27

Schattensee, The Rack Äußere Peripherie
16. Juni 3059

»Läufer Eins!« rief Hawke die Gefreite Glancy über die Kommleitung an. Sie war müde, erregt, frustriert und wütend, alles zugleich. In der Ferne war der Kampf so gut wie vorbei. Von ihrer Position aus konnten sie und die Überreste der Hawke's Talons beobachten, wie sich die zerschlagenen Überreste der Elite von Morrisons Ausbeutern den siegreichen Aces ergaben. Erst Minuten war es her, daß über Breitband die Nachricht von der Kapitulation der Ausbeuter gekommen war. Die wenigen Piraten, die nicht bereit waren, sich zu ergeben, waren in die gespenstische, morastige Dunkelheit von The Rack geflohen.

Ihre Kampfmoral war zerbrochen, als sie erfahren hatten, daß Elemente des Aces-Bataillons Drei ihre kleine Barackenstadt überfallen, die dort gefangengehaltenen Sklavenarbeiter befreit und damit begonnen hatten, Hopper Morrisons teure Baumaschinen zu zerstören. ›König‹ Morrison hatte den Kampf gegen Bataillon Zwo persönlich angeführt, aber auch er hatte angesichts dieser Entwicklung das Schlachtfeld verlassen und war geflohen.
Hawke machte sich wütend klar, daß sie den Piratenchef im Visier ihrer Waffen gehabt hatten: Morrison hatte den King Crab gesteuert! Seine Desertion hatte beim Rest seiner Leute die Frage aufgeworfen, wofür sie eigentlich ihr Leben riskierten.

Es hatte Hawke und Jord MacAuld volle zehn Minuten gekostet, die Kammlinie zu ersteigen. Sie hatten sich über einen langen Serpentinenpfad zum Rest der Kompanie hocharbeiten müssen - dem kläglichen Rest. Irgendwo unter ihnen waren Feldwebel Coombs und seine Leute damit beschäftigt, Gefangene abzuführen, aber hier oben tobte der Kampf weiter.

»Wo ist Läufer Drei?«

Glancy schien mit der Antwort zu zögern, viel zu lange für Hawkes Geschmack. »Teufelskerl hat die Formation verlassen und dem Timber Wolf nachgesetzt«, stellte sie schließlich fest. »Sie sind kurz nach unserer Ankunft hier nach Osten abgezogen, Ma'am.«

»Warum haben Sie ihm nicht befohlen, Position zu halten?«
»Das habe ich, Ma'am. Er hat nicht reagiert. Vielleicht ist sein Kommsystem ausgefallen ... Er hat nicht geantwortet.«
»Blödsinn«, spie Hawke. »Erzähl mir keinen Pferdemist, Glancy. Ihr haltet hier die Stellung. Ich folge ihm.«
»Ich komme mit, Ma'am«, warf Jord ein. »Ich habe den Timber Wolf in Aktion gesehen.«
»Dein Bein ist nicht gerade in bester Verfassung, Feuerball Zwo«, erinnerte Hawke ihn. »Wenn du mich begleiten willst, mußt du mithalten können.«

* * *

Der Boden ebnete sich leicht, dann fiel er in eine weite Senke ab, um die ein schmaler Felssims als Uferlinie verlief. Der Wind und der trommelnde Regen peitschten die Wasseroberfläche wie einen riesigen Kessel, in dem wahnsinnige Zaubermeister unter wildem Rühren ihr unheilvolles Gebräu mischten. Harley erinnerte sich, daß Dabney Fox diese Wasserfläche bei der Namenssuche für das Gelände des Planeten Schattensee getauft hatte. Jetzt stellte er fest, daß es ein äußerst passender Name für die beinahe tintenschwarzen Fluten war.

Aber seine Blicke und die Anstrengungen der Mechsensoren konzentrierten sich auf das »Ufer« des Sees. Auf der einen Seite breiteten sich die schwarzen Wogen über unbekannten Tiefen aus. Auf der anderen Seite erhob sich eine steile, fast dreißig Meter hoch aufragende Felsklippe. Und am fernen Ende des Ufers, hinter einem kantigen Felsvorsprung, zeichnete die Ortung die Signatur eines Fusionsreaktors. Es war dasselbe Reaktorsignal, das er über Kilometer verfolgt hatte, durch ein scheinbar endloses Labyrinth aus Felsen und grau-schwarzen Gebirgsschluchten.

Der Timber Wolf.

Derselbe stumpf hellgrün lackierte Mech, den Harley zum ersten Mal bei Rectortown auf Gillfillan's Gold zu Gesicht bekommen hatte, wo er nach kurzem Gefecht die Flucht ergriffen hatte. Er hatte ihm wieder gegenübergestanden, als Kommandanthauptmann Ables Falle zuschnappte, und wieder war es dem Piloten des OmniMechs gelungen, der Gefangennahme oder Vernichtung zu entgehen, indem er geradewegs durch die Reihen der Acer gebrochen war. Jetzt versuchte er zum dritten Mal, aus der Schlacht zu fliehen, sein Leben für einen späteren Kampf zu retten.

Aber nicht dieses Mal, schwor sich Harley. Der Timber Wolf war zum Symbol für alles geworden, was er und seine Familie verloren hatten. Erst die Vernichtung dieses Mechs oder seine Kapitulation würde ihm die Befriedigung und den Frieden verschaffen, daß er für Bens Gedenken alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Und obwohl der von den Clans gebaute Kampfkoloß erheblich mehr Tonnage auf die Waage brachte als sein Enforcer, war sich Harley bewußt, daß er schwere Schäden hatte einstecken müssen. Die Situation war noch nie ausgeglichener gewesen.

