Es ist Heiligabend, die Straßen sind fast leer. Nur noch wenige Autos sind unterwegs. Manche fahren schnell, mein Vater sagt, sie kämen wohl zu spät. Andere fahren langsam, wischen die beschlagenen Scheiben und suchen nach Hausnummern.
»Heute gibt es Ente«, sagt mein Vater. »Die beste der Stadt. Aber erst sollst du in die Schule.«
»In die Schule?«
»Ja, Religionsunterricht.«
Die Kirche ist zwischen zwei anderen Gebäuden eingeklemmt. Als hätte man so dicht an sie herangebaut, dass sie gerade noch stehen blieb. Aus der geöffneten Tür dringt warmes, goldenes Licht.
Drinnen lächeln die Menschen, machen einander Platz, reden leise. Die Männer halten Mäntel über den Armen. Die Frauen tragen Stiefel mit hohen Absätzen.
Wir setzen uns auf eine der Holzbänke, hinter uns füllt sich der Raum. Ich wünschte, ich wäre daheim noch einmal aufs Klo gegangen. Wir haben das Popcorn vergessen, flüstert mein Vater.
Ich schaue mich in der Kirche um, präge mir alles ein, vielleicht wird mein Vater mich später danach fragen. Die großen Kerzenhalter und die mit Schnitzereien verzierte Kanzel. Jesus am Kreuz, er hängt ganz hinten, mager, mit Nägeln in Händen und Füßen. Er blutet, aber sein Blick ist friedvoll.
Dann tritt der Pfarrer vor, und die Gespräche verstummen. Alle stehen auf, der Pfarrer lächelt, offenbar freut er sich, uns zu sehen. Er hebt die Arme, und wir setzen uns.
Die Orgel spielt, und mein Vater zeigt auf eine Tafel an der Wand. Dort stehen die Nummern der Kirchenlieder. Ehe ich die richtigen Seiten im Gesangbuch gefunden habe, fangen alle an zu singen. Ich versuche mitzumachen, öffne und schließe den Mund wie die anderen.
Mein Vater blickt während des Liedes zu dem Pfarrer auf, seine Augen glänzen.
Als die letzten Töne der Orgel verklungen sind, steigt der Pfarrer auf die Kanzel. Ein Stück dunkelblauer Stoff kommt zum Vorschein, bestimmt trägt er Jeans unter dem Talar. Er überfliegt sein Konzept, ordnet die Blätter. Dann lässt er den Blick über die Gemeinde schweifen, als wolle er allen in die Augen sehen, bevor er beginnt. Er fährt sich mit Daumen und Zeigefinger über die Lippen.
»Wir kaufen alle zu viel«, sagt er. »Viel zu viel.« Wieder blickt er sich um. »Findet ihr das nicht auch?«
Keiner antwortet, er nickt und lächelt, freut sich noch immer, uns zu sehen.
»Das betrifft auch mich. Pfarrer sind keine Heiligen. Nicht mehr – dem Herrn seis gedankt.« Ich höre unterdrückte Lacher, will gern mitlachen, aber es ist zu spät. Ich wusste nicht, dass man in der Kirche lachen darf.
Der Tonfall des Pfarrers wird ernst, nun redet er über die Armen.
»Die, die nichts haben«, sagt er. »Wir haben vergessen, was Armut bedeutet. Echte Armut. Ich meine die Menschen, an die man nicht denkt, wenn man vor der Kühltheke steht und nach der letzten Ente sucht.«
Mein Vater beugt sich zu mir, flüstert mir ins Ohr.
»Sieh dich nur um. Glaube und Tradition sind zwei verschiedene Dinge.«
Der Pfarrer liest aus dem Matthäus-Evangelium. Redet von Brot und Fisch, mahnt zum Teilen.
»Die Menschen haben Gott mit Jesus verwechselt«, flüstert mein Vater. »Sie mögen Jesus, weil er weint.«
Ein älterer Mann dreht sich zu uns um und hält den Finger vor den Mund.
»Sie beten den Sohn an, als gäbe es nichts anderes«, sagt mein Vater, diesmal lauter. »Sie vergessen, dass der Vater ein rachsüchtiger Gott ist. Ein eifersüchtiger und grausamer Gott. Sie vergessen, was mit Hiobs Töchtern geschah, und mit allen, die nicht mit auf die Arche gekommen waren.«
Immer mehr Leute drehen sich zu uns um.
»An deren Stelle würde ich hier drinnen eine Rettungsweste tragen«, sagt mein Vater. Sein Lachen schallt durch die Kirche.
Der Pfarrer hält ein und blickt sich um, will wissen, wer ihm dauernd ins Wort fällt. Ich habe Angst, dass er uns anschreien oder hinauswerfen wird. Mein Vater sieht ihn an, und einen Augenblick scheint es, als würde der Pfarrer ihn wiedererkennen. Dann senkt er den Blick schnell wieder auf seine Papiere. Der Pfarrer lächelt noch immer, aber seine Stimme klingt nicht mehr so sicher, als er erzählt, wie sieben Brote tausend Menschen satt machten.
Mein Vater lehnt sich zurück, faltet die Hände vor dem Bauch und lässt den Pfarrer zu Ende predigen. Die Leute wirken erleichtert, starren uns nicht mehr an.
Der Pfarrer packt seine Zettel zusammen. Die Orgel spielt, während er von der Kanzel steigt. Er stellt sich vor die Gemeinde. »Lasset uns beten«, sagt er und faltet die Hände.
