Ich sitze am Esstisch in der Küche und trinke ein Glas Orangensaft.

Durch die Glastür kann ich in den Garten sehen. Es ist Februar, und das Schwimmbecken ist leer bis auf ein paar braune, halb verfaulte Blätter. Hinter dem Pool erhebt sich der Bahndamm.

Ich sitze in der Küche und warte. Ich bin sechzehn Jahre alt und gehe in die neunte Klasse.

Die Haustür geht auf, meine Mutter und mein Stiefvater kommen nach Hause. Michael schaltet den Fernseher ein und stellt den Ton ab. Er liest die Nachrichten im Videotext, eine Gewohnheit aus seiner Zeit als Journalist. Heute ist er Pressesprecher eines Pharmakonzerns.

Karin betritt die Küche. Sie ist dunkelblond, unterrichtet auf einem Gymnasium und verfasst Lehrbücher.

»Bist du fertig?«, fragt sie. Sie hat sich damit abgefunden, dass ich sie nicht »Mutter« nenne.

Ich nicke.

»Ist die Babysitterin da?«

»Sie ist oben bei Clara«, antworte ich.

Meine Schwester steht in der Tür und winkt, als wir ins Auto steigen. Die Einfamilienhäuser, an denen wir vorbeifahren, gleichen dem von Karin und Michael fast aufs Haar. Manche haben einen Wintergarten anstelle eines Carports, oder einen Fahnenmast anstatt einer Vogeltränke.

Die Schule ist ein niedriges Gebäude, das genauso gut ein Schwimmbad oder eine Bibliothek sein könnte. In der Eingangshalle hängen in kräftigen, hellen Farben Bilder eines lokalen Künstlers. Sie stellen junge Menschen mit Büchern, Skateboards und Walkmen dar.

Wir gehen durch lange Gänge, an den unverputzten Backsteinwänden hängen Bilder von jüngeren Schülern. Ein Eichhörnchen, das eine Nuss frisst. Auf dem nächsten Bild liegt es ertrunken in einer Ölpfütze.

Das künstliche Licht erreicht kaum die Ecken des Klassenzimmers. Mitten im Raum stehen zwei Tische, darauf eine Thermoskanne und Tassen. Heute hat mein Dänischlehrer ein Hemd angezogen und die Haare gekämmt. Nervös sortiert er die Unterlagen, die vor ihm liegen. Schaut auf die Uhr. »Karsten Eriksen müsste gleich hier sein. Er möchte auch gern mit Ihnen reden.«

»Das hört sich aber ernst an«, sagt Michael und grinst. Mein Dänischlehrer lächelt nur in seine Unterlagen. Dann schenkt er Kaffee in die kleinen Tassen, aus denen die Vorschulklässler Saft trinken.

Karsten Eriksen, der Direktor, betritt das Zimmer, ein Spätfünfziger in Jeans und Jackett.

»Gut, dass Sie kommen konnten«, sagt er und schüttelt Karin und Michael die Hände.

Er setzt sich und schenkt sich Kaffee ein. Auf seiner Tasse ist ein Elefant.

»Im Lehrerzimmer gab es keine sauberen Tassen mehr«, sagt mein Dänischlehrer.

Der Direktor kratzt sich mit dem Kugelschreiber am Kinn.

»Die Sache ist folgende … Ihr Sohn wurde auf dem Schulgelände beim Haschischrauchen gesehen, und …«

»Warum hat uns keiner etwas davon gesagt?« Karin richtet sich im Stuhl auf. »Sie hätten mich anrufen müssen …«

»Er ist nicht direkt dabei erwischt worden. Angeblich hat ihn jemand im Fahrradschuppen rauchen sehen, aber das ist nicht der Grund, warum ich mit Ihnen reden wollte.«

Sie holten mich ohne ein Wort der Erklärung aus der Klasse. Ich stand im Büro des Direktors und musste zusehen, wie sie meine Schultasche ausräumten. Schokoladenpapier und zerknitterte Zettel. Bücher und Kamm. Ein vergessenes Sandwich, mindestens eine Woche alt, in einer Plastiktüte, die niemand öffnen wollte.

Dann meine Bildermappe, die durchaus dick genug für ein paar platt gedrückte Joints war, also öffneten sie sie. Ich sah ihnen an, dass sie es sofort bereuten.

