Mein Vater zieht mir die Mütze über die Ohren. Es ist ein kalter Herbsttag, und er pfeift, als wir die Straße entlanggehen. Ich weiß, dass er den Frühling und den Herbst liebt, Anfänge und Enden, wie er sagt. Alles andere liegt nur dazwischen.
Mein Vater hält mir die schwere Tür auf, und ich folge ihm durch eine dunkel getäfelte Halle und eine Treppe hinauf. Junge Menschen mit Büchern unter den Armen kommen uns entgegen, wir gehen weiter bis zu einer anderen Tür. Dahinter höre ich viele Stimmen, die laut durcheinanderreden. Mein Vater nimmt mir die Mütze ab und glättet meine Haare. Er legt die Hand auf die Türklinke, zögert einen Augenblick und öffnet die Tür zu einem Saal voller Menschen. Wir sind die Einzigen, die keine Festkleidung tragen.
Ich halte mich fest an seiner Hand, habe Angst, in der Masse zu verschwinden. Er führt mich zwischen Menschen hindurch, die Wein aus hohen Gläsern trinken, laut reden und laut lachen. Ständig stoße ich gegen jemanden.
Dann stehen wir vor dem Büfett, und mein Vater lässt meine Hand los.
»Iss dich satt«, sagt er. »Ich komme gleich wieder.«
Er verschwindet hinter Hosenbeinen und Rücken.
Auf großen Silbertabletts liegt das Essen, alles ist mit Zahnstochern aufgespießt.
Zaghaft nehme ich ein Stück, bin ganz sicher, dass einer »He, was zum Teufel machst du da?« schreien wird. Aber keiner achtet auf mich, alles unter Brusthöhe ist unsichtbar für sie. Ich fange an einem Ende an. Das meiste schmeckt scheußlich, und ich werfe die Stücke unter den Tisch, wo mein Hund sitzt. Wenn die Leute nicht so laut reden würden, könnte man ihn schmatzen hören.
Den stinkenden Käse lasse ich stehen, aber ich esse viele Trauben. Schließlich lande ich an dem Tablett mit Eiersalat auf winzigen Toastbrotstücken. Ich beginne am Rand und fresse mich langsam zur Mitte des Tabletts durch.
»Du bist groß geworden«, sagt plötzlich eine Stimme dicht an meinem Ohr, und mein Magen verkrampft. Ich drehe mich um und schaue in zwei dunkelbraune Augen, eine Frau ist neben mir in die Hocke gegangen.
»Wenn du den ganzen Eiersalat aufgegessen hast, sollten wir deinen Vater suchen, finde ich.« Sie nimmt meine Hand, und ich gehe mit ihr.
»Unser alter Professor wird heute verabschiedet, aber das hat dir dein Vater sicher erzählt«, sagt die Frau über die Schulter. Sie führt mich durch das Labyrinth aus Beinen und Rücken.
Mein Vater steht zwischen zwei anderen Männern, der eine hat weiße Haare und einen Bart bis zum Schlipsknoten, ich bin fast sicher, dass es der Professor ist.
»Oh, du hast Nana getroffen«, sagt mein Vater und lächelt.
Der Professor gibt mir die Hand, sie fühlt sich an wie Backpapier.
»Als ich dich zuletzt gesehen habe, warst du nicht viel größer als ein halber Liter Milch«, sagt er und redet weiter mit meinem Vater. Die Frau, die Nana heißt, will Wein holen, sie fragt, ob ich eine Limonade möge, ich nicke.
Der Professor und mein Vater benutzen Wörter, die ich nie gehört habe, aber es ist klar, dass er ihn nicht bittet, eine Heizung zu reparieren oder einen Zaun zu streichen. Mein Vater ist froh, wirklich froh, also bin ich es auch. Selbst in seiner Jeansjacke passt er besser hierher als irgendwohin anders. Als Nana zurückkommt, hat sie weder Wein noch Limonade dabei. Sie lehnt sich zu meinem Vater, als wolle sie ihm in den Nacken pusten. Ich höre nur ein einziges Wort, das aus hundert anderen hervorsticht, die gleichzeitig durch die Luft schwirren: Polizei. Sie lächelt nicht mehr. Mein Vater leert sein Glas und stellt es ab. »Kommt mit«, sagt der Professor. »Schnell.«
Ich kann meinen Vater nicht mehr sehen, nur den Arm, der mich davonzieht. Ich stoße gegen Menschen, sie drehen sich um, aber wir sind schon weiter. Nana hält uns die Tür auf, sie schickt meinem Vater einen Fingerkuss hinterher.
