Der Aszendent
Der Aszendent ist
rein technisch gesehen der östliche Punkt des Horoskops, genauer
gesagt, das im Moment der Geburt im Osten aufsteigende
Tierkreiszeichen. Das Thema ist hier die Grundorientierung in der
Welt (Orient bedeutet ja auch Osten), und in der Literatur taucht
für den Aszendenten manchmal das Wort »Fenster zur Welt« auf. Der
Aszendent kann verstanden werden als ein Fenster zur Welt, durch
das man die Welt sieht und durch das man gesehen wird, als die Art
und Weise, wie man sich in Szene setzt, wie man die Lebensbühne
betritt. Oskar Adler hat in diesem Zusammenhang den Begriff der
Persona verwendet: die Maske, die man für die Außenwelt
trägt.
Mein Vater sprach in
diesem Zusammenhang von »Lebensgrundgefühl«. Woher kommt dieses
Lebensgrundgefühl? Ich möchte dazu einen Gedanken von Oskar Adler
aufgreifen, nach dem der Aszendent, der Ostpunkt, grundsätzlich mit
dem Thema der Geburt zu tun hat. Jeden Morgen, wenn die Sonne über
den Aszendenten, über den Osthorizont, aufsteigt, wird der Tag neu
geboren und wir mit ihm. Wenn wir nun morgens in den neuen Tag
hineingeboren werden, wird die Grundstimmung, mit der wir auf
diesen Tag zugehen, abhängig sein von den Träumen der letzten
Nacht. Auf den Tierkreis übertragen, kann man sagen: Wachst du aus
einem Steinbock-Traum auf, hast du vielleicht eine mühsame
Bergwanderung hinter dir oder im sibirischen Steinbruch geschuftet,
dann wirst du den Tag mit dem Grundgefühl angehen: Leben ist
mühsam, Leben ist hart. Hast du gerade einen Löwe-Traum hinter dir,
dann warst du vielleicht in einer südlichen Landschaft und hast mit
Alexis Sorbas zusammen ein Fest gefeiert oder dich als Herrscher
oder Herrscherin auf einem Thron erlebt oder als Hauptdarsteller
auf einer Bühne. Wenn du aus diesem Traum aufwachst und den neuen
Tag beginnst, dann wird das Lebensgrundgefühl natürlich ein anderes
sein: Ich bin wichtig, das Leben hat mit Licht und Sonne zu tun –
das ist das Gefühl beim Erwachen aus einem Löwe-Traum.
Oskar Adler bezieht
diese Gedanken auf frühere Inkarnationen. Für ihn ist der Aszendent
von der Grundstimmung der früheren Inkarnation geprägt. Er sagt,
wer im früheren Leben zum Beispiel ein Steinbock-Leben führte, etwa
als Mönch in einem Zen-Kloster im Himalaja gelebt hat oder als
einsamer Bergbauer hoch in den Bergen oder auch in einem
sibirischen Steinbruch schuften musste, der wird aufgrund dieser
»Erinnerung« mit der Grundhaltung in dieses Leben hineingeboren:
Das Leben ist ein Härtetest, man muss streng, hart und
entsagungsfähig sein, um überleben zu können. Das Leben als
Arbeitsplatz. Diese Ernsthaftigkeit strahlt er dann auch aus. Wer
dagegen Löwe-Aszendent hat, das heißt, wessen letzte Inkarnation
von Löwe-Motiven dominiert war, dessen Lebensgrundgefühl wird
selbstbewusst, kraftvoll, sonnig sein, und darauf wird er ein
anderes Echo bekommen als jemand, der das Leben mit der
Steinbock-Grundstimmung angeht.
Ich habe oft erlebt,
dass Menschen mit Löwe-Aszendenten sich beklagen, dass ihnen keiner
glaubt, wenn sie Hilfe brauchen oder es ihnen schlecht geht. Die
Antwort der Umgebung lautet meistens: »Du hast doch so viel Power,
so viel Selbstbewusstsein, du schaffst das schon.« Nun können diese
Menschen hinter der Persona des Löwe-Aszendenten einen
hochsensiblen Mond, sprich ein hochsensibles inneres Kind haben
oder auch, aufgrund ihrer Sonne, einen sehr selbstzweiflerischen
König; sie teilen sich jedoch mit dem Vehikel des Aszendenten mit,
sodass die Hilferufe sozusagen Löwen-mäßig geäußert werden und
nicht glaubhaft klingen, weil sie so selbstbewusst formuliert sind.
In solchen Fällen ist es oft schwer, sich verständlich zu machen,
und es erfordert sehr viel Arbeit, herauszufinden, wie man auf
andere wirkt, und diese Wirkung gegebenenfalls zu korrigieren.
Oskar Adler betont, wie wichtig es ist, sich über die Maske des
Aszendenten hinwegzusetzen und auch das zu vermitteln, was
dahintersteckt, etwa das Königs-oder Sonnenanliegen. Das ist
natürlich leichter, wenn Aszendent und Sonne in verwandten
Tierkreiszeichen stehen, zum Beispiel im Zeichen desselben
Elements.
Abschließend will ich
noch einmal betonen: Es gibt kein gutes und kein schlechtes
Horoskop, keine Planeten-Bösewichter oder -Glücksbringer, wie man
früher meinte. Jeder Planet und jedes Tierkreiszeichen hat seine
lichte und seine Schattenseite. Entscheidend ist das Bewusstsein
über die vorhandenen Potenziale. Das individuelle Horoskop zeigt
jedem Menschen einen einzigartigen Lebensweg auf.