Die zwölf Brocken

In der Märchenwelt finden wir als Saturn-oder Steinbock-Entsprechung den Großvater, die Großmutter, den alten Weisen und die alte weise Frau. In dem Märchen Die zwölf Brocken gibt es eine sehr naturverbundene Frau, die jeden Tag aus einer Gebirgsquelle zwölf Kürbisflaschen voll Wasser holt. Für die bekommt sie zwölf Brocken Brot und kann davon sich und ihre kleine Tochter ernähren. Eines Tages kommt der Zar dort vorbei, dessen Frau gestorben ist. Als er die wunderschöne, tüchtige Erdfrau sieht, denkt er an seinen armen kleinen Sohn und fragt sie: »Ich bin der Zar und brauche eine Frau im Haus. Willst du meine Frau werden?« Das Interessante an dieser Begegnung ist die Motivation: Der Zar denkt sich nämlich, die Frau wäre doch passend als Mutter für meinen kleinen Sohn und für den Haushalt. Das heißt, er ist nicht an ihrem Wesen interessiert. Er stellt nicht die Frage »Wer bist du?«, sondern »Wie kannst du mir nützlich sein?«. Deshalb ist es kein Wunder, dass diese einfache Frau am Zarenhof auf einmal böse wird. Sie wird neidisch und gierig, will alles ihrem eigenen Töchterchen geben und den Sohn des Zaren verderben. Sie schafft es tatsächlich, durch eine Intrige den Zaren gegen seinen Sohn einzunehmen. Der Sohn wird verstoßen und muss als Bettler durch die Lande ziehen. Auf seiner einsamen Wanderung kommt er an einer Berghöhle vorbei, wo er jemanden laut weinen und klagen hört. Er geht hinein und sieht einen alten Eremiten, der krank und durstig ist, also sucht er eine Quelle und bringt ihm Wasser in der hohlen Hand. Der Eremit freut sich und sagt: »Ich brauche dein Wasser gar nicht, ich war nur deshalb traurig, weil es auf der Welt so viel Bosheit und Elend gibt. Aber du zeigst mir, dass es noch mitfühlende Menschen gibt. Was kann ich für dich tun?« Der Zarensohn erzählt von seinem Kummer, und der Eremit schenkt ihm eine Zauberflöte. Wenn er sie spielt, fängt sein Herz an zu tanzen und alles Lebendige um ihn herum ebenfalls. Mit Hilfe dieser Flöte besiegt er am Ende auch den Drachen, der das Zarenreich bedroht. Alle seine Pfeile, seine Speere, seine aggressiven Waffen versagen, aber als er die Flöte spielt, fängt der riesige Drache an zu zittern und zu schrumpfen, bis er nur noch eine kleine Luftblase ist. Der Königssohn zertritt sie, und der Spuk ist vorbei.
Das ist für mich eines der schönsten Beispiele, wie man mit negativen Energien umgehen kann: Wenn einem jemand wie dieser Drache begegnet und es auf einen abgesehen hat, wäre der normale Impuls: »Das kriegst du zurück, dir zeig ich’s.« Wenn man dann seine Pfeile und Speere auf den Drachen abschießt, wird er lachen und immer mächtiger werden, denn wenn Gift mit Gift erwidert wird, nimmt es zu, und die Negativität, die Feindseligkeit wird immer größer. Hier wird gezeigt, dass man solche Probleme lösen kann, indem man aus dem System aussteigt, indem man dem Drachen mit der Flöte begegnet. Wer von Menschen umgeben ist, von denen er sich malträtiert fühlt, die giftig zu ihm sind, kann ihnen mit der Haltung dieses Helden entgegentreten. Wenn man in solchen Momenten die Flöte spielt, verpuffen die schlechten Energien, aber eine solche Haltung muss von innen heraus kommen. Wer seine Fähigkeit, sich zu freuen, zu tanzen und das Leben zu feiern, entwickelt hat, wem sie in Fleisch und Blut übergegangen ist, der kann die äußeren Drachen entmachten. Wer hingegen ins System einsteigt, wer Gift mit Gift beantwortet, wird selbst zum Drachen.
Am Ende der Geschichte wird aufgedeckt, was die Königin dem Königssohn angetan hat, und der König rächt sich an ihr, indem er sie in ihre Bergwelt zurückschickt. Dort ist sie noch heute und schöpft jeden Tag das Wasser aus der Quelle, verdient ihre Brotbrocken, und alles ist wieder wie am Anfang.
Interessanterweise wird in meinen Gruppen bei diesem Märchen das Zurückgeschicktwerden in die Berge so gut wie nie als wirkliche Strafe empfunden. Diese Frau ist einfach zu ihrer Quelle zurückgekommen, in die naturnahe Einfachheit und reiche Bescheidenheit, die am Anfang so schön dargestellt war. Böse ist sie erst am Zarenhof geworden, in der Schlosswelt, der patriarchalen Welt, einer Welt, deren Reichtum und Luxus Gier und Neid auslösen. Zur Quelle in den Bergen zurückzukehren, das ist ein wunderbares Bild für Steinbock-Weisheit, speziell auch für Steinbock-Weiblichkeit. Der weinende Eremit hingegen könnte für die innere Stimme stehen. Ich erinnere an den getreuen Johannes im Schütze-Kapitel. Im Unterschied zu diesem verkörpert der Eremit saturnische Weisheit, im Leben erworbene Weisheit. In uns allen taucht immer wieder ein weinender Eremit auf, dem wir das Lebenswasser bringen sollen, das heißt: auf den alten Weisen, die alte weise Frau in uns, die innere Führung, hören, die sich uns in Gestalt dieser positiven Saturn-Vertreter zeigt.
Steinbock-Motive im Märchen haben oft mit dem Dienen oder dem Erfüllen von Aufgaben zu tun, zum Beispiel wenn man sieben Jahre lang beim Teufel die Hölle putzen muss und dafür mit Gold belohnt wird. Die Bereitschaft, solche anstrengenden Dienste auch über längere Zeit auszuführen, kennzeichnet den Steinbock-Weg.
Der tiefe Brunnen: Astrologie und Märchen
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