Ich wache allein auf. Weit draußen höre ich die Motorsäge. Ich bleibe im Bett und lese wieder und wieder dasselbe Comicheft. Lerne alle Spinnweben an der Decke kennen, die verlassenen und die, aus denen sich regelmäßig Spinnen abseilen und blitzschnell wieder hinaufkrabbeln. Ich erforsche jeden Riss in der Wand, einer zeigt direkt auf mich. Ich stelle mich auf den Koffer und pinkle aus dem Fenster. Jedes Mal, wenn das Haus knackt, habe ich Angst, dass die alte Dame kommt und mich holt. Dann verkrieche ich mich unter der Decke.
Erst gegen Mittag erscheint mein Vater, wir gehen hinunter und essen zusammen. Ich frage ihn, ob er mich morgen wecken und mit hinausnehmen könne, ich würde schon auf mich aufpassen. Er nickt, und ich bin froh, dass er mich nicht fragt, warum.
Ich bleibe auf der Wiese, bis mein Vater Feierabend macht. Er sagt dem Auto Gute Nacht. »Wir waren gemein zu dir«, sagt er. »Aber du hast es gut gemacht.«
In der Küche warten ein großer Topf Suppe und frisch gebackenes Brot auf uns. Die Teller stehen auf dem Tisch, ein Bier für meinen Vater, eine Limonade für mich.
Nachts lässt der Wind das Haus knirschen und knarren, Holz auf Holz, wie ein Segelschiff im Sturm.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, bin ich wieder allein. Ich durchsuche die Koffer, bis ich sicher bin, dass mein Vater nur ein einziges Comic mitgenommen hat, als er die Wohnung ausräumte. Ich kann es schon auswendig, sehe die Bilder auch mit geschlossenen Augen. Ich sitze auf dem Bett und weine. Sicher lässt mich mein Vater absichtlich allein hier im Zimmer. Er will, dass ich etwas lerne.
Ehe ich michs versehe, habe ich die Hand an der Türklinke, doch ich lasse sie wieder los und flüchte zurück ins Bett. Ich ziehe die Beine an, der Boden ist giftig. So bleibe ich sitzen und wische die Tränen mit dem Ärmel ab. Es wird noch lange dauern, bis mein Vater mich holt. Gestern habe ich allen Geräuschen des Hauses gelauscht, Türen, die auf und zu gehen. Ich bin fast sicher, dass die alte Dame ihr Zimmer erst verlässt, wenn sie Mittagessen für uns macht. Mir bleiben also mehrere Stunden, um die Treppe hinab und in den Garten zu kommen.
Ich öffne die Tür, halte die Schuhe in der Hand. So still ich kann, gehe ich über den Korridor. An der obersten Treppenstufe bleibe ich stehen. Auf dem Korridor war eine Tür einen Spaltbreit geöffnet. Dahinter habe ich etwas gesehen, das wie Haare aussah, aber ich bin mir nicht sicher. Wenn ich nicht herausfinde, was es ist, wird es mich den ganzen Tag verfolgen. Ich schleiche zurück und öffne die Tür. Das Zimmer ist voller Geweihe. Alle vier Wände sind voll bis zur Decke. Keine Möbel, nur Geweihe von Hirschen und Gazellen, von allem, was Hörner hat. Schnell husche ich die Treppe hinab und zur Tür hinaus.
Als mein Vater zwischen den Bäumen hervorkommt, sitze ich im Gras und zeichne. Er lächelt, ich glaube, er ist stolz, mich hier zu finden.
»Ein seltsames Haus ist das hier«, sage ich, während wir Brote mit Leberpastete essen.
»Die meisten Leute sind seltsamer, als sie zugeben.« Er steckt eine saure Gurke in den Mund. »Warum sollen ihre Häuser nicht auch seltsam sein?«
Am nächsten Tag stehe ich wieder vor der Treppe. Ich weiß, dass ich so schnell wie möglich gehen sollte, aber ohne zu rennen. Die Treppe hinunter, zur Tür hinaus. Trotzdem bleibe ich stehen. Gestern habe ich es auch geschafft und habe noch immer beide Arme und Beine.
