Das Licht der Autoscheinwerfer zieht in wenigen Sekunden vorbei, gefolgt vom Geräusch der Reifen auf dem nassen Asphalt.
Ich gehe den Schotterweg hinauf, auf die Plexiglastür zu. Ich klingele, das Schloss summt, und ich trete ein.
Die Frau an der Rezeption hat schwere Augen nach einer langen Wacht oder nach einer Weihnachtsfeier am Abend zuvor.
»Ich habe eine Verabredung«, sage ich. Sie tippt den Namen meines Vaters in den Computer und schüttelt den Kopf.
»Sind Sie sicher, dass es heute ist?«
»Es ist nicht das erste Mal, dass sie vergessen, einen Termin einzutragen.«
Sie probiert es noch einmal.
»Wenn Ihre Verabredung nicht eingetragen ist, …«
»Können Sie nicht jemanden anrufen? Die Oberärztin vielleicht?«
»Das dürfen wir nur in Notfällen tun.«
»Heute ist Heiligabend. Ich möchte bloß gern meinen Vater sehen, ich habe es ihm versprochen.«
Sie sieht mich an, hofft, dass ich aufgebe und sie mit ihrem Krimi allein lasse, den sie so unter die Theke geschoben hat, dass ich nur die blutrote Ecke mit dem aufgedruckten Einschussloch sehe.
»Da kann ich leider nichts tun, glaube ich«, sagt sie.
Ich bleibe stehen.
Wenn ich nur schreien würde. Wenn ich Papiere und Kugelschreiber zu Boden fegen würde, dann könnte sie den roten Alarmknopf neben ihren Knien drücken, auf dem ihr Zeigefinger seit einer Weile ruht.
Aber ich bleibe ruhig, ich sehe ihr in die Augen, ohne zu starren.
»Ich möchte so gern meinen Vater sehen.«
Ich bewege mich nicht vom Fleck.
Sie will noch mehr sagen, aber dann zuckt sie resigniert mit den Schultern.
Ihr Finger verlässt den Alarmknopf, stattdessen drückt sie auf die Sprechanlage.
»Mikkel, kannst du mal runterkommen?«
Ich warte auf dem Sofa, blättere drei Zeitungen durch, bevor ein junger Mann mit Namensschild und Pferdeschwanz kommt.
Er führt mich durch die Abteilungen, die ich inzwischen kenne. Von Abteilung E hinunter zu Abteilung R. Durch Q und V. Die Gänge sind geschmückt. Schiefe Weihnachtsherzen und Papiergirlanden, ausgeschnitten mit stumpfen Scheren und zitternden Händen.
In einem Gemeinschaftsraum sitzt ein Mann mit Badekappe vor einem Klavier.
Der Pfleger legt die Hand auf seine Schulter.
»Was meinst du, können wir ein Weihnachtslied hören?«
Der Patient dreht den Kopf ein wenig, aber nicht genug, dass er uns sehen könnte. Ein langer Speicheltropfen hängt von seiner Unterlippe bis fast auf die Tasten herab.
»Oder wenigstens Für Elise, das kennen auch alle.«
Der Mann greift willkürlich in die Tasten. Das Klavier müsste gestimmt werden.
Der Pfleger klopft ihm auf die Schulter. »Ich komme gleich wieder, dann bringe ich dich auf dein Zimmer.«
Wir gehen weiter.
»In diesem Job muss man einfach Humor haben, sonst hält man es nicht aus.«
Das Licht ist gedämpft, wir treffen weder Patienten noch andere Pfleger in den Gängen.
»Sie wollen Ihren Vater besuchen?«
»Ja.«
»Er hat sicher ziemlich viel Medikamente bekommen.Nur damit Sie sich nicht fragen, was heute mit ihm los sei.«
Er zieht die Schlüsselkarte aus der Tasche und öffnet eine weitere Schleuse.
»Während der Feiertage ist es hier total unterbesetzt, deshalb stopfen sie die Patienten mit Medikamenten voll. Ich bin sonst nie auf dieser Abteilung, aber heute könnte ein kleiner Junge mit einem Stock auf sie aufpassen. Die Nachtwachen müssen zwar mehr vollgepisste Unterwäsche wechseln, aber das ist ja kein Problem, wenn sie so zahm sind.«
Er schließt die Tür auf, mein Vater sitzt auf dem Bett, an die Wand gelehnt.
Ich ziehe ihn an. Stecke seine nackten Füße in die Gummischuhe und binde sie zu. Dem Pfleger sage ich, dass wir draußen spazieren gehen wollen. Er schließt uns einen Seiteneingang auf, damit wir nicht bis zur Rezeption zurückmüssen.
Die Bewegungen meines Vaters sind schlaff, er schlurft über den Rasen, tritt in einen Maulwurfshügel und sinkt in die Knie. Ich helfe ihm auf, er nuschelt, spricht nur halbe Sätze, seine Lippen sind so weich, dass ich befürchte, er könne sie zerkauen.
Nach ein paar Minuten hat ihn die kalte Luft ein wenig aufgeweckt.
»Wohin gehen wir?«, fragt er.
»Wir gehen hinaus in den Wald, Vater.«
»Ja«, sagt er. »Hinaus in den Wald.«
Kurz bevor wir die Straße erreichen, frage ich ihn, ob uns jemand beobachtet.
»Nein«, antwortet er, ohne sich umzudrehen. »Heute nicht.«
Wir warten auf den Bus. Niemand kommt, um uns aufzuhalten.
Ich kaufe zwei Fahrkarten, habe es passend. Der Bus ist fast leer. Ich führe meinen Vater in die hinterste Reihe, lehne ihn an die kalte Scheibe.
Die Busfahrt dauert gut zwanzig Minuten.
Als ich die ersten Bäume sehe, weiß ich, dass wir an der nächsten Haltestelle aussteigen müssen.
Ich will gerade den Halteknopf drücken, da spüre ich die Hand meines Vaters auf meinem Arm.
»Darf ich?«, fragt er. Es gelingt beim dritten Versuch.
»Verdammt lang her«, sagt er.
Die Haltestelle liegt am Waldrand. Wir gehen kurz die Straße entlang, die Scheinwerfer eines Autos blenden uns, dann ist es schnell verschwunden.
Wir gehen über einen Parkplatz, vorbei an einem Autowrack ohne Kennzeichen. Alle Scheiben sind eingeschlagen.
Eine Tafel beschreibt die Wanderwege und Sehenswürdigkeiten und warnt vor Zecken. Hunde seien an der Leine zu führen. Nach zehn Minuten biegen wir nach links auf einen schmalen Pfad ab. Er ist fast überwuchert, man muss ihn kennen, um ihn zu finden. Ich schiebe die Zweige zur Seite.
Mein Vater verheddert sich im dichten Unterholz, ich bücke mich und befreie seine Füße.
Wir überqueren eine kleine Lichtung, auf dem Boden liegen nasse, verkohlte Zweige, umgeben von leeren Bierdosen, die Überreste eines Lagerfeuers.
Dann stehen wir am Seeufer. Das Wasser vor uns ist schwarz.
»Heute brauchen wir keinen Frosch, Vater. Wir kommen selbst ans andere Ufer.«
Ich nehme seine Hand. Er folgt mir.
Das kalte Wasser dringt durch unsere Schuhe.