Der Frosch starrt sie an. Er ist riesengroß, seine Haut ist grün und voller Warzen.
»Wollt ihr rüber?«, fragt er und lacht höhnisch. Sein Lachen stinkt nach faulem Wasser, sein Maul ist so groß, dass er glatt eine Kuh verschlucken könnte. Der König und der Prinz schauen über den See. Das andere Ufer ist im dichten Nebel verschwunden.
»Ich fresse euch nicht auf«, sagt der Frosch. »Versprochen.«
Der König und der Prinz sehen einander an. Sollen sie es tun, sollen sie es riskieren und dem Frosch vertrauen?
Ich liege im Bett, halte die Luft an. Die Toilettenspülung unter uns wird zum Platschen eines riesigen Hechts im schlammigen Wasser. Der Fernseher des Nachbarn wird zum Vogelgesang in den Bäumen hinter uns.
»Könnten sie nicht einfach um den See herumlaufen?«, frage ich.
»Das würde Jahre dauern. Bis sie ankämen, wäre der Prinz so alt, wie der König es jetzt ist, und der König wäre ein blinder Greis. Dann könnten sie die Weiße Königin nie töten und den Fluch nie aufheben.«
»Haben sie denn gar keine Angst?«
»Doch, natürlich. Aber wenn man keine Wahl hat, fällt es viel leichter, mutig zu sein.«
Der König klettert mühsam auf den Frosch, seine Haut ist glatt und schleimig, es gibt nichts zum Festhalten. Als der König endlich auf dem Rücken sitzt, hilft er dem Prinzen hoch. Der Frosch spannt die Beinmuskeln an, sein ganzer Körper zittert. Dann springt er. Das Wasser reicht ihnen bis an die Ohren. Der Frosch macht kräftige Schwimmzüge mit seinen großen Hinterbeinen. Bald ist das Ufer nur noch ein dünner Strich hinter ihnen. Der Gesang der Vögel wird leiser und leiser, bis er ganz verschwindet. Stille umgibt sie, nur die Schwimmzüge des Frosches sind zu hören. Nebel legt sich über sie, alles wird weiß. Plötzlich tritt der Frosch im Wasser auf der Stelle.
»Ich habe Hunger«, sagt er. »Riesenhunger.«
»Du hast versprochen, uns nicht zu fressen«, sagt der Prinz.
»Lieber ein Lügner als ein Hungerleider«, sagt der Frosch und reißt das Maul auf.
»Du kannst unseren Proviant haben«, sagt der Prinz.
Der Frosch denkt kurz nach und nickt. Er macht Ringe im Wasser. »Ihr haltet euch ja noch eine Weile«, sagt er.
Der König und der Prinz öffnen ihre Taschen und werfen Eier, Wurst und rote Äpfel in den Rachen des Frosches. Er kaut, lässt die Hinterbeine sinken und schwimmt weiter. Mein Vater macht das Licht aus und deckt mich zu, stopft die Decke an den Seiten fest. »Schlaf gut«, sagt er.
Mein Vater und ich stehen im Hof vor der Werkstatt. »Passt auf«, sagt der Chef. »Wir haben eine große Bestellung aus Deutschland bekommen. Die sind ganz verrückt nach dem alten Schrott.«
Eine Stunde später kommt ein Lastwagen voller Möbel, die wir alt machen sollen. Die Werkstatt ist zu klein, wir stellen einige in den Hof und decken sie ab. Der Chef muss neue Planen kaufen gehen.
Als er zurückkommt, schneit es, und wir müssen die Möbel trocken wischen, bevor wir sie abdecken.
Am Nachmittag sind wir immer noch mit den ersten Stühlen und Tischen beschäftigt. Die Werkstatt riecht nach nassem Holz, Lack und Kaffeesatz. Der Chef schaut mir über die Schulter, während ich die Beine eines Sessels mit einer Feile bearbeite.
»Wirklich nicht übel«, sagt er. Er klopft meinem Vater auf die Schulter, sagt irgendetwas von Kinderarbeit und lacht.