Ich entscheide mich für die Tür gegenüber. Sie ist zu, aber nicht verschlossen. Ein kleiner Junge blickt mich aus dem halbdunklen Zimmer an. Ich halte die Hand vor den Mund, der Junge tut dasselbe. Ich trete ein, das Zimmer ist voller Spiegel. Vom Boden bis zur Decke, mit Gold- und dunklen Holzrahmen. Ich stelle mich in die Mitte. Ich sehe ein Ohr, eine Nase, ein Schienbein, etwas Haar, die Schuhe in meiner Hand. Ein Junge, der mir ähnlich sieht, zerstückelt und an die Wände gehängt. Auch an der Decke befinden sich Spiegel, der Junge schaut auf mich herab, sehr klein und ziemlich ängstlich. Als ich das Zimmer verlasse, ist mir schwindlig. Auf der Treppe schwöre ich mir, nicht mehr so neugierig zu sein, ich will nichts mehr riskieren.
Früh am Morgen, ich liege unter der Decke und halte die Augen geschlossen. Ich höre, wie mein Vater sich anzieht, dann geht er durch den Korridor und die Treppe hinunter. Die Haustür geht auf und fällt wieder zu. Sofort springe ich aus dem Bett. Ich bin zum Dieb geworden, ein Dieb, der nichts stiehlt. Ich erforsche das Haus auf Strümpfen, jeden Tag ein neues Zimmer. In einem sind lauter ausgestopfte Tiere, Hunde und Katzen, Biber und Eichhörnchen. Sie starren jeden an, der das Zimmer betritt, und fletschen die Zähne. Sie starren mich an, bis ich wieder hinausgehe. In einem anderen Zimmer steht nur ein einziger ausgestopfter Bison mit dem Kopf zur Wand, als würde er sich schämen. Er ist viel größer als die Fenster und Türen, das Gebäude muss um ihn herumgebaut worden sein.
Vom Zimmer der alten Dame halte ich mich fern, aber das restliche Haus erforsche ich gründlich, vom Erdgeschoss bis zum Dachboden. Unter dem Dachbalken führt ein langer Gang zu einer roten Tür. Ich drücke die Klinke herunter, aber sie will nicht aufgehen. Ich rüttle daran, möchte sichergehen, dass sie nicht klemmt.
Nicht alle Zimmer sind so interessant wie das erste, aber es gibt immer etwas zu entdecken, zum Beispiel chinesisches Porzellan, das mit haarfeinen Pinselstrichen bemalt ist. Eine einzige Tasse erzählt von Drachen und Kaisern, von einer großen Schlacht, bei der Hunderte klitzekleine Pfeile durch die Luft fliegen. In einem anderen Zimmer ist eine ganze Wand voller aufgespießter Schmetterlinge – Hunderte, in ebenso vielen Farben.
Am Nachmittag sitze ich im Gras und zeichne das Zimmer, das ich am Morgen erforscht habe. Als ich acht Seiten in meinem Block bemalt habe, fällt mir auf, dass etwas nicht stimmt. Es ist viel rätselhafter als alles, was ich in den Zimmern gefunden habe.
Ich gehe um das Haus herum, zeichne es von allen Seiten. Zwei Etagen, mit breiten Brettern verkleidet. Ich zeichne jedes einzelne Fenster ein, versuche, ganz genau zu sein. Mehrmals muss ich radieren und von vorn beginnen. Erst als ich fertig bin, bestätigt sich mein Gefühl. Die Außenansicht stimmt nicht mit der Aufteilung der Zimmer überein.
Am nächsten Morgen mache ich mir Notizen, während ich von Zimmer zu Zimmer gehe. Ich klopfe gegen die Bretter. Wo eigentlich Türen sein müssten, sind nur Wände, an denen Bilder von Braunbären mit Fischen im Mund hängen.
Schließlich stehe ich wieder im Dachgeschoss vor der verschlossenen Tür. Dort drinnen muss des Rätsels Lösung liegen.
In der Nacht träume ich von der Tür. Sie geht von selbst auf, ein Lichtstrahl blendet mich. Ich trete über die Schwelle, dann wache ich auf.
Sobald mein Vater aufgestanden und in den Garten gegangen ist, begebe ich mich auf die Suche nach dem Schlüssel.
Heute ist mir die riesige Sammlung geschnitzter Tiermasken egal, auch die arabischen Krummsäbel und die Schrumpfköpfe kümmern mich nicht, ich will nur den Schlüssel finden. Die alte Dame ist so klein, wenn sie ihn bei sich hätte, würde man es sehen, er würde ihr Kleid ausbeulen wie ein hervorstehender Knochen.