Wir sind zwei Mal umgestiegen und haben die Stadt fast hinter uns gelassen, als wir vor einem Bürgerhaus aussteigen. An der Tür hängt ein Plakat. »Die blaue Katze« heißt die Band, darunter steht »Polnischer Jazz«. Das Foto der Musiker sieht aus, als wäre es aus den Achtzigerjahren.
»Mein Vater spielt Trompete«, sagt Petra.
Der Mann auf dem Bild hat einen schwarz gelockten Haarkranz um die Halbglatze und einen buschigen Schnauzer. Seine bestickte Weste erinnert an eine Volkstänzertracht.
Eine Pinnwand im Eingang informiert über die Öffnungszeiten der Keramikwerkstatt im Keller und Gymnastikkurse für Rentner. Im Saal stehen Klappstühle, wir setzen uns in die Mitte. Bald füllt sich der Raum mit älteren Menschen, von denen viele Polnisch reden.
Petra beugt sich zu mir.
»Mein Vater war ziemlich bekannt in Polen, aber er konnte den Mund nicht halten. Meine Mutter rief immer zamknij się, halt den Schnabel, aber er sagte zu allem seine Meinung.«
Viele der Alten begrüßen Petra mit einem Kuss auf die Wange. Als sich alle gesetzt haben, kommen die Musiker auf die Bühne.
Ich erkenne Petras Vater von dem Plakat. Von seinem Haarkranz sind nur noch zwei dunkle Strähnen übrig. Er trägt dieselbe Weste, aber er könnte sie nicht mehr zuknöpfen.
Petras Vater steckt das Mundstück auf die Trompete und nickt dem Mann an der Hammond-Orgel zu, der die ersten Töne anschlägt.
Die Band spielt polnische Volkslieder mit Jazzharmonien. Petra sagt mir, wie die Lieder heißen.
»Ułani, ułani«, flüstert sie. »Über die feschen Soldaten der Kavallerie mit ihren langen Lanzen. Die Kinder winken ihnen zum Abschied, und alle Mädchen sind in sie verliebt.«
Das letzte Lied vor der Pause ist langsam und schleppend, Petras Vater hält die Jazzphrasierungen auf dem Minimum.
»Czerwone maki na Monte Cassino«, sagt Petra. »Mein Vater hasst es.«
Den alten Männern und Frauen steigen Tränen in die Augen, viele zücken ihr Taschentuch.
»Es handelt auch von Soldaten. Toten Soldaten.«
In der Pause wird Kaffee in Plastikbechern und Flaschenbier verkauft.
Eine Frau hat Gebäck mitgebracht und stellt den vollen Korb auf den Tisch. Babkas, erklärt Petra, ich solle einen probieren.
Der zweite Teil ist purer Jazz, aber man erkennt noch die Harmonien der Volkslieder in Birdland oder Moose the Mooche.
Petras Vater will gerade die Trompete einpacken, als die Band gebeten wird, das Lied von den toten Soldaten des Monte Cassino noch einmal zu spielen. Sie spielen eine lange Version, in welcher der Refrain noch öfter wiederholt wird. Das Publikum steht auf und klatscht, wieder mit Tränen in den Augen. Sie schütteln Petras Vater die Hand. Die Musiker bekommen Geldscheine und Münzen. Petras Vater bedankt sich und lächelt, ein älterer Mann gibt ihm eine in Zeitungspapier eingewickelte Flasche.
Wir begleiten Petras Vater. Sie haben das Trinkgeld geteilt, und Petras Vater hat die Weste in den Rucksack gepackt. Er schwingt den Trompetenkoffer, lächelt viel und hat mich auf die Wange geküsst, als Petra mich vorstellte.
»Ich habe gestern Bigos gemacht«, sagt er.
»Für dich allein?«, fragt Petra und lächelt, als könne sie es kaum glauben.
»Das schmeckt immer viel besser am nächsten Tag. Außerdem habe ich gehofft, dass ihr zum Essen bleibt.«
»Ich glaube, Mehmet muss heute Nacht arbeiten.«
Petra sieht mich an.
»Ich habe freibekommen.«
Sie lächelt dankbar.
»Natürlich bleiben wir zum Essen, Tata.«
Die Wohnung ist klein, an den Wänden hängen vergilbte Jazzplakate. Petra zeigt mir ihr altes Zimmer. Es ist vollgestopft mit Plüschtieren und Porzellanpuppen. Auf dem Bett liegt eine gehäkelte Decke. Ihr Vater hat nichts angerührt, seit sie ausgezogen ist.
»Manchmal spiele ich da drinnen Trompete«, sagt er.
