Ich sitze mit gekreuzten Beinen auf der Treppe. Der alte Mann unter uns braucht ewig auf der Toilette, manchmal dauert es Stunden. Er steht da drinnen und jammert mit altmodischen Wörtern vor sich hin. Einmal habe ich ihn getroffen, als er herauskam. Er wendete den Blick ab, deutete auf seinen Hosenlatz und sagte, dass da unten alles kaputt sei. Total verfault. Dann entschuldigte er sich.

Manchmal pinkle ich in der Küche in das Spülbecken. Dazu muss ich mich auf einen Stuhl stellen. Aber der Abfluss ist oft verstopft, und die Wohnung soll nicht nach Pisse riechen, wenn mein Vater heimkommt.

Ich sitze auf der Treppe und habe schon Tränen in den Augen. Seit über vier Jahren habe ich nicht mehr in die Hosen gemacht und habe es auch jetzt nicht vor. Schritt für Schritt gehe ich die Treppe hinunter und hoffe, dass sich die Toilettentür öffnet.

Es ist Nachmittag, und eigentlich müsste der Hof voller spielender Kinder sein. Ich weiß nicht, ob der Hausmeister sie verschreckt, oder ob sie Angst vor dem Jungen mit den dunklen Haaren haben. Wenn die Fenster geöffnet sind, höre ich ab und zu Kinderstimmen, aber immer nur kurz, als würden sie einander ermahnen, dass sie still sein sollen. Ich finde eine Ecke zwischen den Büschen und dem Holzverschlag und reiße in letzter Sekunde den Hosenlatz auf. Ich halte die Luft an und male mit dem Strahl auf das Holz. Dabei horche ich angestrengt nach den Schlüsseln des Hausmeisters. Alles, was ich höre, sind ein zwitschernder Vogel und die Autos auf der Straße. Ich könnte ewig weiterpinkeln, aber plötzlich raschelt es hinter mir in den Büschen. Die Stimme ist laut und klingt beleidigt:

»Ich dachte, du wärst mein Freund?«

Es ist der Junge mit den dunklen Haaren.

»Du warst gar nicht mehr im Hof, ich habe dich nirgendwo gesehen«, sagt er.

Schnell mache ich den Reißverschluss zu.

Er scharrt mit dem Fuß in der Erde, als wolle er mit der Schuhspitze zeichnen.

»Ich dachte, wir wären Freunde, aber du hast dich extra nicht mehr blickenlassen, stimmts?«

»Nein.«

Er streicht sich durch die dunklen Haare und schiebt sie hinter die Ohren, wie es sonst nur Mädchen tun.

»Du willst doch mein Freund sein, oder?« Er neigt den Kopf leicht zur Seite.

»Ja.«

»Und du wirst dich nicht wieder drücken?«

»Nein.«

»Dann sind wir Freunde«, sagt er und zieht einen Tennisball aus der Jackentasche.

»Jetzt spielen wir Affenschießen, kennst du das?«

»Ja.«

»Du lügst.«

»Nein.«

»Doch. Das weiß ich, weil ich das Spiel selbst erfunden habe. Es macht Spaß. Hast du Lust, Affe zu sein?«

Ich schüttle den Kopf.

»Sicher? Ganz sicher …?« Ich antworte nicht, und er zuckt mit den Schultern.

»Dann muss ich halt der Affe sein. Selber schuld!«

Ich folge ihm in eine Hofecke mit brüchigem Asphaltboden. Er stellt sich mit dem Rücken an die Wand.

»Kannst du zählen?«

»Ja.«

»Zähl bis zehn und geh dabei rückwärts.«

Als er mit dem Abstand zufrieden ist, rollt er mir den Ball zu.

»Er ist ein bisschen eklig und glitschig, weil er mal einem Hund gehört hat.«

Er streckt Arme und Beine aus.

»Jetzt musst du den Affen schießen.«

Ich werfe den Ball und treffe ihn auf der Brust. Ich war sicher, dass er ausweichen würde, aber er hat sich nicht bewegt.

»Du wirfst wie ein Mädchen«, sagt er. »So macht das keinen Spaß.«

Er hebt den Ball auf.

