Ich sitze auf einer Bank gegenüber der Schule, trage mehrere Schichten Kleidung und zwei Paar Strümpfe in Winterstiefeln.
Ich sitze dort mit dem Zeichenblock, schraube den Deckel der Thermoskanne auf und benutze ihn als Becher. Es ist Dezember, der Kaffee dampft.
Zuerst zeichne ich das Schulgebäude. Lose Striche mit dem Kohlestift, dann die Details. Im Grunde sehe ich aus wie ein Student der Kunstakademie. Oder vielleicht der Architektur. Eine Prüfungsaufgabe. Architektur der frühen Siebziger. Würde mir jemand über die Schulter schauen, sähe er die Ungefährmaße, die ich dazugeschrieben habe.
Es klingelt, ich gehe zu dem Stacheldrahtzaun und schaue auf den Schulhof. Die Doppeltüren fliegen auf, und der Hof füllt sich mit Kindern.
Ein Aufseher kommt zu mir. Auch wenn ich keinen Wollmantel trage und keine Süßigkeiten in der Tasche habe, ist mir klar, dass ich zu lange dort gestanden habe.
Bevor er den Mund aufmacht, frage ich ihn, ob er weiß, wann die Schule erbaut wurde. Ich schlage eine neue Seite auf dem Notizblock auf, bereit, seine Antwort aufzuschreiben. Der Satz, auf den er sich vorbereitet hat, kommt nicht über seine Lippen. Er kratzt sich am Kopf und rät, wahrscheinlich in den frühen Siebzigerjahren.
Aber ich könne ja mit ihm ins Büro kommen, dort wüssten sie es sicher. Ich lächle, will keine Umstände bereiten, ich kann es ja auch nachschlagen.
Ich gehe weiter. Habe in den letzten zwei Tagen während mindestens fünf Pausen hier gesessen.
Die Privatschule ist die letzte auf meiner Liste, eine kleinere Schule mit wenigen Schülern. Sie kann nicht allzu alt sein, das Klettergerüst im Hof ist nicht verrostet, die Farbe blättert noch nicht davon ab.
Ich warte von der ersten Pause an, bis die Autos der Eltern vor dem Eingang vorfahren.
Nachts träume ich von einem Kohlestift, der so klein ist, dass ich ihn nur mit den Fingerspitzen halten kann.
Ich werde die ganze Welt zeichnen, sonst gerät sie aus den Fugen.
Am nächsten Morgen sitze ich wieder vor der Schule, in zwei Tagen beginnen die Weihnachtsferien.
Es klingelt zur großen Pause, die ersten zehn Minuten ist der Schulhof leer, weil die Kinder in den Klassenzimmern frühstücken. Dann kommen sie in kleinen Gruppen nach draußen. Ich stehe vor dem Zaun. Sehe ein kleines, blondes Mädchen mit seinen Freundinnen.
Ich erkenne sie an der Art, wie sie den Kopf hält. Ich gehe durch das Tor auf den Schulhof.
Sie sieht mich kurz an und geht weiter. Hat nur einen weiteren Erwachsenen gesehen, den sie nicht kennt. Aber nach ein paar Metern dreht sie sich noch einmal um. Unsere Blicke treffen sich, sie blinzelt. Dann wirft sie sich um meinen Hals.
Meine Schwester ist größer geworden, man kann schon ahnen, wie sie als Erwachsene aussehen wird. Ihr Gesicht ist leicht geschminkt.
»Wissen Papa und Mama, dass du hier bist?«, fragt sie, als sie mich endlich loslässt.
»Nein, und es ist wohl besser, wenn du es ihnen nicht erzählst.«
»Das wird schwer …« Sie beißt sich auf die Unterlippe, wie sie es immer getan hat, wenn sie etwas nicht wusste oder ihren Vater um ein Spielzeug anbettelte.
»Dann erzähle ich ihnen auch nichts von der Schminke«, sage ich, und sie lacht.
»Ich muss eine Zeit lang weg.«
»Du warst doch die ganze Zeit weg, Papa und Mama waren stinksauer …«
»Weit weg, meine ich. Ganz weg. Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme.«
Sie sieht mich mit ihren großen blauen Augen an, sie sind noch heller, als ich sie in Erinnerung habe.
Sie will etwas sagen, aber ich hebe sie hoch, drücke sie fest an mich und trockne meine Augen an ihrer Jacke.
»Sehe ich dich wieder?«, fragt sie.
»Natürlich. Aber ich weiß nicht, wann.«
»Muss ich erst erwachsen werden?«
»Ja, du musst erst erwachsen werden.«
Sie nickt. Ein Mädchen ruft sie. Sie küsst mich auf die Wange und läuft zu ihren Freundinnen.