Der Abgrund
In einer alten
Geschichte aus dem Osten wird erzählt, wie ein ehrwürdiger Meister
auf seinem täglichen Spaziergang merkt, dass er von einem Tiger
verfolgt wird. Er flüchtet, doch auf einmal befindet er sich am
Rande eines Abgrunds, wo es kein Entrinnen mehr gibt, nur die Wahl
zwischen dem Sprung in die Tiefe und dem Tiger hinter ihm. Da
entdeckt er einen hervorstehenden Ast, an dem er sich festhält,
doch er ist zu schwer für den morschen Ast, und dieser beginnt zu
brechen. Der Tod ist ihm gewiss. Als ihm dies bewusst wird, bemerkt
er auf einmal auf einem Grasbüschel eine wunderschöne Erdbeere, und
diese Erdbeere verspeist er mit Genuss, während der Ast
bricht.
Skorpion hat mit der
Vergänglichkeit, mit dem Todesaspekt des Lebens zu tun. »Stirb und
werde« lautet das Motto dieses Tierkreiszeichens. Im mittleren
Herbstmonat, dem Skorpion-Monat, lassen die Bäume die Blätter los,
und das Sterben der Natur wird deutlich sichtbar. Das Symbol für
Skorpion, eine Art M mit einem Stachel, ist wie das Symbol für
Jungfrau aus der so genannten Sterbe-Rune entstanden, der T-Rune.
Das ist ein Strich mit zwei Beinen nach unten, und diese T-Rune ist
wiederum die auf den Kopf gestellte Widder-Rune. Widder war der
Mann mit erhobenen Armen, Symbol für das aufsteigende Leben, die
neue Geburt.
Werfen wir an dieser
Stelle einen kurzen Blick in die Geschichte der Astrologie. Der
erste Tierkreis geht auf die Sumerer zurück, und damals gab es
Skorpion noch gar nicht. Die Sumerer hatten an der Stelle, an der
wir heute Skorpion sehen, einen Adler. Sehr historisch orientierte
Astrologen sprechen auch heute noch von Skorpion und Adler in einem
Atemzug und betonen dabei, dass der Adler sozusagen der verwandelte
Skorpion ist, also ein Symbol für einen Menschen, der durch die
Finsternis gegangen und dadurch frei geworden ist.
Zuerst denkt man beim
Skorpion natürlich an den Stachel und das Gift, weswegen er sehr
gefürchtet ist. Stachel und Gift haben grundsätzlich zwei Aspekte:
Sie können dem Leben dienen und ihm schaden. In der Hand des Arztes
kann der Stachel sich in die heilende Injektion verwandeln, in das
Skalpell des Chirurgen, in die Nadel des Akupunkteurs oder auch in
den Bohrer des Zahnarztes, der zwar nicht gerade angenehm ist, aber
hilfreich. Das Messer kann durch schmerzhafte Schnitte,
Operationen, neues Leben wachsen lassen. Worte können Messer sein,
die verletzen, aber auch aufdecken, indem sie unangenehme
Wahrheiten aussprechen. »Schöne Worte sind nicht wahr, wahre Worte
sind nicht schön«, sagt Lao-tse. Andererseits kann der Stachel auch
die tödliche Injektion bedeuten, er kann die Heroinspritze sein,
das Messer in der Hand des Mörders. Gift kann heilen und töten.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass das griechische Wort
pharmakon sowohl Gift als auch
Heilmittel bedeutet.
Der Skorpion gehört zu
den wenigen Tieren, die sich unter Umständen selbst töten. Es
heißt, dass ein Skorpion, der in einem Feuerkreis gefangen ist,
sich selbst den tödlichen Stich versetzt. Eine andere Variante
besagt, dass ein Skorpion, der sein Opfer nicht bekommt, sich
selbst tötet. Vorweggenommen ist das in Skorpion-Beziehungen ein
sehr wichtiges Motiv, und ob diese Geschichte nun wahr ist oder
nicht, auf der Beziehungsebene macht dieses Bild jedenfalls
Sinn.