Das Wasser
Skorpion ist wie
Krebs und Fische eines der drei Wasserzeichen, und das Wasserbild,
das sich in meinen Gruppen für Skorpion immer wieder stimmig ergab,
ist das tiefe, abgründige, stehende Gewässer oder auch das Wasser,
das einen Sog nach unten hat, wie zum Beispiel der Strudel, der
einen verschlingen kann, oder Sumpfund Moorgewässer. Wenn diese
Bilder auftauchen, ist immer eine Ambivalenz spürbar, die Angst und
Lust gleichzeitig enthält, ein Anziehungs-Abstoßungs-Konflikt. Wenn
einen etwas genauso magisch anzieht, wie es einen zu Tode ängstigt,
dann hat das mit skorpionischer Energie zu tun. Im tiefen Wasser
zum Beispiel, auf dem Grund eines stillen Sees kann ein Goldschatz
oder ein Ungeheuer verborgen sein. Aber den Goldschatz bekommt nur
der, der auch das Ungeheuer in Kauf nimmt. Wenn ein Baum mit seinen
Ästen bis in den Himmel wachsen will, müssen seine Wurzeln bis zur
Hölle reichen.
Ein sehr tiefes und
wichtiges Bild des Skorpion-Gewässers ist der Strudel. Was kann man
tun, wenn man in einem Fluss schwimmt und von einem Strudel in die
Tiefe gezogen wird? Kämpft man gegen den Strudel an, wird einem
irgendwann die Kraft ausgehen. Die einzige Chance besteht darin,
sich von dem Strudel verschlingen zu lassen, sich ihm
anzuvertrauen: Dann kann man von ganz unten wieder hochtauchen.
Aber in dem Moment, wo einen der Strudel packt, weiß man nicht, wie
tief der Fluss ist und ob man lebend wieder daraus hervorkommt.
Solche Begegnungen mit dem Tod mitten im Leben, wo man kein Ass
mehr im Ärmel hat, wo man sich bedingungslos dem Strudel überlassen
muss, wo das bewusste Ich sich als ohnmächtig und verzweifelt
erlebt, haben Skorpion-Qualität. Wer Verzweiflungsbereitschaft
mitbringt, hat hier schon gewonnen, der kann im Leben
Wandlungserfahrungen machen im Sinne von Einweihung,
Transformation, Initiation: Stirb-und-werde-Erfahrungen, Häutungen.
Die Märchen wissen: Erst im Moment der absoluten Dunkelheit, wenn
die bewusste Lebenshaltung keinen Ausweg mehr weiß, wenn man das
Leben nicht mehr im Griff hat, wird die Begegnung mit einer
Gestalt, die göttliche Führung symbolisiert, möglich. Diese Figur
kommt immer aus dem Symbolkreis des höheren Selbst: der alte Weise,
die weise Frau, die gute Fee, das hilfreiche Tier. Die
Voraussetzung dazu ist Verzweiflungsbereitschaft, es ist eine
Verabredung mit dem Tod und mit Gott zugleich.
