Die Insel ist dunkel. Vom Fährendeck aus kann ich nur schwer erkennen, wie groß sie ist. Auf der Karte sieht sie aus wie ein Vogelfelsen, der einen Namen bekommen hat.

Nur ein Auto ist an Bord. Der Motor knattert, der Fahrer gibt Gas und fährt an Land.

Ich gehe über die gepflasterte Straße. Vorbei an einem geschlossenen Imbiss, einer kleinen Bretterbude, an der verblichene Bilder von Hotdogs, Hamburgern und Pommes hängen.

Eine ältere Frau in einem grünen Wollmantel steht neben einem alten Opel.

Als ich sie erreiche, umarmt sie mich kurz und bedeutet mit einer Geste, dass ich einsteigen soll.

»Ich freue mich, dass du gekommen bist«, sagt sie und startet den Motor. Wir fahren durch eine schmale Straße mit niedrigen Häusern. Die meisten Fenster sind dunkel, durch manche dringt das flackernde Licht von Fernsehapparaten.

Wir fahren an einer Kneipe vorbei, meine Großmutter schaut kurz in die Richtung.

»Da darfst du nicht hingehen«, sagt sie. »Auch wenn du große Lust dazu hast.«

Dann verlassen wir das Dorf. Die Straße ist von dichtem Buschwerk und niedrigen Bäumen gesäumt.

Als wir an der Kirche vorbeikommen, bremst sie ab.

»Sie werden nie einen anderen Pastor finden«, sagt sie. »Die Kirche verfällt.«

Der Pfarrhof ist das größte Gebäude, das ich bis jetzt auf der Insel gesehen habe. Meine Großmutter parkt auf dem Hofplatz, steigt aus und schließt die Tür auf. Sie macht das Licht auf dem Korridor an, und wir gehen an vielen verschlossenen Türen vorbei.

»Es ist zu teuer, das ganze Haus zu heizen«, sagt sie. »Zieh den Kopf ein.« Wir gehen drei Stufen zur Küche hinab. Sie ist groß und zweckmäßig eingerichtet. Eine Köchin könnte hier ohne Weiteres eine Großfamilie versorgen.

Der Tisch ist mit einem rot-weiß karierten Wachstuch gedeckt. Meine Großmutter schaufelt gelbe Erbsen auf meinen Teller.

»Leider kein Festessen«, sagt sie und legt zwei Scheiben Schweinefleisch auf den Tellerrand. »Aber du bist weit gereist, du brauchst etwas Ordentliches.«

Sie schaut mir beim Essen zu. Das Haus ist kalt und still.

»Ich habe dich zwei Mal gesehen. Das erste Mal gleich nach deiner Geburt«, sagt sie. »Und das zweite Mal auf einem Bahnsteig. Dein Vater rief mich an, damit ich mich verabschieden konnte. Ich hatte dir ein Eis gekauft, und ehe du es halb gegessen hattest, fuhr euer Zug ab. Daran kannst du dich nicht erinnern.«

Als mein Teller leer ist, führt meine Großmutter mich an weiteren verschlossenen Türen vorbei in ein Zimmer im ersten Stock.

»Die Toilette ist am Ende des Flurs. Hier auf der Insel beginnt der Tag früh, am besten, du gehst jetzt schlafen.«

Ich höre sie die Treppe hinuntergehen. Langsam, Stufe für Stufe.

Das Badezimmer ist eiskalt. Auf dem Fensterbrett liegen vier tote Fliegen. Ich drehe den Wasserhahn auf, er spuckt ein paar Mal, bevor das Wasser läuft, zuerst rostrot, dann allmählich klar. Ich wasche mich, putze die Zähne und gehe zurück in mein Zimmer. Es ist nicht groß. Draußen ist es so dunkel, dass die Fenster ebenso gut schwarz angemalt sein könnten.

Ich setze mich auf das Bett, die Matratze ist hart und knirscht. An der Wand hängt ein hölzernes Kruzifix, und über dem Schreibtisch Zeichnungen eines Fahrrads. In der Ecke liegt ein Lederfußball. Mit einem Mal wird mir klar, dass dies das Zimmer meines Vaters gewesen sein muss. Nichts wurde verändert in dem großen Haus, wo seit ihm und seiner Schwester keine Kinder mehr gewohnt haben. Ich öffne die Schreibtischschublade und finde alte Kladden mit Gleichungen, Dänischaufgaben und mehr Zeichnungen. Das Motiv ist immer gleich, ein Rennrad, dasselbe wie an der Wand. Es ist nicht in Bewegung, sondern so genau wie möglich gezeichnet. Auf jeder Seite werden die Reifen runder und die Proportionen getreuer. Als ich die Schublade wieder schließen will, spüre ich einen Widerstand. Ich ziehe sie ganz heraus und entdecke einen vergilbten Versandhauskatalog. Die letzten Seiten sind aufgeblättert und zeigen Frauen in Satinunterwäsche, die von der Hüfte bis zu den Oberschenkeln reicht. Hüfthalter und BHs, die alles an Ort und Stelle halten. Die Fotomodelle lächeln freundlich, aber nicht verführerisch, sie schauen den Betrachter nicht direkt an. Ich lege den Katalog zurück unter die Schublade und gehe zum Kleiderschrank. Er ist alt und massiv, das Edelholz ist wurmstichig. Die Türen klemmen, gehen aber schließlich knarrend auf. Der Schrank ist leer, mein Vater muss seine Sachen mitgenommen haben. Hier auf der Insel gab es kein Gymnasium. Am Boden des Schranks liegt ein vergessener Pullover. Ich hebe ihn auf, betaste die Wolle. Er riecht tranig, ein bisschen wie Hammelfleisch.

Ich kicke die Schuhe von den Füßen, mache das Licht aus und lege mich ins Bett. Noch immer umklammere ich den Pullover, vergrabe den Kopf in der groben Wolle. Jetzt rieche ich auch Schweiß und Tabak, der Geruch meines Vaters, als er so alt wie ich war. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich zum letzten Mal geweint habe.

Wie keiner sonst / ebook
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