Das wissen die Götter
Kehren wir wieder in
die Welt der Märchen zurück. Schneewittchen ist schon wegen der Thematik »Wer
ist die Schönste im ganzen Land?« ein Waage-Märchen. Es wirft auch
die für Frauen wichtigen Fragen auf: »Durftest du als Tochter
schön, erotisch, anziehend sein?« oder auch »Durftest du schöner
sein als die Mutter?« oder »War die Mutter eifersüchtig auf dich?«
Das schönste Märchen, das ich zu diesem Thema kenne, kommt jedoch
aus China, einem Land, das traditionell dem Waage-Prinzip
zugeordnet wird. Es heißt Das wissen die
Götter, und ich möchte einige wesentliche Szenen aus diesem
Märchen kurz erzählen.
Am Anfang gibt es
einen Tempel, in dem wird ein heiliges Pferd verehrt. Vor dem
Tempel steht ein armes kleines Mädchen, und als das Pferd klagt,
dass die Wärter ihm sein Bohnenbrot gestohlen hätten, sagt es:
»Nimm mein Brot, vielleicht hilft es dir.« Das Pferd nimmt das
Brot, ohne sich zu bedanken, und fragt ganz nebenbei: »Wer bist
du?« Da sagt die Kleine: »Ich weiß es nicht.« Das Pferd fragt:
»Woher kommst du?« »Ich glaub, ich fiel vom Mond.« »Und wer passt
auf dich auf?« »Ich selber.« Es entsteht ein wunderschöner Dialog
zwischen dem Pferd, das das männliche Element verkörpert, und dem
Mädchen, das für das Weibliche steht. Im Lauf des Gesprächs merken
die beiden, dass sie im Grunde sehr unglücklich sind, denn das
Mädchen ist arm und allein, und das Pferd wird zwar bewundert und
hoch angesehen, aber es fühlt sich gefangen in dem Tempel. Das
Pferd schlägt vor, die Plätze zu tauschen, doch das Mädchen sagt:
»Das geht nicht, sie werden mich töten, wenn ich auf einmal an
deiner Stelle im Tempel bin.« Da erwidert das Pferd: »Nein, du
musst nur auf alle Fragen antworten: ›Das wissen die Götter‹, und
dich weise umschauen. Der Rest wird sich fügen.«
Und tatsächlich kommt
das Mädchen um Mitternacht und tauscht mit dem Pferd die Plätze.
Das Pferd entschwindet in die Freiheit, in die Wildnis, und sagt
zum Abschied noch: »Vergiss nicht, dass du einen guten Freund hast,
der immer an dich denkt.« Am nächsten Tag wacht das Mädchen in dem
Tempel auf, inmitten einer Menschenmenge, die sie erstaunt fragt:
»Wie kommst du hierher?« Sie erwidert nur: »Das wissen die Götter.«
Als sie das drei-oder viermal geantwortet hat, fallen die Leute auf
die Knie und sagen: »Sie ist eine Göttin, sie weiß alles.« Sie
bringen ihr Geschenke und huldigen ihr und bauen ihr einen noch
größeren Tempel, und sie wird unermesslich reich, aber je älter sie
wird, desto unglücklicher und einsamer fühlt sie sich. Das Pferd,
der einzige Freund, den sie hatte, bleibt verschwunden, und sie hat
große Sehnsucht nach ihm. Eines Nachts kommt das Pferd tatsächlich
zurück, es ist jetzt ein altes, müdes Pferd, das den Kopf hängen
lässt, und es sagt zu ihr: »Ich bitte um eine Stallecke, in der ich
sterben kann.« Das Mädchen fragt: »Ja, warst du denn nicht
glücklich mit deiner Freiheit?« Und das Pferd antwortet: »Nein.
Freiheit ist nichts ohne Freundschaft.« Dann fragt das Pferd: »Bist
denn du nicht glücklich mit deinem Reichtum?« Und das Mädchen sagt:
»Nein. Auch Reichtum ist nichts ohne Freundschaft.« Dann schlingt
sie ihre Arme um den Hals des Pferdes, und sie weinen gemeinsam,
und in diesem Moment verwandelt sich das alte Pferd in einen
schönen Prinzen, der sagt: »Nichts ist schön ohne Liebe und
Freundschaft.« Da sagt das Mädchen: »Das wissen die Götter«, und
sie verlassen zusammen den Tempel.
