Die Sphinx
An dieser Stelle
möchte ich noch eine Szene aus der Ödipus-Geschichte erwähnen, die
für mein Gefühl die Problematik der Zwillinge sehr gut ausdrückt:
Ödipus’ Begegnung mit der Sphinx. Zur Erinnerung: Die Sphinx ist
ein Ungeheuer, das sich vor den Toren Thebens niedergelassen hat,
wo es jeden Wanderer verschlingt, der sein Rätsel nicht löst. (Das
Motiv vom Rätselraten ist übrigens ein wichtiges Zwillinge-Motiv.)
Das Rätsel geht so: Welches Wesen geht am Morgen auf vier, mittags
auf zwei und abends auf drei Beinen? Ödipus findet die Lösung: Es
ist der Mensch, der am Lebensmorgen auf allen vieren krabbelt,
mittags auf zwei Beinen geht und am Lebensabend auf dreien, weil er
jetzt einen Stock hat. Da stürzt sich die Sphinx vor Scham über
ihre Niederlage in den Abgrund. Ödipus zieht als gefeierter Sieger
und Erlöser in Theben ein und heiratet die Königin, Iokaste. Sie
war demjenigen als Lohn versprochen, der das Rätsel der Sphinx
lösen würde. Scheinbar ist er nun der Sieger, aber in Wirklichkeit
hat sich gerade durch den Sieg über die Sphinx das Orakel erfüllt,
das ihm prophezeit hatte, er werde einmal seine Mutter heiraten: Er
weiß noch nicht, dass Iokaste in Wirklichkeit seine Mutter ist. Es
ist ein Sieg mit einem bitteren Beigeschmack.
Der Psychoanalytiker
Helmut Remmler sagt in seinem Buch Das
Geheimnis der Sphinx, Ödipus habe einen großen Fehler
gemacht, indem er das Rätsel der Sphinx nur intellektuell löste und
sich nicht mit dem Wesen der Sphinx beschäftigte. Deshalb sei er
letztlich in den Schoß der Mutter zurückgekehrt und habe seine
Mutter geheiratet. Als ich ihn einmal fragte, was Ödipus denn hätte
tun sollen, meinte Helmut, er hätte die Sphinx zurückhalten sollen,
nicht zulassen sollen, dass sie sich selbst tötet. Er hätte sie
fragen müssen, wer sie überhaupt sei, sich mit ihrem Wesen
beschäftigen, sich auf sie einlassen. Boshaft ausgedrückt ist
Ödipus in dieser Situation der Psychologe, der alles analysiert,
alles weiß und doch nichts versteht. Der nicht zu einer Begegnung
von Herz zu Herz fähig ist, sondern nur mit dem Kopf lebt. Und so
wichtig die Zwillingehafte Distanz des Geistesmenschen ist, um
objektive Erkenntnis zu ermöglichen, so gefährlich wird sie, wenn
damit die Beziehung zur Energie des Herzens abgeschnitten wird. Das
kann man bei manchen Menschen beobachten, die sehr gescheit sind,
viel erzählen können und in deren Gegenwart sich trotzdem nach
einer Weile ein inneres Gefühl von Langeweile und Leere ausbreitet.
So brillant sie auch sein mögen, bei ihrem Gegenüber erzeugen sie
so etwas wie Verwirrung bis hin zur Verzweiflung. Wer als Zweifler
angetreten ist, kann auch verzweifeln
bzw. andere zur Verzweiflung bringen.
Eine der Gefahren des
Mottos »Die Wahrheit gibt es nicht« ist das Gefühl der
Sinnlosigkeit, und hier braucht Zwillinge die Anbindung an den
Gegenpol Schütze. Schütze und der dazugehörige Planet Jupiter
stehen für Sinngebung. Gehörte zu Zwillinge die Welt von Lehrer und
Schüler, dann gehört zu Schütze die Welt von Meister und Jünger,
Priester und Priesterin. Da geht es um Orientierung, um Visionen,
um Gottesbilder, und meiner Ansicht nach bedarf der
verstandesorientierte, intellektuelle, rationale Aspekt von
Zwillinge vor allem in der zweiten Lebenshälfte dieser Ergänzung,
sonst kann sich ein Gefühl von Belanglosigkeit und Leere
einstellen. Da kann man dann noch so gute Geschäfte machen, immer
trickreicher sein als die anderen, noch zehn Kurse belegen, noch
schlauer werden – je mehr man weiß, desto weniger weiß man. Goethe
hat einmal gesagt: »Eigentlich weiß man nur, wenn man wenig weiß.
Je mehr man weiß, desto mehr wächst der Zweifel.«
An diesem Punkt möchte
ich noch ein paar schöne Sätze zum Thema Wissen und Nichtwissen
zitieren. Die alten Sufis haben als ersten Satz: »Wer nicht weiß
und nicht weiß, dass er nicht weiß, ist ein Narr. Meide ihn.« Satz
Nummer zwei: »Wer nicht weiß und weiß, dass er nicht weiß, ist ein
Kind. Lehre ihn.« Dritter Satz: »Wer weiß und nicht weiß, dass er
weiß, ist ein Träumer. Erwecke ihn.« Und der vierte Satz
schließlich: »Wer weiß und weiß, dass er weiß, ist ein Meister.
Folge ihm.«