Der Mann steckt den Arm ins Terrarium. Er hält die Hand so lange still, bis die Heuschrecken vergessen haben, dass sie lebt. Dann fängt der Mann eine und hält sie zwischen zwei Fingern. Er steckt sie zu den anderen in die Plastikdose, in der einmal Eiscreme war. Der Zoohändler ist über fünfzig. Vielleicht hat er Frau und Kinder, vielleicht hat er alte Freunde und fliegt in den Ferien ans Mittelmeer. Aber ich sehe ihn eher in einem von Aquarien beleuchteten Haus. Dort sitzt er mit einer dicken Lesebrille auf der Nase und einem Buch über Salzwasserfische auf dem Schoß.

Er gibt mir die Dose, ich hebe den Deckel an, nehme die erste Heuschrecke heraus und lasse sie ins Terrarium fallen.

Der Waran steht so still, als wäre er ausgestopft. Dann kommt die Zunge heraus, blitzschnell, wenn man nur blinzelt, hat man sie verpasst. Sie zermalmt Flügel und Beine der Heuschrecke, bevor sie wieder zurückschnellt.

Ich werfe noch ein paar Heuschrecken in das Terrarium, aber der Waran hat das Interesse verloren.

»Er braucht ein Heim«, sagt der Mann. »Ich kümmere mich gut um ihn, aber sie werden alle ein bisschen irre, wenn sie zu lange hierbleiben. Zu wenig Platz und zu viele Schulkinder, die an die Scheiben klopfen.«

Er stützt sich auf das Terrarium.

»Überleg es dir. Wenn du ihn haben willst, bekommst du ihn zum Sonderpreis.«

Ich schlendere durch die Hauptstraße, vorbei an der Pizzeria, dem Blumenladen, der Post und der Apotheke. Meine Klasse hat gerade Deutsch. In diesem Augenblick macht unser Lehrer die Runde und prüft die Hausaufgaben.

Ein kurzer Blick ins Heft reicht ihm, um ein falsch gebeugtes Verb zu entdecken.

Ich gehe durch die Stadtmitte in den Park mit der Metallskulptur, deren spitze Kanten jeden Herbst Fallobst aufspießen.

Schon bevor ich zur Skateboardbahn komme, höre ich Stimmen und Lachen.

Es sind nie viele Skateboarder dort, manchmal gar keine. Die meisten sitzen auf der Rampe, rauchen Joints und trinken billiges Bier aus dem Supermarkt um die Ecke. Ich begrüße Søren, er ist adoptierter Koreaner, aber alle nennen ihn den Grönländer.

»Hast du Christian gesehen?«, frage ich.

»Heute noch nicht.« Er schnipst eine Kippe ins Gebüsch. »Aber wenn du ihn findest, sag ihm, dass ich Kohle für ihn habe.«

Ich gehe zurück in das Eigenheimviertel. Christian wohnt nur ein paar Straßen von Karin und Michael entfernt.

Seine Mutter öffnet die Tür. Sie ist blond, trägt eine Schürze und hat Mehl auf der Wange. Christians Mutter hält sich jung und fit, in der Nachbarschaft ist sie das Objekt vieler feuchter Träume.

»Noch ein Versuchskaninchen«, sagt sie und lächelt.

Ich folge ihr durch den Flur und wäre nicht überrascht, wenn in der Küche ein Filmteam stünde – Mehlpackung hochhalten und lächeln, ja, so ist es gut.

»Ich probiere gerade etwas für Majas Geburtstag aus. Gesunde Geburtstagsbrötchen.« Sie spricht leise, ihr Parfüm riecht süßlich.

»Maja ist ja ein bisschen pummelig geworden.«

Christian sitzt im Esszimmer am Tisch.

»Wenn du vorher angerufen hättest, hätte ich dich gewarnt.«

Seine Mutter bringt jedem von uns ein Glas Orangensaft.