Dieses Märchen enthält
neben den wunderschönen Begegnungsmotiven eine Vision. Dieser
letzte Satz, der da lautet: Sie verließen zusammen den Tempel,
erinnert mich an die Zauberflöte, eine
Oper, die mein alter, weiser Freund Helmut Remmler – der auch Waage
war – in Vorträgen und Büchern immer wieder interpretiert hat. Für
ihn war sehr bedeutsam, dass es in der Schlussszene, als Tamino und
Pamina gemeinsam den Prüfungsweg gehen, heißt: Die Götter selbst
beschützen sie. In seinen Augen bedeutet das, dass im neuen
Zeitalter jeder Mensch seine individuelle Anbindung an das
Göttliche finden muss, ohne Mittler, ohne eine Priesterkaste, wie
sie in der Zauberflöte durch Sarastro verkörpert wird. Das ist in
dem schönen Märchen Das wissen die
Götter in der Schlussszene durch das Verlassen des Tempels
ausgedrückt.
Erst steht das
Männliche im Tempel, das ist das Patriarchat, dann das Weibliche,
aber auch das ist keine Lösung. Diese Geschichte zeigt, wie
Einseitigkeiten im Laufe einer Entwicklung korrigiert werden
können, um irgendwann die Gegensätze zu versöhnen. Sehr vereinfacht
gesagt: Wenn du wie dieses heilige Pferd lange Zeit eingesperrt
warst, dich gefangen gefühlt hast – und das Gefängnis kann durchaus
auch so ein nobles Tempelgefängnis sein, in dem du eine wichtige
Rolle spielst, wo alle dich bewundern -, wenn du Gefangener dieser
Persona bist und nicht ausschlagen kannst, deine wilde, ungezähmte,
freiheitsliebende Seite nicht ausleben kannst, ist es wichtig,
auszubrechen in die andere Welt, dorthin, wo dich niemand kennt,
ohne Persona, um wieder zu merken, wie Freiheit schmeckt. In der
ganz anderen Welt, im anderen Extrem, wirst du herausfinden, dass
auch das nicht glücklich macht. Keine Einseitigkeit macht auf Dauer
glücklich, das ist die Weisheit von Waage. Letztlich ist darin auch
ausgedrückt, dass wir alle, wenn wir ein Extrem zu stark oder zu
lange leben, Gefahr laufen, in den Gegenpol zu kippen.
Es kann passieren,
dass ein Mensch, der nur gut ist und keiner Fliege etwas zuleide
tun kann, auf einmal Amok läuft, weil seine marsische
Schattenseite, die so lange nicht mitleben durfte, auf einmal mit
Macht ausbricht. Ein braver Familienvater oder eine treu sorgende
Mutter, die sich jahrzehntelang für ihre Familie aufgeopfert haben,
können kurz Zigaretten holen gehen und nie wiederkommen. In diesem
Fall ist die Freiheitssehnsucht als Gegenpol zur Welt der
Pflichterfüllung, des Funktionierens, der Aufopferung so monströs
angewachsen, dass sie sich auf einmal mit Gewalt Platz verschafft.
Der Rat, den uns diese Geschichte gibt, ist deshalb auch, uns
rechtzeitig auf unseren Gegenpol zu besinnen, damit dieser nicht
zum Monster werden kann. Die Polarität in uns zu begreifen, der
Segelflieger zu sein, der sich von den gegensätzlichen Strömungen
tragen lassen kann und sie immer wieder ausbalanciert, das ist ein
positiver Umgang mit den Extremen, die wir in uns
tragen.
Das alte, müde Pferd,
das zurückkommt, ist ein sehr schönes Bild für jemanden, der lange
Zeit souverän und einsam gelebt hat. Es kann wunderschön sein, so
eine Phase der Selbstfindung zu erleben, aber auf Dauer ist es
ermüdend. Es kann zu einer Einsamkeit führen, deren Last immer
schwerer zu tragen ist, und dann geht man irgendwann wie dieses
alte müde Pferd auf den Tempel zu dem eigenen inneren Weiblichen
oder auf eine Beziehung zu und sagt: »Ich will sterben.« Das heißt,
dieses Lebenskonzept, dieser einsame Cowboy will verabschiedet
werden. Ich habe in meiner Gruppenarbeit viele Männer erlebt, die
sich mit diesem alten müden Pferd identifiziert haben. Mann sein,
im Sinne des überlieferten Männerbildes, nur autonom, stark,
unabhängig sein, macht auf die Dauer müde und traurig.
