Mein Vater zeigt mir einen Milchkarton, wir stehen vor dem Kühlregal im Supermarkt. »Möchtest du Milch?«, fragt er auf Deutsch, und ich weiß, dass ich richtig antworten muss, wenn ich in den nächsten Tagen Milch trinken will.

»Möchtest du Milch?«

Finde das Wort, finde die Antwort.

Er hält eine Hand hinters Ohr. »Entschuldigung. Ich habe dich nicht gehört.«

Beim Bezahlen sagt er »Danke schön« zur Kassiererin.

Am Abend küsst er mich auf die Stirn und deckt mich gut zu.

»Schlaf gut, mein Schatz.«

Mein Vater wartet am Frühstückstisch. Er hat frische Croissants geholt.

»Bonjour, mon fils«, sagt er, gießt einen Schluck Kaffee in meine Tasse und füllt sie mit Milch auf.

Mein Vater sagt, dass man am besten lerne, wenn man dabei stehe. Und noch besser, wenn man laufe. Und am allerbesten, wenn jemand hinter einem her sei. Dann lacht er.

Wir gehen ins Museum.

»Man kann sich ganz einfach reinschleichen«, sagt mein Vater. »Es gibt viele Möglichkeiten. Zum Beispiel kann man mit einer Gruppe reingehen oder draußen weggeworfene Eintrittskarten auflesen. Aber besser, man lässt es sein.«

Mein Vater geht zu dem Aufseher am Eingang. Wenn es eine Frau ist, redet er länger mit ihr und hält ihre Hand. Wenn es ein Mann ist, drückt er ihm kurz und energisch die Hand. Mit Männern redet er lauter, und meistens lachen sie auch laut. Manchmal klopft er ihnen auf die Schulter. Dann kommen wir rein. Immer ohne zu bezahlen.

Wir gehen durch einen weißen Gang in den ersten Saal mit Gemälden.

»Ich weiß, es sieht aus, als täten sie uns einen Gefallen«, sagt mein Vater, »die netten Menschen, die uns reinlassen. Egal, wo wir hingehen, überall tun die Leute uns Gefallen.« Ich nicke, will zeigen, dass ich zuhöre. Wir stehen vor dem Bild eines Fischers neben einem an Land gezogenen Boot, der Himmel hinter ihm ist grau.

»Aber wir tun ihnen auch einen Gefallen. Zum Beispiel diesem Mann …« Mein Vater nickt in Richtung des Aufsehers, der uns hereingelassen hat, ein älterer Herr mit grauem Haar und Vollbart, die Uniform leicht zerknittert. »Er steht den ganzen Tag dort, kontrolliert Eintrittskarten, sagt den Touristen, dass sie kein Eis mit reinnehmen dürfen und dass sie nicht fotografieren dürfen.« Mein Vater sieht mich an, und ich weiß, dass nun etwas Wichtiges folgt, das ich mir behalten soll.

»Dieser Mann hat nur ganz selten die Gelegenheit, jemandem Gutes zu tun, ohne dass er Geld dafür bekommt. Er tut selten etwas, bloß weil er es kann, oder weil er Lust dazu hat.«

Ich versuche, im Stillen zu wiederholen, was mein Vater gesagt hat.

Er zeigt auf das Bild mit dem Fischer. »Das ist gut, nicht wahr?« Ich nicke.

Wir gehen weiter. Auf dem nächsten Bild kann man das kleine Boot zwischen den großen Wellen kaum noch erahnen. Mein Vater sagt: »Wenn der Mann daheim beim Abendessen sitzt, denkt er, dass er heute einem Vater und einem Sohn ermöglicht hat, diese Bilder zu betrachten. Sein Essen wird ihm gleich besser schmecken.«

Ich soll mir jedes Bild genau ansehen. Mein Vater sagt: »Was stellt es dar?« Zuerst antworte ich einfach. Ich sage, dass es ein Mann auf einem Badesteg sei. Ein Mann auf einem Pferd.

»Nein«, sagt mein Vater. »Sieh genau hin.« Ich will den Mund aufmachen. »Nein«, sagt er. »Sieh genau hin.« Wir bleiben lange stehen. Als ich den Mund aufmache, aber kein Wort mehr herauskommt, nimmt mein Vater mich fest in den Arm. »Richtig«, sagt er.

Wie keiner sonst / ebook
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