Langsam lerne ich die Stadt kennen. Sie liegt da draußen. Vor dem Hof. Durch das Tor. Langsam, Straße für Straße. Nein, weniger. Von hier bis zur Ecke, 31 Schritte. Von der Ecke bis zum Kiosk, 52 Schritte.

Immer an der Hand meines Vaters. Manchmal gehen wir nur spazieren, manchmal kauft er Tabak und Zigarettenpapier. Beim Gemüsehändler kaufen wir einen großen Sack Kartoffeln und schleppen ihn zusammen heim.

Langsam wird die Wohnung »heim«. Wie in: »Sollen wir heimgehen?« Oder: »Wo hast du deinen Teddy gelassen? Der liegt daheim.«

Jeden Tag steht mein Vater zeitig auf, und wir frühstücken zusammen. Durch das Fenster sehe ich, wie er den Hof überquert, das Tor öffnet und verschwindet. Ich spüle unsere Teller, ziehe mich an und gehe die Treppe hinunter.

Ich bin ein Entdecker, aber seit neulich verstecke ich mich in den Büschen und horche angespannt nach Schlüsselrasseln. Ich finde immer noch neue Dinge im Hof. Eine Pflanze, die zwischen zwei Platten hochgewachsen ist, sie hat lila Blätter und kleine, weiße Flecken am Stiel.

Wenn die Sonne am höchsten steht, gehe ich wieder hinauf in die Wohnung. Dann gehört der Hof nicht mehr mir allein. Zuerst kommt der Junge mit den dunklen Haaren, danach die Frauen mit ihren Fahrrädern, Einkaufstüten und schreienden Babys.

Ich sitze in der Küche, zeichne und warte auf meinen Vater.

Wenn er endlich zur Tür hereinkommt, sagt er nichts. Er schleppt sich zum Tisch und lässt sich auf den Stuhl gegenüber fallen. Ich weiß genau, wo er gewesen ist. Den ganzen Tag ist er durch die Stadt gelaufen und hat gefragt: Könnt ihr mich gebrauchen? Und hat ein Nein zur Antwort bekommen, hundert Mal. Er raucht eine halbe Zigarette und streckt die Hand nach dem Stapel Zeichnungen aus.

Ich liege im Bett, mein Vater holt einen Stuhl aus der Küche. Aus den anderen Wohnungen höre ich einen Fernseher und eine Toilettenspülung. Ich rieche den Tabak in seinen Kleidern.

»Wo sind wir stehengeblieben?«, fragt er.

»Sie waren gerade den Weißen Männern entkommen.«

»Ach ja, richtig.«

Jeden Abend erzählt mein Vater ein Stück derselben Geschichte.

Das Märchen von dem König und dem Prinzen, die keine Heimat mehr haben.

Sie sind in die Welt hinausgezogen, um die Weiße Königin zu suchen und sie zu töten. Mit einem Pfeil oder einem Messer. Ein einziger Stich durch ihr Herz, und der Zauber ist gebrochen. Nur sie können es tun. Der König und der Prinz sind nämlich die letzten Menschen, die die Welt noch sehen können, wie sie wirklich ist. Die Einzigen, die nicht vom Zauber der Weißen Königin geblendet sind.

»Heißt sie wirklich Weiße Königin?«, frage ich meinen Vater.

»Nein, natürlich nicht. Sie hat einen Namen, alle haben einen Namen. Aber als sie klein war, sah sie ihrer Schwester so ähnlich, dass man dem einen Mädchen ein weißes und dem anderen ein schwarzes Kleid anzog, damit man sie unterscheiden konnte. Das blieb irgendwie an ihr hängen.«

Nach zwei Wochen hat mein Vater Arbeit gefunden.

Am Freitag hat er einen Vorschuss bekommen, und wir essen Wiener Schnitzel mit Kartoffeln und Buttersoße. Mein Vater trinkt Bier und lacht, und ich trinke so viel Limonade, dass ich dauernd pinkeln muss. Mein Vater begleitet mich, ich traue mich nicht allein die Treppe hinunter, wenn es dunkel ist.

Am Montagmorgen steht mein Vater früh auf und geht zur Arbeit. Erst am späten Nachmittag kommt er wieder, die Kleider verschwitzt, er riecht nach Holz. Seine Hände sind voller Splitter. Ich lasse die Fingernägel meiner rechten Hand wachsen, damit ich unter die kleinen Holzfasern komme, die in seiner Haut stecken.

Unser Leben wird nun im Zwei-Wochen-Rhythmus geführt.

Immer wenn mein Vater Lohn bekommt, feiern wir. Und jede zweite Woche gehen wir hinunter zum Hausmeister und bezahlen die Miete.

»Wer bar bezahlt, könnte jederzeit abhauen«, sagt der Hausmeister und grinst. Zusammen mit meinem Vater habe ich keine Angst vor ihm. Dann sieht er aus wie ein kleiner Wal in einem Overall.

»Aber ihr würdet so etwas nie tun«, sagt er und grinst wieder.

Wie keiner sonst / ebook
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