Erst spät am Abend verlassen wir die Werkstatt. Ich auf der Ladefläche des Fahrrads, kein Stern leuchtet am Himmel. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man den ganzen Tag gelaufen ist, aber heute schmerzt mir zum ersten Mal der ganze Körper. Es tut gut, Arbeit zu haben.
Mein Vater holt einen Stuhl aus der Küche. Die Augen fallen ihm fast zu, aber er sagt, er wolle den König und den Prinzen nicht die ganze Nacht auf dem Frosch sitzen lassen. Sie haben schon trockene Lippen, und ihre Bäuche knurren laut. Noch immer können sie das andere Ufer nicht sehen. Da tritt der Frosch wieder im Wasser auf der Stelle.
»Wenn ich bloß nicht so hungrig wäre«, sagt er. »Ein König und ein Prinz wären jetzt lecker.«
»Willst du nicht lieber das Fleisch essen, das wir dabeihaben?«, fragt der König.
»Ich habe doch gestern schon euren Proviant aufgegessen.«
»Ja, aber nicht das Fleisch, das wir am anderen Ufer verkaufen wollten.«
»Her damit«, sagt der Frosch.
Der König zieht die Schuhe aus, ganz leise, dass der Frosch es nicht hört. Der Prinz macht es ihm nach. Sie binden die Schuhe mit den Schnürsenkeln zusammen und werfen sie in das offene Maul des Frosches. Der Frosch kaut auf dem Leder herum.
»Schmeckt merkwürdig«, sagt er. »Ganz schön zäh.«
»Richtig gutes Fleisch ist immer zäh«, sagt der Prinz.
»Damit man es extra lange kauen kann.«
Am nächsten Morgen holt ein Lastwagen die fertigen Möbel. Ihr Holz ist nun dunkler, die Bezüge sind mit einer Stahlbürste aufgeraut. Wir wollen sie schnell loswerden, um Platz in der Werkstatt zu schaffen.
Nach dem Essen sagt der Chef, er habe eine gute Idee, und verschwindet. Eine Stunde später kommt er mit dreißig nagelneuen Weckern zurück. Sie sind aus Metall, und man muss sie aufziehen, aber der Lack glänzt, und die Preisschilder kleben noch an ihnen. »Für die Deutschen«, sagt er und erklärt, dass er jeder Ladung Möbel ein paar Uhren beigeben will. »Das wird sie freuen.«
Wir nehmen die Uhren auseinander und legen die Zeiger und Zifferblätter in ein Säurebad.
Bald bin ich allein für die Uhren verantwortlich. Nach dem Säurebad hat der Lack auf den Zifferblättern Blasen geschlagen, als hätten sie viele Jahre lang in einer Rumpelkammer mit undichtem Dach gelegen. Auch die Gehäuse mache ich älter. Wenn ich nicht gerade Sessel lackiere oder Termitenlöcher bohre, nehme ich mir eine Uhr vor. Ich schmiere schwarze Schuhwichse in die Ritzen, bearbeite den Lack mit Sandpapier und stelle sie hinaus in den Regen.
Der Frosch schwimmt weiter auf den See hinaus. Der Nebel wird so dicht, dass der König und der Prinz einander nicht mehr sehen. Auch den Frosch unter ihnen sehen sie nicht mehr, sie spüren nur seine schleimige Haut und hören seinen Magen knurren. Wieder tritt er im Wasser auf der Stelle, aber er sagt nichts.
Mein Vater ist auf dem Stuhl eingeschlafen. Ich schüttle ihn, bis er aufsteht und zur Pritsche schwankt. Ich frage, ob der König und der Prinz es wohl schaffen werden. »Wer weiß«, murmelt er und schläft wieder ein.
Der Chef hält eine Uhr in der Hand, die ich gerade zusammengeschraubt habe, es ist eine meiner ersten. Er sieht aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.
»Du hast eine Belohnung verdient«, sagt er beim Mittagessen. Ich kann nicht glauben, dass er mich meint, und esse einfach weiter, knabbere um die Rote Bete auf der Leberpastete herum.