Der Direktor zieht die Mappe aus der Tasche und legt sie auf den Tisch. Karin sieht ihn zuerst verständnislos an, dann öffnet sie die Mappe und blättert durch die Zeichnungen. Michael schaut ihr über die Schulter. Alle starren entgeistert auf das Bild, auf dem mein Englischlehrer mit einem Schäferhund kopuliert. Der Hund trägt einen Strohhut mit kleinen Löchern für die zottigen Ohren. Karin blättert weiter, auf dem nächsten Bild kniet mein Mathematiklehrer mit offenem Mund unter einem Hengst. Michael kann sich das Lachen kaum verkneifen.

Bis wir zu den Bildern kommen, auf denen blutige Eingeweide wie Girlanden hängen. Ich habe sie bunt ausgemalt.

Karin schiebt den Stapel von sich. Der Direktor fragt, ob ich etwas dazu zu sagen habe. Ich schüttle den Kopf. Er legt die Bilder zurück in die Mappe und schließt sie.

»Das kann man wohl kaum noch als normal bezeichnen. Manche davon sind die reinsten Drohbriefe. Ich kann einen Schulverweis nicht ausschließen.«

»Einen Schulverweis?« Karin schaut von der Mappe zum Direktor auf. »Dann müsste er das Schuljahr wiederholen. Es ist nicht mehr lang bis zum Examen, er würde es nie schaffen, das nachzuholen …«

»Wir sind nicht sicher, ob eine normale Volksschule wie diese der beste Ort für ihn ist.«

»Wegen ein paar Zeichnungen?« Karin hat rötliche Flecken auf den Wangen, wie immer, wenn sie sich aufregt.

Der Direktor hustet in die Hand.

»Es ist natürlich nicht nur wegen der Bilder, aber wir sehen sie als Zeichen für eine äußerst unglückliche Entwicklung …«

Michael, der bis jetzt nervös mit seinem glänzenden Uhrenarmband aus Edelstahl gespielt hat, schaut auf.

»Sie haben doch selbst seine Tasche geöffnet.«

»Ja … ja, natürlich.« Plötzlich klingt der Direktor weniger selbstsicher.

»Ist die Tasche sein Eigentum, oder gehört sie der Schule? Selbst auf einer Volksschule haben die Schüler wohl grundlegende Rechte, oder?«

Der Direktor reibt sich die Knie.

»Was ich sagen will, ist … Ich möchte nicht, dass Sie dies als Strafe begreifen.«

Er macht eine Pause.

»Fest steht, dass Ihr Sohn Anpassungsschwierigkeiten hat. Viele seiner Lehrer haben sich darüber beklagt, wie schwierig er zu unterrichten sei.«

Karin und Michael schweigen.

»Hören Sie meinen Vorschlag.« Zum ersten Mal sieht mir der Direktor in die Augen.

»Ich finde, du solltest nach Hause gehen und überlegen, ob diese Schule der richtige Ort für dich ist. Ob du sie weiterhin besuchen willst. Wenn du dich dagegen entscheidest, wollen wir dir gern weiterhelfen. Wir könnten eine gute Privatschule für dich finden.«

Ich betrachte die Haare in seiner Nase, sie sind dick und gelb vom Nikotin. Wenn er eine Frau hat, bittet sie ihn bestimmt regelmäßig, sie zu stutzen.

»Aber wenn du hierbleiben willst, ist es deine Entscheidung. Wir stimmen ihr unter der Bedingung zu, dass du für den Rest des Schuljahres einmal pro Woche den Schulpsychologen besuchst.«

Der Direktor blättert in seinem Kalender und kreist ein Datum ein. Ich bekomme vierzehn Tage Bedenkzeit. Wenn ich weiter auf die Schule gehen will, soll ich an diesem Tag bis zwölf Uhr in seinem Büro sein.

Er klappt den Kalender zu, es ist beschlossen.

Als Karin den Mund aufmacht, höre ich, dass sie aufgegeben hat. »Wird er nicht zu viel verpassen?«

»Ehrlich gesagt machen wir uns weniger Sorgen um den Lehrstoff«, sagt mein Dänischlehrer.

Wir fahren schweigend nach Hause. Michael sitzt am Steuer, als würde er über einen kurvigen Bergpass fahren, der seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht.

