Die drei Federn
Das Märchen
Die drei Federn, eines der weniger
bekannten Grimmschen Märchen, stellt den Weg eines Krebs-betonten
Helden für mein Gefühl sehr gut dar. Vorweggenommen: Märchen
überhaupt, das habe ich schon angedeutet, beinhalten eine Weisheit
und benutzen eine Sprache, die dem Krebs-Prinzip sehr entspricht.
Dieses Krebs-Märchen passt vor allem für den Krebs-Mann. Hier gibt
es keine grausamen Drachenkämpfe, und der Held, um den es geht, ist
ein sanfter, gutmütiger Typ, deswegen wird er nicht zufällig der
»Dummling« genannt. Er hat zwei ältere Brüder, die wie so oft im
Märchen herzlose, verstandesorientierte Trickster-Typen sind. Der
Vater, der alte König, möchte den rechten Thronfolger finden. Dazu
wirft er drei Federn in die Luft und sagt: »Wie die fliegen, so
sollt ihr ziehen. Wer mir den feinsten Teppich bringt, der soll
nach meinem Tod König sein.« Die Federn der beiden älteren Brüder
fliegen waagerecht nach Osten und Westen, nur die des Dummlings,
des jüngsten Sohnes, segelt einfach zur Erde, und er sitzt ganz
traurig da. Da bemerkt er neben der Feder eine Falltür, die nach
unten zu öffnen ist, findet darunter eine Treppe und steigt hinab
in die Tiefe. Dort unten begegnet er einer alten Kröte, von der er
– verkürzt erzählt – nacheinander den schönsten Teppich, den
schönsten Ring und schließlich die schönste Frau bekommt. Die
älteren Brüder können es nicht fassen, dass ausgerechnet der
Dummling die schönsten Dinge anbringt, und verlangen vom König,
dass er ihn immer neuen Prüfungen unterziehe. Doch das alles nützt
ihnen nichts: Am Ende wird der Dummling der Nachfolger des
Königs.
Was bedeutet das?
Zunächst einmal ist es wichtig zu wissen, dass der Dummling eine
Gestalt ist, die in Märchen aller Kulturen auftaucht. Er ist nicht
wirklich dumm, aber er ist es aus der Sicht der intellektuellen,
taktischen Trickster-Typen. Seine Weisheit ist die Anbindung an das
Unbewusste, an die Tiefenwelt der Kröte, einem Symboltier aus dem
Reich des großen Mütterlichen wegen ihrer Fruchtbarkeit und Nähe zu
den weiblichen Elementen Wasser und Erde. Zur Kröte gehen heißt,
sich an die Weisheit des Unbewussten anzuschließen.
Wichtig ist weiterhin,
dass dieser Dummling ein absichtsloser Held ist, dem die Dinge
einfach so geschehen. Laut Marie-Louise von Franz, einer Schülerin
von C. G. Jung, ist der Archetyp des Dummlings für unsere westliche
Welt deshalb so wichtig, weil wir normalerweise nur den aktiven
Helden bewundern und fordern, also jenen Helden, der Ziele hat und
mit dem Schwert für sie kämpft. Die Heldentaten des Dummlings
erfolgen jedoch genau anders herum. Nach dem Motto »Der Weise tut
nichts, doch bleibt nichts ungetan« (Lao-tse) sitzt er einfach auf
dem Boden, und einfach so entdeckt er die Tür. Einfach so öffnet er
sie und geht nach unten. Hätte er gewusst: Da muss irgendwo eine
Falltür sein, wenn ich die aufmache, gehe ich hinunter und finde
eine Kröte, von der kriege ich einen Teppich und eine schöne Frau,
dann wäre es eine andere Geschichte. Aber in vielen Märchen werden
entscheidende Wendungen durch diese »Einfach-so-Situationen«
herbeigeführt; nicht die »Um-zu-Haltung« des Helden führt zum
Erfolg, sondern Vorgänge, von denen der bewusste Verstand gar
nichts weiß. Diese »Einfach-so-Haltung« wirkt von der üblichen
Sichtweise unserer leistungsorientierten Kultur aus betrachtet
ziemlich bequem; der Dummling gilt als dumm, was er nicht wirklich
ist. Die älteren Brüder können es gar nicht fassen, dass
ausgerechnet er König wird. Doch das ist typisch für die
Krebs-Entwicklung: Man »gerät« eher auf den Königsthron, als dass
man ihn bewusst anstrebt. In Kreuzwegsituationen des Lebens folgt
man eher einer Ahnung, dem Bauchgefühl, als taktischen
Überlegungen.