Ich sitze auf dem Boden, lehne mich an die Wand und lese mit der Taschenlampe ein Comic. Der Held kann sich unsichtbar machen. Mein Vater sitzt hinter dem Lichtpult und raucht, er dreht an ein paar Knöpfen, drückt auf andere. Vor ihm ist ein Loch in der Wand. Wenn er nicht mit den Knöpfen beschäftigt ist, guckt er durch das Loch.

Manchmal dreht er sich um, und wir mimen zu den Stimmen im Theatersaal.

Mein Vater sagt: »So was, Iwan, bist du auch gekommen, um die Morgensonne zu genießen …«

Dann sage ich: »Oh, liebste kleine Olga. Die Morgensonne ist alles, was mir geblieben ist.«

Wir sind seit vierzehn Tagen hier, ich weiß nicht, wie er die Arbeit am Theater bekommen hat.

Der Comicheld macht sich nur unsichtbar, wenn er anderen helfen kann. Er fängt Bankräuber und Schurken, die alten Damen die Handtasche entreißen. Er bereichert sich nie selbst, stellt niemandem ein Bein, weil er ihn nicht leiden kann, auch wenn es eine Kleinigkeit für ihn wäre. Wenn er Bus fährt, legt er dem Fahrer Geld hin, bekommt aber nie eine Fahrkarte.

Es fällt mir schwer, ihn zu verstehen. Ich folge den Bildern mit dem Finger.

Am Ende des ersten Aktes steht mein Vater auf und geht zu dem Kassettenrekorder an der Wand. Er legt den Finger auf den Knopf, neigt den Kopf und hört genau zu. Wenn die Frau auf der Bühne gesagt hat: »Aber das wirst du nie verstehen. Du liebst nur deine Kunst, Iwan, du liebst nicht die Menschen«, zählt mein Vater langsam bis drei, dann drückt er auf den Knopf. Wellenrauschen und Möwenschreie füllen den Saal. Mein Vater setzt sich wieder ans Pult, drückt schnell ein paar andere Knöpfe und schiebt den großen Regler in der Mitte nach oben.

Das rote Licht eines Sonnenuntergangs scheint durch das Loch.

Der Saal ist nie mehr als halb voll. Wenn das Stück fertig ist, ist der Applaus spärlich und nicht im Takt. Einzelne Zuschauer klatschen laut und lange, wahrscheinlich weil die Karten so teuer waren, sagt mein Vater. Er raucht eine Zigarette, während der Saal sich leert. Dann schaltet er das Licht ein, und ich kann die Taschenlampe ausschalten. Er räumt auf, leert den Aschenbecher und spult die Kassette zurück.

Es klopft, der Theaterdirektor steckt den Kopf zur Tür hinein. Er ist klein, die Haare stehen ihm zu Berge, als wäre er gerade aufgewacht. Obwohl es sein Theater ist, lächelt er verlegen. Als wir zum ersten Mal hier waren, bot er mir eine Limonade an, und seitdem wiederholt er an jedem Abend: »Geh rüber in die Bar und hol dir eine Limo.«

Heute beachtet er mich nicht. Er nimmt einen Stuhl und setzt sich, gestikuliert nervös.

»Der Vertrag, über den wir sprachen …«, sagt er.

»Ja?« Mein Vater ordnet die Blätter, auf denen der Text der Schauspieler steht.

»Es gibt da noch ein paar Details zu klären, aber du bekommst ihn so bald wie möglich.« Der Direktor schaut auf seine Hände. »Ich weiß, ich wollte ihn heute mitbringen …«

Mein Vater raucht und bietet dem Direktor eine Zigarette an, der zögernd annimmt. »Wenn der Vertrag unterschrieben ist, musst du mich für den Rest der Saison bezahlen, auch wenn ihr den Laden morgen dichtmacht.«

Der Direktor schaut noch immer auf seine Hände. »Du bist nicht dumm.«

»Wollen wir den Vertrag nicht einfach vergessen?«, fragt mein Vater. »Solange ich rechtzeitig mein Geld bekomme, brauche ich keinen.«

Der Direktor hält die Luft an, als hätte er nicht richtig gehört. Dann steht er auf, drückt die Hand meines Vaters und schüttelt sie kräftig.