»Wir gehen«, sagt mein Vater. »Gott ist nicht hier.«
Die Leute müssen aufstehen, damit wir vorbeikommen, eine alte Dame fragt, ob der Gottesdienst schon zu Ende sei. Der Pfarrer betet stockend weiter, als wir durch den Mittelgang gehen. »Erlöse uns von dem Bösen« sind die letzten Worte, die ich höre. Dann fällt die Tür hinter uns ins Schloss.
Draußen ist es kälter geworden. Die Gehwege sind glatt, und ich muss aufpassen, wo ich hintrete. Ich mochte die Menschen in der Kirche. Sie waren schön angezogen und lächelten. Sie hielten einander an den Händen und lächelten auch mich an, obwohl ich sie nicht kannte. Ich mochte das warme Licht der Kerzen. Aber das sage ich meinem Vater nicht. Er läuft, und ich versuche, Schritt zu halten, muss über Schneewehen hüpfen und zur Seite springen, wenn ein Auto vorbeifährt und Schneematsch aufspritzt. Der Wind treibt mir Tränen in die Augen.
»Sollen wir nicht an ihn glauben?«, frage ich meinen Vater.
»An wen?«
»Gott.«
»Ach der. Nun, …«
»Also nein?«
Mein Vater sucht nach einer Zigarette.
»Vielleicht ist das gar nicht die Frage.« Er schirmt den Wind mit dem Mantel ab und zündet die Zigarette an, dann nimmt er meine Hand.
»Jetzt gibt es Ente«, sagt er.
Wir gehen an Restaurants vorbei, durch die Fenster sehe ich festlich gekleidete Menschen und weiße Tischtücher.
»Essen wir hier?«, frage ich.
»Nein. Wo wir hingehen, gibt es die beste Ente der Stadt.« Wir laufen weiter. Vorbei an vielen Restaurants, durch viele Straßen und viele Schneewehen, bis wir zu den Mädchen mit den hohen Absätzen kommen. Heute tragen sie kurze Daunenjacken, die nicht einmal über die Hüfte reichen. Wir gehen an alten Lagerhallen und kleinen Fabriken vorbei. Viele Laternen sind kaputt, manche flackern.
»Hier ist es«, sagt mein Vater. »Die beste der ganzen Stadt.« Auf der anderen Straßenseite steht ein kleines, viereckiges Holzhaus mit roten und gelben Schildern auf dem Dach. Vor der Tür stehen zwei Taxis. Ich klopfe den Schnee von den Schuhen, bevor wir eintreten.
Drinnen sitzen die Menschen allein, jeder für sich an einem kleinen Tisch, den Blick aufs Essen geheftet. Am Fenster hängen zwei mit Klebeband befestigte Weihnachtswichtel, die Fensterbank ist mit goldenem Sternkonfetti bestreut.
Mein Vater wählt einen Platz in der Ecke. Geht zur Theke und kommt mit zwei Tellern Ente mit brauner Soße und einem Teller Schweinebraten wieder. Das Essen glänzt im hellen Schein der Neonröhren.
»Du möchtest bestimmt lieber Brust, oder?« Mein Vater tauscht sein Stück gegen die Keule auf meinem Teller.
Der Spielautomat in der Ecke macht laut »pling«.
»Einmal haben wir mit Mutter Heiligabend gefeiert«, sage ich. »In einem Haus. Haben wir je in einem Haus gewohnt?«
»Ja. Und deine Mutter hat auch Ente gekocht, und ich die Soße. Ihre Ente war fantastisch.«
»Besser als die hier?«
»Ja, aber nur ein kleines bisschen.«
Er schneidet ein Stück Schwarte ab und steckt es in den Mund.
»Ich freue mich, dass du dich daran erinnerst. Du siehst ihr von Tag zu Tag ähnlicher.«
Ein Mann steht von einem der anderen Tische auf und drückt seine Zigarette auf dem Teller aus. Er trinkt seinen Kaffee aus und geht. Kurz danach leuchten die Scheinwerfer von einem der beiden Taxis auf. Ich schaue den roten Rücklichtern hinterher, bis sie verschwinden.
»Warum sitzen die Leute hier allein?«
Mein Vater legt mehrere Scheiben Schweinebraten und einen Klecks Johannisbeergelee auf meinen Teller.
»Nicht jeder hat Gesellschaft zu Weihnachten«, sagt er.
»So wie wir?«
Er schaut vom Teller auf. »Ja, mein Schatz. Wir haben einander. Das ist ein großer Unterschied.«
Zum Nachtisch essen wir Milchreis mit Mandeln und Sahne. Mein Vater trinkt Kaffee. Als wir heimgehen, bin ich so satt, dass mir der Bauch wehtut.
»Du hast noch gar nicht nach deinem Weihnachtsgeschenk gefragt«, sagt mein Vater, als wir die Treppe hinaufgehen.
Ich warte in der Küche, während er es aus dem Keller holt. Das Geschenk passt kaum durch die schmale Küchentür, es ist riesengroß und in rotes Papier eingewickelt.
Zuerst will ich es vorsichtig auspacken, aber dann verliere ich die Geduld und reiße das Papier auf. Helles Holz kommt zum Vorschein. »Eine Staffelei«, sagt mein Vater. »Zum Malen.« Ich weiß, was eine Staffelei ist, habe sie oft in den Läden gesehen, in denen mein Vater Farben für mich kauft, ohne Geld auszugeben. Aber diese ist anders. Alle Kanten sind geschliffen, und sie ist lackiert. Sie gleicht mehr einem Musikinstrument als einem Gerät, auf das man Leinwände stellt. Er muss sie in der Werkstatt gemacht haben, wahrscheinlich hat er viele Stunden daran gearbeitet.