Verwurzelung
Bei Widder ging es um
die Geburt des neuen Jahres, um den Sieg des Lichten über die
Finsternis. Im zweiten Frühlingsmonat, dem Stier-Monat, wollen die
jungen, noch ganz unsicheren, verletzlichen Pflänzchen Wurzeln
bilden (dieses Bild stammt von Goswami Kriyananda, einem indischen
Astrologen). Das Bedürfnis nach Sicherheit, das man dem
Stier-Prinzip grundsätzlich zuschreibt, lässt sich aus der
Bedrohtheit und Unsicherheit der noch ganz jungen
Frühlingspflänzchen verstehen, ebenso wie das Bedürfnis, sich tief
in der Mutter Erde zu verwurzeln.
Im Stier-Monat zeigt
Mutter Erde am deutlichsten ihren Schlaraffenland-Aspekt,
präsentiert sich üppig, nährend, sinnlich, großzügig. Wir
bezeichnen diese Zeit ja auch als den Wonnemonat Mai, eine Zeit, in
der die Natur alles andere als geizig ist im Vergleich etwa zur
Winterzeit des Steinbocks. In diesem Zusammenhang ist auch das
Motiv des Reichtums, das dem Stier oft zugeordnet wird, zu
verstehen. Astrologische Bücher betonen gern, dass hier Geld und
Besitz eine große Rolle spielen. Das entspräche allerdings eher den
ersten beiden Königssöhnen in unserem Märchen. Dass Reichtum auch
anders definiert werden kann, zeigt Königssohn Nummer drei.
Königssohn Nummer eins versteht etwas vom Haben, nichts vom Sein –
wie der arme Dagobert Duck, der reichste Mann der Welt, der sich
selbst nichts gönnen kann und immer auf der Hut sein muss vor den
Panzerknackern. Auch Karl Marx war Stier, sein Hauptwerk heißt
stimmigerweise Das Kapital. Seine
Feststellung »Das Sein bestimmt das Bewusstsein« entspricht der
Weltsicht des Erdmenschen: Die materiellen Bedingungen, unter denen
du lebst, bestimmen dein Denken und Fühlen.
»Hast du was, bist du
was« ist auch die Devise von Königssohn Nummer zwei, und dafür gibt
es ausgezeichnete Argumente. Aber – auch er ist nicht König
geworden! Königssohn Nummer drei ist der reife Stier, er versteht
als Einziger etwas von Lebendigkeit. Und er kann loslassen, die
Samen in die Erde geben. Er weiß, dass Blumen eine Zeit zum Blühen,
eine Zeit zum Welken haben, insofern versteht er auch den Gegenpol
von Stier, Skorpion.
Spätestens ab der
Lebensmitte ist es die große geistig-seelische Herausforderung für
Stier, sich mit dem Thema Vergänglichkeit auseinanderzusetzen. In
dieser Zeit wird der Tod geboren, sagt C. G. Jung, und insofern ist
der Sicherheitsgedanke einem Wandlungsprozess unterworfen.
Spätestens jetzt – ob wir es verdrängen oder nicht – müssen wir
lernen, dass das Leben »todsicher« ist. Wenn man dieses Wort, das
aus »tod« und »sicher« besteht, genauer betrachtet, dann bildet es
unter dem astrologischen Aspekt die Achse Stier/Skorpion
nach.