»Du bist echt in Ordnung«, sagt er und zieht einen weißen Briefumschlag aus der Jackentasche.

»Vergiss nicht, es beim Finanzamt anzumelden.« Die beiden lachen. Der Direktor verschwindet schnell, als hätte er Angst, dass mein Vater seine Meinung ändert.

Mein Vater schließt den Beleuchtungsraum ab, und wir gehen durch den schmalen Gang zur Treppe. Sara kommt uns entgegen. Sie hat sich umgezogen und trägt nun Jeans und einen dunkelroten Strickpullover. Ihr Haar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden, der Schweiß steht ihr noch auf der Stirn.

»Versprich mir, dass ihr mitkommt. Nur auf ein Glas.«

Mein Vater sieht mich an, ich soll entscheiden.

Das nasse Pflaster schimmert im Licht der Laternen. Wir gehen zusammen mit den Schauspielern. Vor der Vorstellung sind sie immer sehr ernst, sprechen kaum, trinken Kaffee und rauchen. Aber danach lachen sie viel und fast ohne Grund.

Der Mann hinter der Bar grüßt, als er uns hereinkommen sieht. »Die Schauspieler kommen«, ruft er. »Holt die Wäsche von der Leine!« Sofort zapft er Bier. Ein älterer Herr steht auf und macht Platz. Das hat gerade noch gefehlt, sagt er. Wir wählen einen Tisch in der Mitte.

Die Schauspieler haben immer etwas zu erzählen, Geschichten oder Witze, oder sie lästern über Kollegen.

Ich sitze neben meinem Vater und trinke mit einem Strohhalm Orangensaft. Ich unter Schauspielern. Die Leute an den anderen Tischen hören mit. Sie wären auch gern Teil der Runde, man sieht es ihnen an, obwohl sie versuchen, es zu verbergen. Gegenüber von uns sitzen Kim und Margrethe. Die beiden waren einmal ziemlich bekannt, sagt mein Vater. Margrethe ist die Älteste von allen, ich habe keinen ihrer Filme gesehen, obwohl sie in vielen mitgespielt hat. Sie trinkt Weißwein, ihr Lippenstift hinterlässt rote Spuren auf dem Glas und an der Zigarette, die sie ganz vorne zwischen Zeige- und Mittelfinger hält. Ich zeichne sie in Gedanken, zeichne die Kneipe, die dunkel getäfelten Wände, die Tische mit den vielen Brandflecken. An den Wänden hängen Fotos von Leuten, die ich nicht kenne. Sie lächeln oder heben ihr Glas. Die meisten haben mit schwarzer Tusche persönliche Grüße daruntergeschrieben.

Kim streitet sich mit Margrethe. Sie wendet sich von ihm ab und tut, als ob er nicht neben ihr säße. Er steht auf, nimmt sich einen anderen Stuhl und setzt sich neben mich.

In dem Theaterstück spielt er einen lebensmüden Landarzt, der über die Felder blickt und von der Großstadt redet.

»Bist du bereit?«, fragt Kim und zieht drei Münzen aus der Tasche.

Der Seemann sucht seinen Hut, nennt er diesen Zaubertrick. Ein anderer heißt Die Dame im Rübenacker. Er verwandelt Zigaretten in Papierservietten, Münzen verschwinden und tauchen unter meiner Saftflasche wieder auf.

Ich höre die Glocke läuten, mein Vater steht an der Bar und hält die Glockenschnur in der Hand. Ich weiß, was das bedeutet. Er zieht den weißen Briefumschlag aus der Tasche. Er fragt, ob ich noch einen Saft möge, ich schüttle den Kopf. Ich muss pinkeln und will nach Hause, sage aber nichts, schaue nur zu, wie das Geld über die Theke wandert und die Gläser gefüllt werden. Bier, Schnaps und Wodka. Die Leute klopfen meinem Vater auf die Schulter.

