Die alte Dame stützt sich auf meinen Arm, wir gehen die Treppe hinunter. Das Auto parkt vor dem Haus, mein Vater steht daneben und wartet auf uns. Er trägt den braunen Anzug, den die alte Dame ihm geliehen hat. Als er ihn anzog, roch es nach Mottenkugeln. Darunter trägt er Weste und Schlips. Er hat sich gründlich rasiert, sein Haar mit Handseife geglättet und nach hinten gekämmt. Nun sieht er aus, als wäre er aus einem alten Foto herausgesprungen. Mein Vater öffnet die Autotür und hilft der alten Dame hinein. Dann geht er auf die andere Seite und hält auch mir die Tür auf.

Ich sitze auf der Rückbank neben der alten Dame. Sie trägt einen Hut mit Schleier, der ihr Gesicht verdeckt. So könnte sie glatt aus demselben Foto stammen wie mein Vater. Ich habe eine lange Hose und ein frisch gebügeltes T-Shirt an. Die abgewetzten Stellen an meinen Schuhen haben wir mit schwarzem Filzstift übermalt.

Wir fahren den Weg zum verrosteten Tor hinab. Bei Tageslicht sieht das Innere des Autos wie ein kleines Wohnzimmer in Holz und Leder aus.

Wir erreichen den Schotterweg, die alte Dame legt ihren Hut zwischen uns auf den Sitz.

»Meine Mutter hat immer gesagt, dass eine feine Dame ihren Hut nie abziehe, nicht einmal in der Kirche oder auf dem Klo. Sie wurde mit Hut begraben.«

Sie glättet ihren Schleier. »Ich finde, Hüte jucken fürchterlich.«

Der Schotterweg wird zu Asphalt, wir nähern uns der Stadt. Mein Vater lässt das Auto durch den Verkehr gleiten, wir halten nur an roten Ampeln an. Die Leute drehen sich nach dem schwarzen Auto um, manche winken.

»Ich hoffe, du findest den Weg«, sagt die alte Dame. »Meine Beschreibung war nicht sehr genau, es ist so lange her.« Mein Vater lächelt sie im Rückspiegel an.

»Wenn es noch dort ist, werde ich es finden.«

Ich glaube an ihn. Einmal hat mein Vater mir von der Weißfußmaus erzählt, die in Wyoming vorkommt. Sie ist nicht größer als ein Fingernagel, kann sich aber viele Tagesreisen von ihrem Mauseloch entfernen. Ihr Bewegungsradius entspricht einhundertsechzig Menschenkilometern. Trotzdem findet sie immer nach Hause. Sie braucht keine Schilder und muss nicht nach dem Weg fragen. Sie findet einfach heim. Bei meinem Vater und mir ist das genau umgekehrt.

Die Lautsprecher krächzen, mein Vater dreht an den blanken Metallknöpfen des Autoradios. Er dreht an Stimmen und Gitarren vorbei, bis er zufrieden ist.

Zu den Tönen einer Solotrompete fahren wir wieder aus der Stadt hinaus, vorbei an blühenden Kleefeldern und Kirchen.

Der Motor brummt kurz auf, als mein Vater den Zündschlüssel herumdreht.

»Sind wir hier richtig?«, fragt er.

Wir sind von der Landstraße abgebogen und stehen auf einem von Bäumen umgebenen Schotterplatz. Die alte Dame schaut aus dem Fenster.

»Ja«, sagt sie und hört sich an, als könne sie es selbst kaum glauben. »Ja … hier ist es.«

Sie zieht den Hut auf und lässt den Schleier vors Gesicht fallen. Mein Vater öffnet die Tür, ich höre Meeresrauschen. Über einen schmalen Pfad gehen wir zu einem Fachwerkhaus mit gelben Backsteinen. Davor sitzen Leute an weiß gedeckten Tischen, Messer und Gabeln blitzen in der Sonne. Sie drehen die Köpfe, ihre Blicke schweifen von mir zu meinem Vater in dem braunen Anzug und verweilen dann etwas zu lange auf der alten Dame. Dann schauen die Leute wieder rasch auf ihre Teller hinab.

Ein Kellner führt uns zu einem Tisch, der etwas abseitssteht, und deckt ein frisches Tischtuch auf. Mein Vater sagt, die Tischklammern seien aus Silber. Die Speisekarte ist mit weichem Rindsleder eingebunden.

Wir essen belegte Brote, aber nicht solche mit Gurke und einer halben Tomate, die man als Frühstück einpackt. Hier ist das ganze Stück mit Fischfilet bedeckt, und Krabben prügeln sich um den Platz obendrauf, sie schubsen einander und fallen vom Teller. Mein Vater trinkt in großen Schlucken Bier, die alte Dame nippt an ihrem und wischt das Glas mit der Serviette ab. Sie prosten einander mit Schnaps zu.

Beim Essen spüre ich, wie die Leute uns anstarren. Wenn ich ihnen in die Augen sehe, gucken sie schnell weg. Einer nach dem anderen wenden sie sich um, bis wir nur noch Rücken sehen.

»Hier sind wir jeden Sommer hingefahren«, sagt die alte Dame.

»Jedes Jahr. Damals sah ich noch nicht so schrecklich aus. Es ist mit den Jahren schlimmer geworden.« Sie tupft die Lippen mit der Serviette ab.

»Damals wusste ich nicht, warum die Leute so glotzen. Ich dachte, das wäre normal, also glotzte ich zurück. Mein Vater verbot es mir, aber ich verstand nicht, warum.«

Zum Nachtisch bekomme ich Schokoladenmousse mit frischen Himbeeren, mein Vater und die alte Dame trinken Kaffee aus kleinen Tassen. Wir können das Meer nicht sehen, aber als der Wind dreht, riecht es nach Tang und Salzwasser. Hoch über uns schweben Möwen.

Auf dem Heimweg nickt die alte Dame mehrmals ein. Sie richtet sich im Sitz auf.

»Ich dachte, ich wäre schon glücklich, wenn ich nur den Garten sehe …«, sagt sie. »Aber heute … Ich freue mich so sehr.« Ich ahne die Lippen unter ihrem Schleier. Jetzt weiß ich, wie es aussieht, wenn sie lächelt.

Wie keiner sonst / ebook
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