Arm und reich
Ein häufig
anzutreffendes Märchenmotiv, das im Lichte des Stier-Prinzips
betrachtet werden kann, ist »Arm und Reich«. Oft gibt es am Anfang
eines Märchens ein armes kleines Kind, Mädchen oder Junge, das im
Lauf der Geschichte zu Reichtum kommt und Königin oder König in
irgendeinem Land wird. Der äußere Aspekt dieser Entwicklung ist
Verwirklichung in der materiellen Welt; es geht darum, etwas
aufzubauen, ein »Architekt« eines irdischen Königreichs zu sein.
Eine Entsprechung ist auch der Weg des Tellerwäschers zum
Millionär.
In das innere Drama
übersetzt, heißt das, dass in uns allen immer auch verarmte,
vernachlässigte Wesenskräfte existieren, Persönlichkeitsanteile,
denen wir nicht genug Aufmerksamkeit und Wertschätzung schenken,
die nicht »hoffähig« sind im Sinne des bewussten KönigsPrinzips. Im
Lauf unseres Lebens müssen sie dann wie im Märchen zum Königshof
kommen, das heißt, sie müssen von unserem Bewusstsein
Aufmerksamkeit und Achtung erfahren. Die Entwicklung von arm zu
reich bedeutet hier nicht nur Auffrischung des Bankkontos. Die halb
verhungerten Tiere oder Kinder im Wald kann man als innere Anteile
begreifen, die wir nicht genug ernähren. Zum Beispiel ist ein
verhungerter Wolf, der den Märchenhelden bittet, sein Essen mit ihm
zu teilen, ein Bild für die verhungerte animalische Seite unseres
Wesens, die nicht genug mitleben darf, die wir nicht genug achten,
die sehr dankbar ist, wenn wir sie wahrnehmen und speisen. Tiere,
mit denen man sein Essen teilt, die man ernährt, werden im Märchen
immer gute Freunde; sie können sich im Lauf der Geschichte als
lebensrettend erweisen.
Bleiben wir einen
Moment beim Thema Ernährung. Im I Ging,
dem chinesischen Weisheitsbuch, gibt es ein Hexagramm mit der
Überschrift »Die Mundwinkel« bzw. »Die Ernährung«. Darin steht
sinngemäß, man möge, wenn man jemanden beurteilen möchte, darauf
achten, welchen Menschen er seine Pflege angedeihen lässt und
welche Seiten seines eigenen Wesens er nährt. Das ist ein sehr
interessanter Gedanke. Ernähren in diesem Sinne bedeutet mit
Energie versorgen, mit Aufmerksamkeit versorgen, und man sollte
sich selbst auch immer wieder fragen: Welche Anteile meines Wesens
sind im Moment gut ernährt und welche nicht? Um ganz zu werden,
müssen wir im Lauf des Lebens lernen, alle unsere inneren Götter
und Göttinnen zu ernähren, ihnen einen Platz im Leben zu geben,
denn wenn wir das nicht tun, wenn wir einen dieser Götter und
Göttinnen unterversorgen, gibt es Probleme, wie mit der
ausgesperrten dreizehnten Fee im Märchen, die beim großen Festmahl
keinen Platz bekommt und sich dafür rächt. Das Horoskop stellt alle
unsere Persönlichkeitsanteile dar, auch die
unterversorgten.