»He, Junge«, ruft er. »Ja, dich meine ich. Was willst du haben?«
Ich weiß nicht, was ich antworten soll.
»Das mit der Kinderarbeit war nur ein Scherz. In Wirklichkeit habe ich ein schlechtes Gewissen. Also, was willst du haben?«
Ich sehe meinen Vater an, er nickt, ich soll es ruhig sagen. Ich zögere, will nicht, dass der Chef mich auslacht oder heimschickt. Ich will hierbleiben, neben meinem Vater, will schwitzen und Splitter in die Finger bekommen. Beide sehen mich erwartungsvoll an.
»Ein Fahrrad«, sage ich. »Ein blaues Fahrrad.«
Sofort bereue ich es, ich hätte mir etwas Kleineres wünschen sollen, ein Spielzeugauto oder einen neuen Fußball. Aber der Chef lächelt. »Klar kriegst du ein blaues, du willst doch kein Mädchenrad.«
Wir fahren durch die Stadt. Durch den Matsch, der mir ins Gesicht spritzt und das Lastenfahrrad zum Schlingern bringt. Ich liege auf der Ladefläche und betrachte den dunklen Himmel. Ich schlafe fast ein. Morgen wollen wir noch mehr Möbel alt machen. Dann darf ich mit Salpetersäure arbeiten. Das hat mein Vater mir versprochen. Wenn ich vorsichtig bin. Morgen werden wir wieder belegte Brote aus dem Laden essen. Vielleicht Eibrot mit Hering. Vielleicht Rote-Bete-Salat, von dem man lila Lippen bekommt.
Hoffentlich sagt der Chef morgen wieder, dass ich gut sei.
Ich liege im Bett, der Frosch schwimmt weiter mit dem König und dem Prinzen. Bis er wieder im Wasser auf der Stelle tritt. Aber bevor er den Mund aufmacht, fragt der König seinen Sohn:
»Wir sollten mal wieder einen Frosch töten. Es ist schon so lange her.«
Der Prinz antwortet: »Ja, mindestens vierzehn Tage.«
»Esst ihr Frösche?«, fragt der Frosch. Er versucht, den großen Kopf zu drehen, will nachsehen, ob der König auch kein Messer oder Schwert hat. Vielleicht hat er es ja übersehen, als die beiden auf seinen Rücken geklettert sind.
»Esst ihr wirklich Frösche?«
»Nein«, antwortet der König. »Essen tun wir sie nicht.«
»Wir töten sie nur«, sagt der Prinz. »Manche lassen gern Drachen steigen, andere fahren gern Fahrrad. Wir töten Frösche. Das ist unser Beruf.«
»Aber nicht mich«, sagt der Frosch, jetzt ruhiger.
»Warum nicht?«, fragt der Prinz.
»Dann würdet ihr ja ertrinken.«
»Ich glaube auch nicht, dass wir selbst an Land schwimmen können«, sagt der König. »Das ist zu weit. Das Wasser ist zu kalt und der Nebel zu dicht. Aber wir töten Frösche, das ist unser Job.«
Der Frosch zittert.
»Vielleicht können wir ja eine Ausnahme machen«, sagt der König.
Der Frosch schwimmt weiter. Schneller als vorher. Den ganzen Weg bis zum Ufer stößt er leise, unzufriedene Seufzer aus.
Der König und der Prinz springen von seinem Rücken. Sie sind nass und hungrig und frieren, trotzdem können sie sich das Lachen nicht verkneifen. Das Gezwitscher der Vögel klingt, als würden Hunderte kleiner Schnäbel »Willkommen, willkommen« rufen. Ihr habt gewonnen. Ihr seid angekommen. Ihr seid am Leben.
Das Gras unter ihren nackten Füßen ist so grün, dass es in den Augen sticht. Sie laufen vor dem Frosch davon, der immer noch im See schwimmt. Nur die Augen ragen aus dem Wasser.