»Du hast gekifft«, sagt Christian.

»Merkt man das?«

»Ich schon, aber meine Mutter nicht. Obwohl sie dich für gefährlich hält. Sie glaubt, dass du irgendeiner Sekte angehörst. Aber … ich glaube, sie mag dich trotzdem.«

Ich bemerke es kaum noch, dass mich alle Mütter übertrieben freundlich anlächeln. Sie spendieren mir immer die Kinokarten. Ich verkörpere hier das andere, von dem ihre Kinder etwas lernen können.

Christian sieht mich an. »Bist du nüchtern genug zum Schreiben?«

Seine Mutter bringt ein Tablett mit Brötchen und Butter.

»Ihr beiden müsst ja nicht aufs Gewicht achten.« Sie setzt sich zu uns. »Esst«, sagt sie, stützt den Kopf auf die Hand und schaut uns erwartungsvoll an.

Die Brötchen sind dunkelgrau, es braucht eine dicke Schicht Butter, damit sie nicht am Gaumen kleben.

»Ich bin so stolz darauf, dass Christian dir hilft. Ich weiß, das klingt albern, aber ich bin wirklich stolz. Ich habe es seinen Lehrern auf dem Gymnasium erzählt, die fanden es auch toll. Früher war er ja nicht der Beste in der Schule, weißt du. Aber euch macht es Spaß, nicht wahr?«

Nachdem wir die Brötchen heruntergewürgt haben, gehen wir in Christians Zimmer.

Er nimmt ein paar Bücher aus dem Regal und steckt den Arm hinter die Reihe.

»Mehr hab ich leider nicht«, sagt er und legt einen kleinen, braunen Klumpen auf den Tisch. Es ist höchstens ein Gramm. »Ich weiß, dass ich dir noch was schulde, aber im Augenblick ist Ebbe. Wenn du am Freitag auf die Party kommst, …«

»Welche Party?«

»Bei einem deiner kleinen Freunde aus der Schule. Du bist bestimmt nicht eingeladen. Ich geh nur zum Dealen dorthin. Wenn du kommst, kriegst du den Rest.«

Christian schaltet den Computer ein, und ich setze mich an die Tastatur. Er zieht die Hausaufgaben aus der Schultasche, fünf Seiten über Pelle, der Eroberer bis morgen.

»Dreh uns einen Joint«, sage ich. Er öffnet das Fenster und holt das Spray mit Kiefernnadelduft. Als er meinen Klumpen vom Tisch nehmen will, schlage ich ihn mit der Maus auf den Handrücken.

»Idiot«, sagt er und reibt sich die Hand.

»Ich weiß genau, dass du noch was hast. Hol es.«

Christian spielt beleidigt und holt einen anderen Klumpen aus dem Regal. Dann schließt er die Tür ab und dreht einen Joint. Er zündet ihn an, nimmt ein paar tiefe Züge und reicht mir die Tüte.

»Sie wollen mich von der Schule werfen«, sage ich, während ich rauche und schreibe.

»Willst du im Netto Dosen stapeln, oder was?«

»Sie wollen mich auf eine Privatschule schicken.«

»Zusammen mit Schizos und Mädchen, die sich selbst verstümmeln?«

Er grinst, bis er plötzlich begreift, was das für ihn bedeuten würde. Ich mache seit Jahren seine Hausaufgaben. Als wir damit begannen, hatte er eine Fünf, seitdem hat er sich schrittweise auf Zwei minus gesteigert. Trotz schlechter Examensnoten hat er es geschafft, aufs Gymnasium zu kommen. Es war meine Idee, dass er zu einem Psychologen gehen und auf Erwartungsangst machen sollte. Seitdem zeigen die Lehrer Verständnis, wenn er bei Examen unzusammenhängende Aufsätze schreibt oder bei Prüfungen stammelt.

»Ich hoffe, du bleibst hier«, sagt er.

Wie keiner sonst / ebook
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