Daheim leert mein Vater den Briefumschlag aus. Es ist kaum noch Geld übrig.

Er sieht mich an: »Du fragst dich sicher, warum ich für alle einen ausgegeben habe, nicht wahr? Warum ich völlig Unbekannten ein Bier spendiert habe.« Ich nicke.

Er geht vor mir in die Hocke, und ich weiß, dass ich wieder in der Schule bin.

»Man kann nicht davon leben, unsichtbar zu sein«, sagt mein Vater. »Der Mann in deinem Comic, wie verdient der eigentlich sein Geld?« Darüber habe ich nie nachgedacht.

»Niemand bezahlt ihn dafür, dass er unsichtbar ist, stimmts?«

Nein, mein Vater hat recht.

»Ich wünschte, man könnte ohne Nummernschild Auto fahren, oder durch Schnee gehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Aber das geht nicht. Also muss man sich auf andere Menschen verlassen. Nicht immer und nicht unbedingt. Aber wenn sie dich mögen, werden sie ziemlich viel für dich tun, wenn es drauf ankommt. Das ist viel mehr wert als die paar Scheine in dem Briefumschlag.«

Ich helfe meinem Vater, die Liegen auszuklappen, und wir breiten die Schlafsäcke aus.

Unsere neue Wohnung ist die kleinste, in der wir je gewohnt haben. Ein Bühnenarbeiter aus dem Theater kennt den Hausmeister und hat mit ihm geredet. Einen Tag später zogen wir ein. Alles, was wir brauchen, holen wir aus dem Koffer, eine Jacke oder ein Paar Schuhe, und danach packen wir es wieder hinein. Die Decken in der Wohnung sind schräg. Wir können die Vögel auf dem Dach landen hören, sagt mein Vater. Er kann kaum aufrecht stehen, lehnt sich nach rechts, während er Wurst brät, und nach links, während er Kaffee trinkt und raucht. Beim Abwasch lehnt er sich nach hinten.

Wie keiner sonst / ebook
titlepage.xhtml
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006.html
part0007.html
part0008.html
part0009.html
part0010.html
part0011.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015.html
part0016.html
part0017.html
part0018.html
part0019.html
part0020.html
part0021.html
part0022.html
part0023.html
part0024.html
part0025.html
part0026.html
part0027.html
part0028.html
part0029.html
part0030.html
part0031.html
part0032.html
part0033.html
part0034.html
part0035.html
part0036.html
part0037.html
part0038.html
part0039.html
part0040.html
part0041.html
part0042.html
part0043.html
part0044.html
part0045.html
part0046.html
part0047.html
part0048.html
part0049.html
part0050.html
part0051.html
part0052.html
part0053.html
part0054.html
part0055.html
part0056.html
part0057.html
part0058.html
part0059.html
part0060.html
part0061.html
part0062.html
part0063.html
part0064.html
part0065.html
part0066.html
part0067.html
part0068.html
part0069.html
part0070.html
part0071.html
part0072.html
part0073.html
part0074.html
part0075.html
part0076.html
part0077.html
part0078.html
part0079.html
part0080.html
part0081.html
part0082.html
part0083.html
part0084.html
part0085.html
part0086.html
part0087.html
part0088.html
part0089.html
part0090.html
part0091.html
part0092.html
part0093.html
part0094.html
part0095.html
part0096.html
part0097.html
part0098.html
part0099.html
part0100.html
part0101.html
part0102.html
part0103.html
part0104.html
part0105.html
part0106.html
part0107.html
part0108.html
part0109.html
part0110.html
part0111.html
part0112.html
part0113.html
part0114.html
part0115.html
part0116.html
part0117.html
part0118.html
part0119.html
part0120.html
part0121.html
part0122.html
part0123.html
part0124.html
part0125.html
part0126.html
part0127.html
part0128.html
part0129.html
part0130.html
part0131.html
part0132.html