Ein Märchen, das vor
allem für Männer mit Skorpion-Energie Pflichtlektüre sein sollte,
ist Der Eisenhans. Das gilt auch für
das gleichnamige Buch Eisenhans von
Robert Bly, einem amerikanischen Philosophen, der zu den
Initiatoren der »Wilder-Mann-Bewegung« in Amerika gehört. Dieses
Märchen fängt schon sehr skorpionisch an, in einem dunklen Wald in
einem Königreich, und alle Jäger (der Jäger an sich ist übrigens
ein Skorpion-Symbol), die in diesen Wald gehen, kommen nicht
zurück. Der Wald wird schließlich gemieden, er liegt lange Zeit wie
tot da, bis eines Tages ein Jäger aus einem fernen Land kommt. Er
durchquert den Wald mit seinem Hund, der vor ihm herläuft, doch als
dieser auf einen Pfuhl zurennt, kommt eine Hand aus dem Sumpf und
zieht den Hund in die Tiefe. Der Jäger holt Hilfe, der Sumpf wird
trockengelegt, und am Boden des Pfuhls entdeckt man einen Mann, der
mehr Tier als Mensch ist, behaart am ganzen Körper. Er wird im
Königsschloss in einem Käfig gefangen gehalten, und es heißt, dass
es bei Lebensstrafe verboten ist, ihn herauszulassen. Doch dann
passiert eine ganz entscheidende Szene: Als die Eltern gerade nicht
da sind, spielt der kleine Königssohn mit seinem goldenen Ball, und
der rollt in den Käfig des wilden Mannes, des »Eisenhans«. Der
Ball, die Kugel, ist ein Ganzheitssymbol, das für die runde
Persönlichkeit steht. Aus diesem Grund muss die Figur, der ein Ball
wegrollt oder eine Kugel hinfällt, zum Beispiel beim Froschkönig, immer dem Ball nach und das suchen,
was zur Ganzheit fehlt. Der goldene Ball rollt also in den Käfig
des wilden Mannes, und man kann sich vorstellen, dass so ein
kleiner Königssohn ein braver Sohn ist – mit einem König und einer
Königin als Eltern weiß man schließlich, wie man sich zu benehmen
hat. Da darf man der Familie keine Schande machen. Also bittet der
Königssohn den Eisenhans: »Bitte, lieber Mann, gib mir meinen Ball
wieder.« Dieser antwortet: »Nur wenn du mich rauslässt.« Das heißt:
Du bekommst deine Ganzheit nur dann, wenn du mich befreist, wenn du
den wilden Mann in dir befreist. Was fehlt einem braven Jungen,
einem braven Sohn denn zur männlichen Ganzheit? Genau die Energie
des Eisenhans, des wilden Mannes. Insofern ist der Satz, den dieser
wilde Mann spricht, sehr einleuchtend. Der Königssohn sagt: »Das
darf ich nicht, meine Eltern haben es verboten.« Und da sagt der
Eisenhans: »Gut, dann kriegst du deinen Ball eben nicht wieder.«
Das geht drei Tage so, und schließlich ist der Königssohn
entschlossen, das Tabu zu verletzen. Er sagt: »Gut, ich lass dich
raus, aber ich weiß nicht, wo der Schlüssel zu deinem Käfig ist.«
Da sagt der wilde Mann: »Das kann ich dir verraten. Er liegt unter
dem Kopfkissen deiner Mutter.« Der Königssohn stiehlt den
Schlüssel, lässt den wilden Mann frei, und jetzt bekommt der
Königssohn Todesangst – ich habe das Tabu verletzt, ich bin nicht
mehr der gute Sohn, ich bin jetzt sozusagen als Sohn meiner Eltern
gestorben, vor allem als Sohn meiner Mutter. Aus dieser Angst
heraus bittet er den wilden Mann: »Bitte nimm mich mit, ich kann
hier nicht bleiben.« Der wilde Mann sagt: »Du dauerst mich« und
nimmt den Kleinen mit sich in den Wald. Im Wald wächst er unter der
Obhut des Eisenhans zum Mann heran, wie bei einer
Initiation.
In vielen
Stammeskulturen ist es üblich, dass ein heranwachsender Sohn
irgendwann der Mutter, der Familie, »geraubt« wird und durch oft
sehr schmerzhafte und Furcht erregende Initiationsriten zum Mann
gemacht wird. Der Sohn muss symbolisch sterben, damit der Mann
geboren werden kann. In der Eisenhans-Geschichte gibt der Sohn
seine Eltern zunächst verloren, und die Eltern sind sehr traurig,
weil sie glauben, ihr Sohn sei gestorben. Das ist symbolisch gut zu
verstehen. Es gibt Zeiten, da hat man als Vater oder Mutter das
Gefühl: Mein Kind ist für mich gestorben. Es ist nicht mehr Sohn
oder Tochter, es ist ein Mann oder eine Frau geworden, und diese
Ablösungsprozesse sind unterschiedlich schmerzhaft und schwierig.
Am Ende dieses Märchens erfolgt allerdings die Heimholung der
Eltern. Der Eisenhans erzieht den Königssohn zum Mann, er gibt ihm
drei Hengste, mit denen er seine Prinzessin erobern kann, und als
am Schluss Hochzeit gefeiert wird, kommen sowohl die Eltern, die
überglücklich sind, ihren Sohn wiederzusehen, als auch der
Eisenhans, und zwar als das, was er wirklich ist – ein König, der
verwunschen war.
