An der Wand hängt ein Plakat mit einem Teddy, der eine große Zahnbürste in den Pfoten hält, ein anderes zeigt von Cola zerfressene Zähne. Wir sitzen im Wartezimmer des Zahnarztes. Auf einem kleinen Tisch liegen Bauklötze und ein Stapel Comichefte. In einem Aquarium kreisen Goldfische und knabbern am Futter, das auf der Oberfläche schwimmt.
Mein Vater hält meine Hand, ich versuche, nicht zu weinen. Die Zahnschmerzen haben mich die ganze Nacht wach gehalten, und ich habe meinem Vater von dem Jungen und seinen Spielen erzählt, von Kaninchenquetschen und Blinder Bär. Auch von den Süßigkeiten habe ich ihm erzählt. Er lächelte und sagte, so schnell bekomme man keine Löcher in den Zähnen. Außerdem sei es gut, dass ich einen Freund habe, wenn auch einen schlechten. Von schlechten Freunden lerne man oft am meisten. Trotzdem kommt es mir wie eine Strafe vor. Ich schwöre mir selbst, nie wieder mit dem Jungen zu spielen. Er kann warten, bis er schwarz wird, ich gehe nicht mehr in den Hof.
Ich blättere in einem Donald-Heft, kann die Worte aber nicht lesen, weil ich Tränen in den Augen habe. Mir ist völlig egal, ob Onkel Dagobert sein ganzes Geld verliert.
»Der Zahnarzt wird nachschauen«, sagt mein Vater. »Es wird schon wieder.«
Ich würde ihm gern glauben, aber wir haben mit niemandem geredet, seit wir hereingekommen sind, sondern uns einfach auf die letzten freien Stühle in der Ecke gesetzt. Wie soll der Zahnarzt wissen, wann wir an der Reihe sind?
Mein Vater nimmt meine Hand und sagt: »Virtute et armis.«
Ich antworte: »Mit Mut und Waffen.«
Er sagt: »Iacta alea est.«
»Der Würfel ist gefallen.«
»Und das war … ?«
»Caesar.«
»Und der war … ?«
Langsam leert sich das Wartezimmer, während wir die »ads« durchgehen: ad infinitum, ad libitum, ad notam.
Wir kommen bis zu ad vitam aeternam. Ich antworte »Bis in alle Ewigkeit«. Inzwischen sind wir die Letzten. Mein Vater steht auf und nimmt meine Hand. Ich folge ihm am Empfang vorbei ins Behandlungszimmer. Wir bleiben in der Tür stehen und schauen dem Zahnarzt zu, der Instrumente auf einen Metalltisch legt. Er ist ungefähr so alt wie mein Vater, vielleicht etwas jünger. Er hat dunkles Haar und eine hohe Stirn. Eine Zigarette raucht sich selbst im Aschenbecher auf der Fensterbank. Endlich hat er uns bemerkt.
»Sie müssen einen Termin mit meiner Sekretärin vereinbaren. Wir schließen jetzt.«
Mein Vater tritt über die Schwelle und sagt: »Ich möchte, dass Sie nach meinem Jungen sehen.«
Seine Stimme klingt beschwörend.
Der Zahnarzt schaut auf, er ist wohl überrascht, dass wir immer noch dastehen. Er nimmt einen Zug von der Zigarette und drückt sie aus.
»Ich kann nichts für Sie tun, wenn Sie keinen Termin haben.«
»Mein Junge hat Schmerzen.«
»Tut mir leid …«
Wir kommen näher, mein Vater voran, ich dicht hinter ihm.
»Sie sehen doch, dass er Schmerzen hat.«
»Tut mir leid, aber …«
»Ich habe keine Krankenversicherung, und ich kann Sie nicht bezahlen. Aber ich bin sicher, dass Sie uns helfen wollen.«
Er ändert den Ton, fordert freundlich. Der Zahnarzt will etwas sagen, aber mein Vater kommt ihm zuvor. »Sie haben sicher nicht so viele Jahre studiert, nur um Akten zu stempeln und in einem schönen Haus zu wohnen …?«
Der Zahnarzt sieht verwirrt aus, er öffnet den Mund, sagt aber nichts. Mein Vater hebt die Hand, berührt fast den weißen Ärmel des Arztes.
»Sie wollen uns gern helfen.«
Mein Vater könnte jetzt alles sagen, und ich würde ihm glauben.
»Wir brauchen Ihre Hilfe. Ich weiß, dass Sie uns helfen wollen.«
Der Zahnarzt steht regungslos da, lässt die Arme sinken.
»Warum gehen Sie nicht zum Schulzahnarzt? Das ist kostenlos«, sagt er.
»Nein«, sagt mein Vater. »Das können wir nicht.«
Der Mann im Kittel nickt und legt ein paar Metallinstrumente auf das Tablett neben dem Zahnarztstuhl, dann geht er zur Tür und ruft:
»Karina, ich nehme noch rasch einen Patienten.«
Ich sitze im Zahnarztstuhl, bekomme ein Stück weißes Papier um den Hals gehängt.
Die Arzthelferin kommt, sie ist blond, trägt einen dunkelbraunen Mantel über dem Arm und hat müde Augen.
»Im Kalender stehen aber keine weiteren Termine …«
»Nur noch einen letzten Patienten, Sie können ruhig gehen, ich schaff das allein.«
Sie zuckt mit den Schultern und verschwindet. Die Tür knallt hinter ihr zu.
Der Zahnarzt hat einen kleinen Spiegel an einem Metallstiel, den er mir in den Mund steckt. Der Stahl ist kalt. Er nickt wortlos, holt eine Spritze. Mein Vater hält meine Hand, als der Arzt mir ins Zahnfleisch sticht.
»Das Schlimmste ist schon vorbei«, sagt er und bittet meinen Vater, sich die Hände zu waschen. Er fummelt in meinem Mund herum und zeigt auf die verschiedenen Instrumente, die mein Vater ihm reichen soll. Ich rieche die Zigarette an den Händen des Zahnarztes. Dann höre ich den Bohrer, es summt, als hätte ich eine Biene im Mund, aber es tut nicht mehr so weh wie vorhin.
Als der Zahnarzt fertig ist, ist eine Seite meines Mundes ganz taub, ich wische Spucke mit dem Ärmel ab. Wir ziehen unsere Jacken an, da geht mein Vater noch einmal zurück und umarmt den Zahnarzt.