»Wenn du vorbeiwirfst, musst du der Affe sein, denk dran.« Er rollt den Ball zu mir zurück.

Ich werfe wieder, diesmal etwas fester. Auch diesmal rührt er sich nicht vom Fleck, er steht nur da und grinst, als der Ball seine Schulter trifft.

»Schon besser, aber du kannst bestimmt noch fester.«

Ich treffe ihn am Bauch. Bestimmt hat er einen roten Fleck unter dem T-Shirt.

»Du wirst immer besser im Affenschießen. Aber du musst noch fester werfen.«

Mit jedem Mal werfe ich fester. Ich treffe ihn am Bauch, auf der Brust und am Arm. Ich streife sein Ohr.

»Schieß den Affen«, ruft er. »Schieß den Scheißaffen.«

Der Ball hinterlässt einen großen roten Placken unter seinem linken Auge. Er blinzelt die Tränen weg.

»Guter Wurf«, sagt er. »Ich freue mich, dass du mein Freund bist. Schieß jetzt den Scheißaffen.«

Ich werfe noch einmal. Der Ball prallt neben seinem rechten Ohr an die Wand. Kein Zweifel, ich habe ihn verfehlt.

Der Junge lächelt, während der Ball langsam über den Asphalt rollt.

»Vorbei. Du hast den Affen nicht getroffen …«

Er reibt sich die Wange, massiert den roten Placken, der sich mit seinen geschwollenen Lippen vereint hat.

»Ich hab mich bewegt. Entschuldigung, der Affe hat sich bewegt, das darf er nicht.«

Er dreht den Ball in den Händen. »Er ist mit Hundesabber gefüllt.« Dann rollt er ihn zu mir zurück.

»Wiederholung. Schieß den Affen.«

Ich sitze am Tisch und zeichne, als mein Vater nach Hause kommt. »Komm, ich zeige dir die Stadt«, sagt er.

Wir gehen hinaus in den Abend.

Wenige Straßen von unserer Wohnung entfernt gibt es einen großen Gemüseladen.

Der Mann im Laden schneidet ein Stück von einem Käse ab, der in gräulichem Wasser liegt. Er redet merkwürdig und lächelt, als er den Käse über die Theke reicht. Er schmeckt mir nicht, ist viel zu salzig, aber ich lasse mir nichts anmerken und zwinge den Bissen hinunter. Mein Vater bekommt eine kleine Tüte Oliven, muss nichts dafür bezahlen, wir gehen weiter.

Ich frage meinen Vater, wo er herkomme, der Gemüsehändler. Er hat schwarze Haare, sieht aber nicht wie die Chinesen in den Imbissen aus.

»Von einem Ort, an dem alles anders ist als in unserer Stadt. Oder vielleicht auch nicht so anders.«

Mir fällt auf, dass mein Vater nun »unsere Stadt« sagt. Obwohl die Stadt mir Angst macht, hoffe ich, dass wir länger hier bleiben.

Wir gehen weiter. Durch lange Straßen, um unzählige Ecken, vorbei an Bänken und Bars, aus denen laute Gespräche und goldgelbes Licht dringen. Ich bin sicher, dass die Stadt jeden Moment aufhört, sie kann unmöglich endlos sein. Um die nächste Ecke müssen die Felder beginnen. Oder niedrige Betongebäude, Landstraßen und Autobahnen. Mein Vater isst die Oliven und spuckt die Kerne aus. Wenn wir uns verlaufen, finden wir durch sie zurück.

Wir kommen zu einem großen, offenen Platz.

»Hier wurde früher Stroh verkauft«, sagt mein Vater.

Wir gehen an Mädchen in kurzen Kleidern vorbei. Man hört ihre Absätze klackern, wenn sie auf und ab gehen.

Ich frage meinen Vater, was sie tun.

»Geld verdienen«, antwortet er. »Jeder muss Geld verdienen.« Ich nicke. Wir haben schon oft an Orten gewohnt, wo die Mädchen dasselbe verkaufen, aber mein Vater dachte immer, ich wüsste das nicht.

Er spuckt einen Olivenkern aus und trifft eine Mülltonne.

Wie keiner sonst / ebook
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