Auch das Mädchen
symbolisiert sehr schön das Wandern zwischen den Welten. Wenn man
hier nicht nur ein persönliches Schicksal sehen will, sondern einen
kollektiven Aspekt, dann ist dieses arme, verachtete Mädchen am
Anfang wie die vom Patriarchat verachtete Weiblichkeit: Unsere
männlichen Gottesbilder und Wertvorstellungen sind im Tempel, das
Weibliche ist draußen. Es geht also darum, das Weibliche wieder in
den Tempel zu lassen. Das muss nicht ein neues Matriarchat
bedeuten, sondern einfach, dass das Weibliche wieder geachtet
werden soll. Es muss zu neuem Ansehen kommen. Die Art von Reichtum,
die in diesem Tempel herrscht, ist ja nicht unbedingt das Wahre.
Der Schafherde der Gläubigen, die immer vor dem Tempel steht, kann
man offensichtlich alles vorsetzen! Es braucht bloß jemand in dem
Tempel zu sein, weise um sich zu schauen und zu sagen: »Das wissen
die Götter«, schon fallen sie auf die Knie und rufen: »Sie ist eine
Göttin, sie weiß alles.« In keinem anderen Märchen wird die
Dummheit der Gläubigen so schön dargestellt wie in dieser
Geschichte. Den Tempel zu verlassen heißt auch, der Dummheit und
der Verführbarkeit durch Beifall zu entgehen. Es ist herrlich,
geachtet zu werden, und unser Ego ist sicherlich begeistert, wenn
wir zwischendurch bewundert werden. Aber auf die Dauer macht es
einsam, da kann die Menschenmenge draußen noch so groß
sein.
Noch ein letzter
Aspekt, der zu dieser Geschichte gehört. Ich habe bereits davon
gesprochen, dass das Ungleichgewicht von Sonnen-und Mond-Welt, von
väterlicher und mütterlicher, männlicher und weiblicher Welt in
unserer Zeit ein großes Problem ist und dass es auch die Aufgabe
des neuen Zeitalters ist, eine neue Gleichwertigkeit des männlichen
und weiblichen Aspektes von Gott herzustellen. Die vernachlässigte
Weiblichkeit, das verarmte kleine Mädchen, das Aschenputtel, das in
so vielen Märchen auftaucht, soll rehabilitiert werden. Aber dafür
gibt es im Märchen zwei ganz unterschiedliche Wege. Sehr
vereinfacht gesagt ist der eine der Weg der Rache und der andere –
der hier eingeschlagen wird – der Weg der gemeinsamen Sehnsucht und
auch der Trauer. Wenn das Männliche und das Weibliche so weit
voneinander entfernt sind wie in den letzten Jahrtausenden, so
stark ins Ungleichgewicht geraten, dann taucht in der
Kollektivpsyche die Rachegöttin auf. Die unterdrückte,
vernachlässigte Weiblichkeit kann im Märchen zur bösen Hexe, zur
bösen Stiefmutter werden, und in der MärchenArbeit habe ich oft
erlebt, wie bei Frauen diese Rachegöttin sehr stark wird. Sie kann
auch lustvoll sein, denn Rache ist vielleicht kein edles Gefühl,
aber ein sehr lebendiges, ein Antidepressivum gewissermaßen. In
diesem Märchen ist die Vision jedoch, dass Männlich und Weiblich
wieder zusammenfinden durch die gemeinsame Trauer um die verlorene
Einheit. Auf eine Beziehung übertragen kann das heißen: Wenn
Beziehungen schwierig sind, wenn immer wieder Trennung und
Missverständnisse auftauchen, dann gibt es die Möglichkeit, den Weg
der Rache zu gehen: Ich zahl’s dir heim, du hast mir wehgetan, und
das kriegst du zurück. Man kann sich aber auch, wie in diesem
Märchen, umarmen und gemeinsam weinen, gemeinsam trauern darum,
dass so viel Entfernung da ist, dass die Begegnung nicht mehr
möglich ist. Sicherlich hat jeder dieser beiden Wege seine
Berechtigung und seinen passenden Zeitpunkt, aber wenn die
Vereinigung der Gegensätze wie in diesem chinesischen Märchen
erfolgen könnte, auch als kollektive Versöhnung, dann wäre das
sicherlich die schönere Variante.