Wir haben anderthalb Stunden Schicht hinter uns, als der Abteilungsleiter zu mir kommt.

Ich verteile zuerst die Briefe, die ich in den Händen halte, dann nehme ich den Kopfhörer ab.

»Der Chef will mit dir reden.«

»Jetzt?«

»Er wartet da oben. Scheint wichtig zu sein.«

Kasper grinst.

»Was hat der Türke denn jetzt schon wieder verbrochen?«

Der Abteilungsleiter lächelt gequält, er weiß nicht, ob er lachen darf.

»Immer diese Türken …« Kasper schüttelt den Kopf.

Ich gehe an Regalen vorbei, an denen dieselbe Handbewegung wieder und wieder ausgeführt wird. Ich gehe so langsam wie möglich. Der Chef arbeitet nur selten nachts, vielleicht steht etwas Wichtiges an. Vielleicht will er über Kaspers LSD-Schmuggel reden, aber dann hätten sie mich kaum in seiner Gegenwart vom Arbeitsplatz geholt.

Ich weiß, was er sagen wird, aber wie haben sie es bloß herausgefunden?

Zuerst hatte ich versucht, ohne Papiere zu arbeiten, aber mein Vater hatte mich nicht auf eine neue Zeit mit Strichcodes und Computern vorbereitet. Eine ganz neue Welt, in der Schwarzarbeit nur für Schwarze möglich ist, wie es ein Maurermeister ausdrückte. Es sei denn, du hast eine ordentliche Ausbildung, fügte er grinsend hinzu.

Ich ging regelmäßig in die kleinen Geschäfte in Nørrebro. Mein Zimmer füllte sich mit Kugelschreibern, Tüten mit Nüssen und verfaulenden Granatäpfeln. Ich hatte stapelweise Videos, die ich nicht abspielen konnte, und eine Pyramide aus Zigarettenpäckchen. Ich wollte fester Kunde sein, sie sollten mir vertrauen, bevor ich nach Papieren fragen würde. Die meisten versprachen, dass sie welche besorgen könnten, aber es endete immer damit, dass sie mir gestohlene Toaster und Videorekorder anboten.

Eines Nachts stand ich in einer Pizzeria. Ich war noch nie dort gewesen und wollte eigentlich nur essen. Da ich sowieso keine Hoffnung mehr hatte, fragte ich einfach direkt nach Papieren. Zuerst dachte ich, der Mann hinter der Theke hätte mich nicht verstanden. Er rauchte und musterte mich, während die Pizza im Ofen war und ich in einer alten Zeitung blätterte.

Ich war schon auf dem Weg nach draußen, als er sagte, ich solle die Quittung nicht vergessen.

Auf dem Zettel stand die Adresse eines Gemüsehändlers in Østerbro. Er sagte, ich solle von Öztürk grüßen.

Die Papiere waren teuer, aber echt. Ich war jetzt einundzwanzig und hieß Mehmet Faruk. Ich bekam eine Geburtsurkunde und eine Versicherungskarte zusammen mit dem Ehrenwort, dass Mehmet Faruk nicht mehr Mehmet Faruk sei. Er habe die falsche Frau geschwängert und sei außer Landes geflüchtet. Vielleicht liegt er auch in einem Moor.

Mit den Papieren bekam ich einen neuen Pass und ein Bankkonto. Ich ging aufs Arbeitsamt und begann als Postbote. Später kam ich ins Verteilerzentrum.

Nach der ersten Schicht trank ich mit den anderen Postarbeitern im Bären Bier. Sie sagten, ich sähe nicht besonders türkisch aus. Ich erklärte, dass ich nur halber Türke sei, meine Mutter sei Dänin. Das Gen für rote Haare sei einfach nicht totzukriegen. Nach ein paar Bier sagten sie, ja, vielleicht, wenn man genau hinschaue, sehe man es.

Ich lege die Hand auf die Türklinke, atme tief ein und betrete das Büro des Chefs.

Er ist allein. Es riecht nach Zigaretten. An der Wand hängt ein Kalender mit Kränen.

»Mein Sohn ist Kranführer«, sagt er und bedeutet mir, dass ich mich setzen soll.

Der Chef war früher Maurermeister. Er hatte einen eigenen Betrieb, bis der Rücken nicht mehr mitmachte. Dann wurde er umgeschult.

»Vielleicht irre ich mich.« Der Chef zeigt auf den Stapel Papiere, der vor ihm liegt. »Aber ich habe alles mehrmals nachgeprüft, und …« Er sieht mich an, hofft, dass ich selbst etwas sage. Dass ich zusammenbreche und gestehe. Ich beiße die Zähne zusammen.

»Ist es wirklich wahr, dass du keinen Urlaub genommen hast, seit wir dich eingestellt haben? Nicht einen einzigen Tag?«

Ich schlucke und nicke.

»Es könnte mir ja egal sein, aber wir haben die Gewerkschaft im Nacken. Die glauben nämlich, wir wollen euch zu Tode schinden.« Er grinst. Dann hebt er die großen, buschigen Augenbrauen.

»Du musst jetzt wirklich deinen Urlaub nehmen.« Er schiebt einen Urlaubsantrag über den Tisch, die erste Zeile ist bereits ausgefüllt. Mehmet Faruk, steht dort.

Ich will aufstehen.

»Noch etwas, wenn du schon mal hier sitzt. Du arbeitest zusammen mit Kasper Rasmussen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Der Betriebsrat würde ausflippen, wenn er wüsste, dass ich dich frage. Aber trotzdem … Macht er seine Arbeit gut?«

»Ja.«

»Ich meine …«

Er sucht nach Worten, muss sich vorsichtiger ausdrücken als früher auf der Baustelle.

»Ist dir nie aufgefallen, ob er irgendwelche Sachen macht, die man vielleicht als … unnormal bezeichnen könnte? Irgendwas Merkwürdiges?«

»Nein … Oder doch …«

»Ja?«

»Ach, das ist wahrscheinlich nichts.«

»Es bleibt natürlich unter uns.«

»Wenn wir Pause haben …«

»Ja?«

Der Chef sieht mich an. Seine Augenbrauen hängen in der Luft, groß wie Möwenflügel.

»Er setzt nicht immer neuen Kaffee auf, wenn er die letzte Tasse trinkt.«

»Äh … gut.«

»Das steht ja auf dem Schild …«

»Ja, danke … gut zu wissen.«

Ich gehe zurück an meinen Platz.

Kasper grinst mich an.

»Wollen sie dich etwa heim in die Türkei schicken?«

In der Pause fülle ich den Urlaubsantrag aus und gebe ihn dem Abteilungsleiter.

Wie keiner sonst / ebook
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