Wir folgen dem Professor durch einen langen Gang, die Nachmittagssonne scheint durch die Fenster, und ich sehe jedes Staubkorn in der Luft.
Der Professor ist schlecht zu Fuß und außer Atem.
»Was ist nur geschehen?«, stöhnt er. »Die Leute lästern lieber, anstatt zu forschen. Wie ein Kaffeeklatsch. Ich weiß wirklich nicht, was geschehen ist, und ich will es auch nicht wissen.«
Der Lärm der Veranstaltung verschwindet hinter uns. Der Professor öffnet eine Tür, und wir gehen in ein kleines Büro. An allen Wänden stehen Regale, unter einem hohen Fenster steht ein alter Schreibtisch, über und über von Papierstapeln und Büchern bedeckt. Der Professor zieht den Bürostuhl hervor, er ist aus braunem Leder und völlig zerschlissen. Er klopft auf die Lehne.
»Hier solltest du sitzen«, sagt er. »Hier solltest du jetzt sitzen.«
Mein Vater antwortet nicht, und der Professor wühlt auf dem Schreibtisch herum. Er verschiebt Bücher und stellt sie auf den Stuhl. Ein Schlüsselbund kommt zum Vorschein, der Professor gibt ihn meinem Vater.
»Von heute an brauche ich ihn nicht mehr.«
Wir folgen dem Professor aus dem Büro heraus und durch lange Gänge. Dann bleibt er stehen, stützt sich an die Wand und ringt nach Luft.
»Ich kann nicht mehr. Du kennst ja den Weg.«
Mein Vater umarmt ihn. Der Professor hat feuchte Augen und küsst ihn auf die Wange.
Dann werde ich wieder davongezogen. Ich stolpere und falle fast hin, meine Schnürsenkel schleifen lose über den Boden.
Auf der nächsten Treppe hebt mein Vater mich hoch und schultert mich wie einen Sack.
Wir gehen durch ein kleines Zimmer voller Bücher und Staub, dann durch einen großen Raum mit einer Tafel und vielen Bänken, durch eine Besenkammer und eine gekachelte Küche mit Stahlwaschbecken. Mein Vater benutzt einen Schlüssel nach dem anderen, bis wir auf einen Hinterhof kommen.
Mein Vater schaut zu den kleinen Fenstern hinauf, die wie Augen aussehen. Dann zieht er mir die Mütze über die Ohren, und wir gehen zum Tor hinaus. Wir gehen so schnell wie möglich, ohne zu laufen, mein Vater schaut über die Schulter. »Vor den Weißen Männern muss man immer auf der Hut sein«, sagt er.
Als ich am selben Abend im Bett liege, frage ich meinen Vater, wie man die Weißen Männer erkenne.
Er hat mir oft von ihnen erzählt, ich weiß, dass es die Gehilfen der Königin sind, und dass sie immer den König und den Prinzen fangen wollen.
»Das ist schwierig«, sagt er. »Man muss auf die kleinen Dinge achten. Zum Beispiel auf ihren Blick. Meistens sehen sie wie ganz normale Menschen aus. Nur manchmal verwandeln sie sich. Nur wenn sie glauben, dass sie mit ihrem Opfer allein sind. Dann bekommen sie Adler-, Löwen- oder Wolfsköpfe. Dann beißen und kratzen sie.« Ich frage meinen Vater, ob die Weißen Männer böse seien, bin fast sicher, was er antworten wird. Aber er schüttelt den Kopf. »Sie tun nur, was die Weiße Königin ihnen befiehlt. Sie können nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden.«
In dieser Nacht liege ich wach, denke an die Weißen Männer und hoffe, dass ich sie erkennen werde.