Vom Vordersitz höre ich leises Schluchzen. Karin versucht, sich zu beherrschen. Ich weiß, dass es nicht nur wegen der Zeichnungen oder des angedrohten Schulverweises ist. Die letzten Jahre wären leichter gewesen ohne mich.

Die Babysitterin hat schon die Jacke angezogen. Sie sitzt auf der Treppe und wartet.

»Clara ist gerade erst eingeschlafen, sie wollte nicht ohne euch ins Bett gehen.«

Karin bezahlt sie und bietet ihr an, sie nach Hause zu fahren. Sie tut es aus purer Höflichkeit, das Fahrrad der Babysitterin steht draußen in der Einfahrt. In der Tür dreht sich das Mädchen noch einmal um.

»Eine ältere Dame hat angerufen. Sie klang ziemlich verwirrt und hat behauptet, sie würde euch kennen.«

»Ach, ich weiß«, sagt Karin. »Die ruft seit ein paar Tagen hier an. Das ist nur eine senile Alte, die wahllos herumtelefoniert.«

Karin schließt die Tür hinter ihr, nimmt die Ohrringe ab und geht die Treppe hinauf, ohne sich umzudrehen.

Michael hängt seine Jacke auf einen Bügel.

»Hast du einen Augenblick Zeit?«, fragt er.

Wir gehen in die Küche, Michael holt zwei Bier aus dem großen, silbergrauen Kühlschrank. Öffnet sie, lässt den Flaschenöffner in die Schublade fallen und schubst sie mit dem Ellbogen an. Lautlos gleitet die Schublade zurück. Die Schrankfront ist schwarz lackiert, unwillkürlich wischt Michael Fingerabdrücke mit dem Ärmel ab. Dann reicht er mir eine Flasche.

»Ich behaupte nicht, dass ich dich verstehe. Im Gegenteil. Aber ich respektiere dich. Wahrscheinlich mehr, als du glaubst.«

Er fummelt am Etikett der Flasche. Finger, denen eine Zigarette fehlt.

»Dein Dänischlehrer ist ein Idiot … Und der Direktor ist ein alter Hippie. Aber deshalb musst du dir nicht gleich die Zukunft verbauen. Mach das verdammte Examen. Bring es hinter dich. Auf dem Gymnasium wirst du es leichter haben, da bin ich mir sicher.«

Michael schaut in sein Bier, zuckt mit den Schultern.

»Ich sage ja nicht, dass du so werden sollst wie wir. Gott bewahre.«

Die Tür zum Zimmer meiner Schwester ist einen Spalt geöffnet. Sie umarmt ihren Teddy im Schlaf. Ich muss ganz still stehen, um sie atmen zu hören. Sie braucht ihre Träume nicht zu fürchten. In ihrer Welt freundet sich Goldlöckchen mit den drei Bären an. Meine Schwester ist umgeben von Prinzen und Prinzessinnen. Von Pferden und Zauberschlössern. Alles ist gekauft, die Poster an der Wand, der Plastikschmuck und die Puppen, die auf dem Boden liegen. Wenn sie etwas Neues möchte, fahren ihre Eltern mit ihr in den Spielzeugladen. Trotzdem bewundere ich es, wie tief sie in ihre eigene Welt eintauchen kann.

Sie dreht sich im Schlaf um, als würde sie bemerken, dass ich sie ansehe. Ich will sie auf die Stirn küssen, aber ich habe Angst, sie zu wecken.

Ich sitze auf der Fensterbank in meinem Zimmer und rauche einen Joint. Das Haus ist still. Das ganze Viertel ist still, der letzte Schluck Rotwein getrunken, der Mord im Fernsehen aufgeklärt. Morgen ist ein neuer Tag, nicht viel anders als heute. Aber ein neuer, schöner Tag, vorbereitet mit Notizzetteln und Kühlschrankmagneten: Kaninchen füttern nicht vergessen. Wer ist mit Staubsaugen an der Reihe? Lasagne zum Abendessen.

Der Rauch füllt meine Lunge. Ich unterdrücke ein Husten und spüre die Wärme durch den Hals bis hinter die Stirn steigen. Wie ein dünner Schleier, der das Mondlicht gelblich färbt und den Nebel über den Schienen in tiefblaue Wattebäusche verwandelt.

Wie keiner sonst / ebook
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