Der Tisch ist für drei gedeckt. Bigos stellt sich als ein Eintopf mit Kohl und Wurst heraus, dazu trinken wir Bier. Petras Vater legt eine Platte auf, eine Aufnahme aus den Siebzigern, bei der er selbst mitspielt. Moderner Jazz ohne jede Folklore.
Als Petra die Teller in die Küche gebracht hat, holt ihr Vater die Flasche, die er nach dem Konzert bekommen hat. Die Zeitung, in die sie eingepackt ist, ist polnisch. Er reißt das Papier auf und lächelt zufrieden. »Echter Wodka«, sagt er. »Den musst du probieren.«
Wir trinken ein paar Gläser, Petra trinkt Tee und sagt, dass der letzte Bus bald fahre.
»Bleibt doch hier«, schlägt ihr Vater vor. »Das Zimmer ist bereit, und es ist noch Bigos zum Frühstück da.«
Sein Lachen geht in ein langes Husten über. Petra sieht mich an, ich nicke.
»Wir bleiben«, sagt sie. Ihr Vater lächelt und geht auf die Toilette, um weiterzuhusten.
Petra sagt, sie sei müde und wolle schlafen gehen. Sie hoffe, dass ich bald komme. Sie habe noch nie Sex in ihrem alten Zimmer gehabt. Ihr Vater schlafe tief, und sie würde auch die Porzellanpuppen umdrehen, damit sie uns nicht zuschauen.
»Mein alter Tata«, sagt Petra, als ihr Vater zurückkommt. Sie küsst ihn. »Bleibt nicht zu lange auf.«
Sie schickt mir einen unmissverständlichen Blick und schließt die Tür hinter sich.
Petras Vater zündet sich eine Zigarette an und füllt mein Glas.
»Du machst meine Tochter glücklich«, sagt er, hustet in die Hand und zieht an der Zigarette.
»Du bist Türke?«
»Eigentlich kaum.«
»Ich war einmal Pole. Jetzt bin ich Däne und spreche schlecht Dänisch. Nein, sag nicht, dass mein Dänisch gut ist. Ich kann besser Deutsch.«
»Wir können auch Deutsch reden.«
»Dänisch ist jetzt meine Sprache. Ich kann es nicht gut, aber es ist meine Sprache.«
Wir trinken und rauchen. In der ersten halben Stunde suche ich krampfhaft nach einer Entschuldigung oder dem richtigen Zeitpunkt, um aufzustehen und mich zu Petra zu legen.
Aber ihr Vater redet weiter. Zuerst über Jazz. Dann über seine Flucht in den Westen. Sie sei notwendig gewesen, weil er zu viel über Polen geredet habe. Und über die Sowjets. Am Ende hätten sie ihn sattgehabt, er habe nur noch auf Hochzeiten spielen dürfen und in Ferienorten außerhalb der Saison. Er erzählt, wie die Familie alles verkauft und einen Busfahrer bestochen habe, der häufig über die Grenze fuhr. Wenn dieser spätnachts mit einem Bus voll schlafender Rentner aus irgendeinem Kurort kam, sei er oft nur durchgenickt worden.
Petras Vater sollte in einem Kurhotel spielen. Nach dem Konzert wollten sie in den Bus steigen, sich in die hinteren Reihen setzen und die Daumen drücken.
Der Vater spielte, Petra klatschte und sang die Refrains mit, die Mutter wollte die Familie anrufen, sich verabschieden und Brot und Käse für die Tour kaufen.
Petras Vater holt eine neue Flasche Wodka aus dem Gefrierfach. Er füllt die Gläser und erzählt, dass sie zweiundzwanzig Minuten auf Petras Mutter warteten, bis der Busfahrer sie aufforderte, entweder einzusteigen oder es sein zu lassen.
Sie seien ohne sie abgereist. Vielleicht würde sie im Taxi hinterherkommen und vor der Grenze einsteigen oder einen anderen Fluchtweg finden. Es sei der schwierigste Entschluss seines Lebens gewesen. Aber wenn sie die Mutter verhaftet hätten, wäre es keine gute Idee gewesen, in die Wohnung nach Krakau zurückzukehren und zu warten, bis sie auch ihn mitnehmen und seine Tochter zur Waise machen würden.
Petras Vater hat es aufgegeben, alle Wörter ins Dänische zu übersetzen, er redet weiter und streut polnische Wörter ein.
Sie hätten die Mutter nie wiedergesehen.
Viele Jahre später hätten sie herausgefunden, dass sie eine neue Familie mit einem Arzt gegründet hatte. Dass nicht die Mutter die Verlassene war, sondern dass sie die Familie verlassen hat.
Wir haben die zweite Flasche fast ausgetrunken, als ich mich zu Petra lege. Sie schläft fest, ich streiche eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.