Gottesbilder
Ein tragisches
Märchenmotiv ist die fehlende Königin oder Mutter am Anfang vieler
Geschichten. Das hat auch einen kollektiven Aspekt; alle Märchen
lassen sich individuell und kollektiv lesen. Auch Aschenputtel zum Beispiel beginnt damit, dass die
gute Mutter gestorben ist; Hildegunde Wöller schreibt zu diesem
Thema, dass hier nicht irgendeine Mutter gestorben ist, sondern
die Mutter, die große Göttin, die im
Patriarchat vertrieben wurde. Das erklärt auch, weshalb es so viele
Märchen gibt, in denen am Anfang ein König ohne Königin ist, wo
also das patriarchale Sonnenhafte und das matriarchale Mondhafte
nicht gleichwertig vertreten sind. Die meisten Menschen wissen, wo
ihre Sonne steht, das ist »ihr Tierkreiszeichen«. Sie kennen
vielleicht noch ihren Aszendenten, aber nur wenige wissen, wo ihr
Mond steht. Dabei sind doch Sonne und Mond als Tages-und
Nachtgestirn absolut gleichwertig.
In unseren Religionen
und Gottesbildern jedoch gibt es ein jahrtausendealtes
Ungleichgewicht. Wir beten, wie schon gesagt, nicht zu
Mutter-Tochter-Heiliger Geist, sondern zu Vater-Sohn-Heiliger
Geist, unser Gebet heißt »Vaterunser« und nicht »Mutterunser«. Wir
haben keine ebenbürtige weibliche Gefährtin für Christus. Die
zeitgemäße Theologie fordert zwar um der Gleichwertigkeit willen,
Christus eine Sophia, eine Weisheitsgöttin, an die Seite zu
stellen, aber von dieser revolutionären Veränderung sind wir wohl
noch weit entfernt. Dieses Ungleichgewicht von Sonnen-und Mondwelt
ist die große Tragödie der letzten Jahrtausende, mit deren Folgen
wir heute zurechtkommen müssen. Dabei geht es nicht darum, ein
neues Matriarchat zu errichten, aber die zentrale Aufgabe unseres
Zeitalters ist es sicherlich, eine neue Gleichwertigkeit des
Männlichen und des Weiblichen auf allen Ebenen herzustellen. Das
gilt für Mann/Frau-Beziehungen genauso wie für Gottesbilder, für
die sichtbare und unsichtbare, bewusste und unbewusste, obere und
untere Welt. Krebs-betonte Menschen können sehr viel zur
Rehabilitierung des Archetyps des großen Mütterlichen
beitragen.