Ich halte einen Kohlestift in der Hand. Weder zu weich noch zu hart. Das rote Licht des Notausgangs beleuchtet meinen Block. Wenn nötig, kann ich den Stift in der Mitte des ersten Akts spitzen, wenn Olga eine schlechte Nachricht erfährt und den Samowar fallen lässt.
Ich zeichne die zwei Masken, die über der Bühne hängen, dann die Tische und Stühle, die Wasserkaraffe und die Vitrine. Meine Hände schwitzen, als würde mir jemand über die Schulter schauen. Ich weiß, dass ich Drachen, Trolle und ausgedachte Fantasietiere zeichnen kann, auch Gebäude oder Bäume mit vielen Blättern kann ich gut. Sogar Cowboys habe ich schon gezeichnet, aber da waren die Pistolen wichtiger. Richtige Menschen dagegen sind schwierig. Und die Schauspieler auf der Bühne bewegen sich. Sie laufen herum und reden, fuchteln mit den Armen, kommen und gehen. Ich schließe die Augen. Wie eine Kamera, die ein Foto macht. Dann zeichne ich sie, wie sie in diesem Augenblick standen. Mit erhobenen Händen und geöffneten Mündern. Ich zeichne, so gut ich mich erinnern kann, und lege den Stift weg.
Am nächsten Tag stehen die Schauspieler für einen Moment in derselben Position, und ich mache weiter. Hochgezogene Augenbrauen, erhobene Hände.
Sechs Tage am Stück zeichne ich. Sonntags haben wir frei, dann essen wir bei Sara. Ich sehe meine Zeichnung nicht an, das wäre Betrug. Außerdem habe ich Angst, dass sie mir nicht gefallen könnte. Und am Montag sitze ich wieder mit meinem Block im Schein der roten Lampe. Noch ein paar letzte Striche, und die Zeichnung ist fertig. Erst in der Pause sehe ich sie mir an. Die Bühne ist etwas zu groß geraten. Auch die Falten des Vorhangs könnten genauer sein, aber sie sehen ja jeden Abend anders aus. Dann betrachte ich die Schauspieler. Sie sehen wie Menschen aus, aber es sind keine. Sie stehen viel zu still. Wie ausgestopfte Tiere. Ihre Augen sehen aus wie Glasperlen. Ich zerknülle die Zeichnung und werfe sie in den Papierkorb, zu leeren Zigarettenschachteln und Plastiktassen.
Meinem Vater sage ich, es gehe mir nicht gut. Er hat die Jacke an, wir müssen ins Theater. »Mach dir keine Sorgen«, sage ich. »Ich bin nur müde und will im Bett bleiben.« Nachdem er gegangen ist, bleibe ich liegen und starre die Decke an. Ich hasse Papier. Es liegt unter mir, so tief ich es nur unters Bett schieben konnte.
Meine Hände bewegen sich unter der Decke, ich zeichne Striche an die Decke. Ich versuche, mich zu beherrschen.
Am nächsten Tag sitze ich wieder im Theater mit dem Block auf dem Schoß. Es ist das letzte Mal, dass ich zeichne, das habe ich beschlossen. Heute ist es mir egal, ob es echt aussieht, niemand wird es je zu Gesicht bekommen. Ich drücke so fest, dass der Stift das Papier durchsticht. Die Mine bricht, und ich nehme den Spitzer. Ein älterer Herr dreht sich zu mir um, aber das kümmert mich nicht. Ich zeichne keine Schauspieler, heute zeichne ich nur ihre Bewegungen. Der Kopf kommt erst zum Schluss drauf, Augenbrauen, Mund und Augen sind mir ebenfalls egal. Der Tisch, die Stühle und die Teekanne, auch sie sind Bewegung, denn ich weiß, dass sie umfallen werden. Ich zeichne, ohne auf das Papier zu sehen, bis der erste Akt vorbei ist und mein Handgelenk wehtut. Während des zweiten Akts sitze ich nur da und höre den Schauspielern zu. Ich kann nicht mehr, ab jetzt ist für immer Schluss. Die Staffelei können wir als Wäscheständer benutzen.
Ich sitze an der Bar und schlürfe Saft mit einem Strohhalm. Mein Vater fragt, ob er meine Zeichnung sehen dürfe. Ich gebe ihm den Block. Soll er es doch sehen, dann werden sie mich nie wieder fragen. Er legt den Block auf die Theke, tastet nach seinem Bierglas und leert es. Er schnipst Asche von der Zigarette, verfehlt aber den Aschenbecher. Dann winkt er dem Wirt und zeigt ihm den Block. Vielleicht soll ich wieder etwas lernen. Wie wenn man einen Welpen stubenrein macht, indem man dessen Schnauze in die eigene Pisse drückt. Der Wirt betrachtet die Zeichnung. Er ist auf beiden Unterarmen tätowiert, ein Schiff mit hohen Masten und eine nackte Frau. Der Tätowierer konnte zeichnen, im Gegensatz zu mir. Ich beiße mir auf die Unterlippe und versuche, nicht zu weinen.
Der Wirt sieht mich an.
»Darf ich das kaufen?«, fragt er. Ich nicke, klar darf er es kaufen. Er kann es auch geschenkt haben. Er darf es in Stücke reißen und wegwerfen.
»Du musst noch deinen Namen drunterschreiben.« Ich schreibe »Peter« in die untere, rechte Ecke. Der Wirt öffnet die Kasse, nimmt einen Schein heraus und legt ihn vor mir auf die Theke. Dann reißt er die Zeichnung vorsichtig ab und steckt sie an den Spiegel hinter der Bar.
An diesem Abend zeigt mein Vater allen die Zeichnung. »Das hat mein Sohn gemacht«, sagt er. Die Leute bleiben stehen, gucken und lächeln. Aber keiner lacht mich aus.
Als wir heimgehen, habe ich den Schein in der Hosentasche, ich betaste das dünne, steife Papier, so fühlen sich nur Geldscheine an. Diesen werde ich niemals ausgeben.