Die Decke ist ans Fußende gestrampelt, wir sind beide nackt. Ich hebe den Vorhang an, das Fenster ist angelaufen. Camillas Zimmer ist dunkelrot, draußen geht die Sonne auf. Auf der Kommode steht eine Uhr in Form eines Totenschädels. Es ist früh am Morgen, aber ich bin spät dran.
Ich gehe ins Bad, spritze mir Wasser ins Gesicht und putze die Zähne mit dem Zeigefinger.
Ich kann nicht mehr als ein paar Stunden geschlafen haben, vielleicht nur eine.
Unterhose und Strümpfe liegen in Camillas Zimmer auf dem Boden, zwischen ihren Klamotten. Camilla stützt sich auf den Ellbogen und schaut zu, wie ich mich anziehe.
»Ich muss für ein paar Tage weg«, sage ich und nehme den Joint, der auf der Fensterbank liegt. Gestern kamen wir nicht mehr dazu, ihn zu rauchen. Ich halte ihn hoch, sie nickt, ich darf ihn mitnehmen.
Ich küsse sie. Auf der Treppe finde ich mein T-Shirt, im Wohnzimmer liegen die Hose und der Kapuzensweater. Mein Rucksack steht auf dem Flur, wo ich ihn gestern abgestellt habe.
Die kalte Morgenluft lässt mich zittern. Der Gehweg ist nass und glatt. Ich gehe so schnell ich kann und erreiche Karins und Michaels Haus.
Dort ziehe ich Papier und Kugelschreiber aus dem Rucksack und benutze einen weißen Citroën als Schreibunterlage. Der Kühler ist nass vom Morgentau, sodass der Kuli das Papier zerreißt und den Lack zerkratzt. Ich fasse mich kurz, schreibe, dass ich in ein paar Tagen zurück sei und sie sich keine Sorgen machen sollen.
Mehr brauche ich nicht zu erklären. Karin weiß, wohin ich fahre. Sie hat mit meiner Großmutter geredet und mir nichts davon gesagt.
Ich stecke den Zettel in den Briefkasten und denke an meine Schwester, die dort oben schläft. Sie ist noch so klein, im Schlaf sabbert sie. Nicht viel, aber am Morgen sieht man eine kleine Schneckenspur auf ihrem Kissen.
Ich laufe durch das Viertel, passiere Christians Haus und später die Zoohandlung in der Hauptstraße.
Bald sitze ich in einer leeren S-Bahn und schnappe nach Luft.
Die Bahn verlässt die Station, ich lehne den Kopf an die kalte Scheibe, mein Atem kondensiert. Durch den Dunst zieht das Eigenheimviertel vorbei.
Im Hauptbahnhof steige ich aus, der Boden ist voller Kippen und festgetrampelter Kaugummis. Ich habe zwölf Minuten, um eine Fahrkarte zu kaufen und den richtigen Bahnsteig zu finden.
Junge Männer mit Sporttaschen und Bier strömen in den Zug. Nach ein paar Stationen steigt eine Familie mit Kindern ein, ob Oma Süßigkeiten für sie habe, fragt der kleine Junge, und seine Mutter nickt. Ich zeige dem Schaffner meine Fahrkarte und lasse mich wieder in den Sitz fallen.
Der Zug rollt auf die Fähre. Während der Überfahrt stehe ich auf Deck. Es ist kalt, meine Augen tränen. Salzige Gischt spritzt mir ins Gesicht, und ich lache, aber der Schiffsmotor übertönt alles. Als ich den Zug wieder besteige, kann ich weder Finger noch Zehen spüren.
Die Passagiere kommen und gehen, während ich durchs ganze Land fahre.
Noch etliche Kilometer liegen vor mir. Aber das macht nichts, ich halte die Augen halb geschlossen und bin immer noch in Camillas Zimmer. Sie hat ein Muttermal auf der Schulter, und ihr Haar riecht nach Rauch und Äpfeln. Ich spüre ihre Finger auf meinen Armen, ihre kalten Füße an meinem Rücken. Ich sehe die Kerzen auf der Fensterbank, das Wachs tropft auf den Teppichboden.
Mitten in der Nacht gehen wir in die Küche und machen uns mehr Toasts. Das Haus ist kalt, wir sind nackt, und der Schweiß trocknet auf unseren Rücken. Sie sitzt auf dem Marmortisch und sagt, sie habe Angst festzufrieren. Ich küsse sie auf den Mund.
Der Servierwagen des Zugkellners rammt mein Knie. Er entschuldigt sich, und ich kaufe ein Sandwich mit einer halben Frikadelle und Rotkohl, obwohl ich keinen Hunger habe.
Vor dem Fenster gleiten Städte vorbei. Manche klein, andere größer.
Als wir die Endstation erreichen, habe ich den ganzen Tag im Zug verbracht. Nur eine Handvoll Menschen steigt aus. Ich gehe durch einen leeren Bahnhof, in dem alles geschlossen ist, und durch eine Unterführung zur Bushaltestelle. Dort stelle ich mich unter einen Windschutz und schlage die Jacke fest um mich. Eine halbe Stunde später kommt der Bus.
Das Licht im Bus ist so schwach, dass ich kaum meine Hände sehe. Die wenigen Passagiere sitzen weit voneinander entfernt. Beim Einsteigen nicken sie dem Busfahrer und dem ein oder anderen Mitreisenden zu, aber niemand redet. Wir fahren an Feldern vorbei und durch Dörfer, die ich kenne. Oder die so aussehen. Als ich klein war, habe ich hier gewohnt.
Auf der linken Seite taucht ab und zu das Wasser auf, wie ein schwarzer Strich. Dann wieder große, eckige Gebäude, Schweineställe und Getreidesilos. Der Fahrer macht eine Zigarettenpause im Freien. Er schaut auf die Uhr, und wir fahren weiter.
An der Endstation frage ich den Fahrer, wo der Hafen liegt. Er zeigt nach vorn und sagt, es sei nicht weit.