsebeth würde mich nie bitten, für sie einzukaufen, aber sie ist alt und isst nicht viel. Ihr Wechselgeld kommt in eine separate Jackentasche.

Ich beginne immer mit ihren Waren. Knäckebrot und Kümmelkäse, Buttermilch und Zitronenmarmelade. Dann Schinken und Käse für mich – Essen, das zwischen zwei Scheiben Brot passt.

Egal wie lang die Schlange ist, ich stelle mich immer an Kasse 3 an. Von dort kann ich Petra sehen, die im Kiosk arbeitet. Sie hat die weißesten Hände, die ich je gesehen habe. Ihren Namen kenne ich nur, weil sie ein Namensschild trägt.

Wenn ich alles bezahlt habe, gehe ich zu ihr hinüber und kaufe Zigaretten. An anderen Tagen kaufe ich eine Zeitung oder Süßigkeiten für die Nacht im Verteilerzentrum.

Manchmal kaufe ich sogar einen Tippzettel, obwohl ich nicht weiß, wie man sie ausfüllt.

Sie fragt, ob ich noch einen Wunsch habe.

Ich schüttle den Kopf und ziehe das Geld aus der Tasche.

Als ich in die Wohnung komme, höre ich klassische Musik hinter Elsebeths Tür. Zuerst verstaue ich ihre Lebensmittel, dann nehme ich meine mit die Treppe hinauf und stelle sie aufs Fensterbrett, um sie kühl zu halten.

Ich ziehe das Radio unter dem Bett hervor und lege es auf den Bauch, ein kleiner Weltempfänger mit langer Antenne. Es war das Erste, was ich mir von meinem Lohn gekauft habe.

Ich setze den Kopfhörer auf und höre Nachrichten von deutschen, englischen und französischen Sendern. Kurze Bruchstücke. Gestern gab es in einer bretonischen Stadt eine Überschwemmung. Es gab keine Toten, aber die Rettungskräfte mussten einen Mann von seinem Autodach holen. Er saß dort neben einem kleinen, schwarz gefleckten Schwein, das laut seiner Aussage immer auf dem Rücksitz mitfuhr. Es sei schwer gewesen, das Schwein aufs Dach zu hieven, und seine Klauen hätten den Lack zerkratzt.

Es klingelt, und ich schalte das Radio aus. Elsebeth steht unten an der Treppe und wartet. Ihre Beine schaffen die Treppe nicht immer, und dann läutet sie mit ihrer Glocke. Heute gibt es Fleischbällchen mit Currysoße.

»Es ist kein Unterschied, ob ich für zwei Leute koche«, sagt sie, »und es ist viel lustiger. Dann können die ihre Plastikdosen mit fertigem Kartoffelbrei und halb gefrorenen Frikadellen behalten.«

Nach dem Essen trinken wir Kaffee, und Elsebeth erzählt von ihren zwei Männern, die sie überlebt hat. Der erste war Schlafwandler, fand aber immer seinen Spazierstock, so gut sie ihn auch versteckte. Am Ende lief er vor ein Auto. Der zweite hatte Angst vor Katzen, sie hätten einen bösen Blick und würden einem die Träume stehlen, meinte er. Ich kenne die Geschichten, habe schon öfter über sie gelacht.

Elsebeth holt eine Flasche Cognac. »Den soll man nicht zu lange aufheben«, sagt sie. Die Flasche ist älter als ich.

Elsebeth erzählt immer von der Zeit vor den zwei Weltkriegen. Als sie ein kleines Mädchen war und die Wohnung noch voller Leben. Wenn sie Verstecken spielten, konnte es Stunden dauern. Als unsere Gläser leer sind, frage ich, ob ich den Abwasch übernehmen solle.

Sie lächelt und antwortet, ich sei jung und hätte sicher Besseres zu tun.

Ich lege mich wieder ins Bett und setze den Kopfhörer auf. Mehr Nachrichten, mehr Bruchstücke.

In Stuttgart hat ein Mann ein Auto aus Kronkorken gebaut. Er hat allerdings noch keine Zulassung dafür bekommen.

Ich behalte die Uhr im Auge, und als sie Mitternacht zeigt, ziehe ich mich an und gehe die Treppe hinunter. Durch die Tür höre ich Elsebeth laut schnarchen. Ich glaube, sie könnte nicht so laut schreien, wenn ein Einbrecher käme.

Ich gehe über nasses Pflaster, vermeide die Pfützen. Die Kneipe suche ich je nach Wetter aus, ich habe vier oder fünf zur Auswahl. Wenn der Barkeeper mich zu freundlich anlächelt, weil er mich wiedererkennt, gehe ich für ein paar Wochen woandershin. Heute fällt Nieselregen, und ich entscheide mich für den »Pfau«.

Ich trinke ein Bier an der Bar. Der Barkeeper fragt, ob ich gehört habe, wie das Handballspiel ausgegangen sei. Er zeigt auf den dunklen Fernseher und sagt, er sei kaputt. Ich schüttle den Kopf.

Ich beobachte die anderen Gäste, sehe sie trinken und reden, sehe, wie sie ihr Glas halten und ihre Zigaretten rauchen. In Gedanken zeichne ich sie.

Ich bin nicht der Einzige, der ohne Begleitung in die Kneipe geht. Ich zeichne die Einsamen, die allein an der Theke sitzen, oder allein in einer Ecke mit einem Bier und der Zeitung und so tun, als würden sie ihre eigene Gesellschaft genießen. Irgendwann entscheiden sie, wer zu ihnen passen könnte, und rücken einander näher. Setzen sich einen Tisch weiter. Nehmen die Zeitung mit, lassen sie aber geschlossen liegen.

Ich zeichne sie in Gedanken, während sie langsam ihre Stühle umdrehen. Zentimeter für Zentimeter. Sie warten auf die richtigen Worte, um ein Gespräch zu beginnen.

Ich suche nie Gesellschaft, aber oft findet die Gesellschaft mich trotzdem.

Gerade trinke ich mein zweites Bier, als sie sich neben mich setzt.

Sie ist blond und sonnengebräunt. Sieht aus wie Ende zwanzig, ist aber wahrscheinlich älter.

Sie steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Holt ein Feuerzeug aus der Tasche und legt es vor sich auf die Theke. Dann sieht sie es an, als habe sie vergessen, was man damit tut.

Sie dreht sich zu mir um und fragt, ob ich ihr nicht helfen wolle. Sie würde sich immer den Daumennagel aufreißen, dabei habe sie gerade neue Nägel. Sie zeigt mir ihre Hände. Die Nägel sind lang, knallrot und natürlich nicht echt. Ihre eigenen habe sie abgeknabbert, sagt sie lächelnd.

Sie lädt mich auf ein Bier ein, zieht einen Geldschein aus einem Bündel.

Sagt, dass sie Model sei.

Sie bestellt uns Drinks mit kleinen Schirmen und erzählt, dass sie in Pornofilmen spiele.

Wenn sie abends heimkomme, habe sie so viele Schwänze gesehen, dass sie von Elefanten träume, die die ganze Nacht trompeten.

Wie keiner sonst / ebook
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