Das ist ein fast
idealer Entwicklungsablauf, könnte man sagen. Irgendwann müssen wir
als Söhne oder Töchter bereit sein, ohne den Segen der Eltern zu
leben. Das kann mal schwieriger, mal fließender gehen, je nach
Familiensystem. Und es mag Zeiten geben, wo wir das Gefühl haben,
unsere Eltern sind für uns gestorben, so wie umgekehrt die Eltern
ihren Kindern zu verstehen geben können: Wenn du so bist, brauchst
du gar nicht mehr nach Hause zu kommen, dann bist du für mich
gestorben, bist du ein Nagel zu meinem Sarg. Nach so einer
schmerzhaften Ablösungsphase kann eine Begegnung mit den Eltern auf
einer anderen Ebene möglich werden, nämlich auf der Ebene der
Freundschaft. Du bist dann nicht mehr Sohn oder Tochter, abhängig
von der Anerkennung und vom Segen durch Vater oder Mutter, sondern
du bist jetzt König oder Königin in deinem Reich und dein eigener
Richter. Aber damit es so weit kommen kann, müssen beide Seiten
etwas tun: Die Eltern müssen sich oft sehr schmerzlich von einem
Wunschbild des Kindes verabschieden, und die Kinder müssen so mutig
sein, Tabus zu verletzen und eine Zeit lang im Leben ohne den Segen
der Eltern auszukommen.
Ich möchte hier zwei
Sätze einander gegenüberstellen, die beide richtig sind und doch
grundverschieden. Satz Nummer eins: Du sollst deine Eltern ehren.
Satz Nummer zwei: Kinder müssen so mutig sein, ihre Eltern zu
»töten«, und Eltern so weise, keine Vergeltung zu üben. Beides ist
richtig. Du sollst deine Eltern ehren, sagen auch die
Familientherapeuten. Sie sagen, wenn man im Lauf seines Lebens
nicht so weit kommt, die Eltern zu würdigen, bei allem, was sie
einem angetan haben mögen, schadet man sich selbst. Wenn man sein
Leben lang in einer Haltung der Anklage und Rache verharrt, tut man
sich damit keinen Gefallen. Die Heimholung der Eltern ist für jeden
von uns ein wichtiger seelischer Akt. Das kann auch noch geschehen,
wenn die Eltern schon längst gestorben sind. Satz Nummer zwei –
Kinder müssen so mutig sein, ihre Eltern zu »töten« – bedeutet, die
Sohn-oder Tochter-Mentalität zu verabschieden, genau wie es im
Eisenhans-Märchen passiert. Das ist ebenfalls wahr und in einer
bestimmten Entwicklungsphase für jeden Menschen ein
Thema.
Der Abschied von den
Eltern kann ganz unterschiedliche Gesichter haben. Wenn jemand
tiefreligiöse Eltern hat, die sehr an die Kirche gebunden sind,
kann es bedeuten, dass er selbst aus der Kirche austritt. Man kann
einen Partner wählen, mit dem die Eltern überhaupt nicht
einverstanden sind, und sie vor eine Entweder-oder-Wahl stellen.
Solche Situationen sind sehr häufig, wenn es um skorpionische
Entwicklungswege, um existenzielle Grenzsituationen geht. Wenn
jemand eine depressive Mutter hat, besteht der beste »Muttermord«
darin, selbst Lebensfreude zu entwickeln. Letzten Endes geht es
aber darum, sich von jenen Lebensmustern aus dem Elternhaus zu
lösen, die nicht dem eigenen inneren Gesetz entsprechen, und damit
ein Stück persönliche Geschichte loszulassen. Wem es geschenkt ist,
auch in diesen Entwicklungsprozessen seine Eltern zu lieben und zu
würdigen, für den ist dieser Weg sicherlich leichter, aber dort, wo
Skorpion und Pluto eine Rolle spielen, kommt es oft zu
Zerreißproben, zu Entweder-oder-Situationen. Dann passt der schöne
Satz: »In Zeiten großer Not ist der Mittelweg der
Tod.«