Falls die Sensoren oder der Bordcomputer des Timber Wolf nicht beschädigt waren, wußte der feindliche MechKrieger, daß Harley hier war, aber er regte sich nicht. Harleys Zweitschirm lieferte ihm zumindest eine teilweise Erklärung dafür. Wenn seine Ortung stimmte, saß der Omni fest. Hundert Meter weiter abwärts wurde der Ufersims zu schmal für einen BattleMech. Der Ausbeuter saß in der Falle, und der einzige Weg ins Freie lief mitten durch Harley.

Es drängte ihn, loszupreschen und sich in den Kampf zu stürzen, den Clanmech in einem ruhmreichen Gefecht zur Strecke zu bringen. Aber statt dessen atmete er langsam tief aus. Das war nicht der Zeitpunkt für impulsive Aktionen. Harley würde nicht zögern, sein Leben zu geben, um den Timber Wolf zu erledigen, aber er zog es eindeutig vor, dieses Ziel zu erreichen, ohne dabei Selbstmord zu begehen.

Er schaltete auf Breitband um und starrte das Ufer hinab auf die Felsnase, die seine Sicht auf den Timber Wolf blockierte.

»Ich weiß, daß du weißt, daß ich hier bin«, sagte er. »Wir wissen beide, daß es keinen Fluchtweg für dich gibt. Ergib dich, und du bleibst am Leben.«

Eine tiefe, von Knistern unterlegte Stimme antwortete. »Harley, schalte die Waffen ab. Das ist nicht wirklich nötig.« Harley sah auf die Kanalanzeige des Kommgeräts und stellte fest, daß die Antwort über einen abhörsicheren Kanal eingetroffen war, nicht über die Breitbandleitung, die er für seine Sendung benutzt hatte. Hershorn mußte den Piraten die Kommfrequenzen der Aces verraten haben.

Die Stimme sandte einen Schauer seinen Rücken hinunter, aber Harley schüttelte den Schrecken ab. »Woher kennst du meinen Namen?«
»Harley«, erklärte die Stimme beinahe verführerisch. »Du brauchst nicht auf mich zu schießen, um deinen Bruder zu rächen.«

»Du und deine Freunde haben Ben ermordet«, erklärte Harley, aber in seinem Innern wuchs die Ahnung, daß hier etwas nicht stimmte.

»Nein, Harley, Ben ist nicht tot. Das weißt du. Hör dir meine Stimme genau an. Ich bin Ben.«
Mit diesen Worten trat der Timber Wolf aus der Deckung. Er war schwer angeschlagen. Die auf der linken Schulter montierte kastenförmige LSR-Lafette hatte sichtlich nur noch Schrottwert. Sie war so zerbeult und zerschmolzen, daß sie nicht mehr zu reparieren war. Treffer aus Laser-, Auto- und Partikelprojektorkanonen hatten die grüne Rumpfbemalung in eine häßliche, von Kratern und Brandspuren verunstaltete Farce verwandelt.
Die Worte schlugen bei Harley ein wie einer der Blitze, die unablässig aus dem Himmel über The Rack zuckten. Er erkannte die Stimme seines Bruders, aber es fiel ihm schwer, sich einzugestehen, daß Ben doch nicht tot war. Niemand hatte je irgendeinen Zweifel daran gehabt. Er war Able's Aces überhaupt nur beigetreten, um herauszufinden, wer Ben getötet hatte. Jetzt traf ihn die Wahrheit mit der Wucht einer AK-Granate. Es war alles eine Lüge gewesen. Ben lebte noch.
»Ben?«
»Ja, Harley, ich bin's.«
»Wie ... wie ist das möglich?«
»Es ist eine lange Geschichte. Worauf es hinausläuft ist, daß ich nicht tot bin. Wir können zusammen von hier verschwinden. Morrison hat in einer Höhle etwa dreißig Klicks von hier ein kleines Landungsschiff versteckt, Leopard-Klasse. Wir gehen hin, starten, weichen den Abfangjägern aus und fliegen zurück nach Pain.‹‹ Bens Stimme überschlug sich fast. Wie die eines Verbrechers auf der Flucht, dachte Harley.
Sein ganzer Körper spannte sich. Bens Vorschlag war der eines Kriegers, der die Seiten gewechselt hatte, die Worte eines Überläufers. Sein Bruder hatte die Aces verraten, und seinetwegen hatten gute Männer und Frauen ihr Leben verloren. »Ben, ist dir klar, was du da sagst?«
»Werd' endlich erwachsen, Har. So läuft es nun mal im wirklichen Leben, Brüderchen. Ich arbeite für Hopper Morrison.«
»Und du bist ein Mitglied der Aces«, stellte Harley fest. Bei der Erkenntnis, was aus seinem Bruder geworden war, wurde ihm übel.
»Ich war ein Mitglied der Aces, Har. Ich weiß, was du jetzt denkst. Du willst, daß ich dich zurück begleite. Aber das wird nicht passieren. Ich bin jetzt bei einer anderen Einheit.«
»Du hast die Aces verkauft«, stellte Harley mit kalter Stimme fest. »Nicht nur die Aces. Was ist mit deiner Familie? Uns hast du auch verraten.«
»Du hattest schon immer eine melodramatische Ader, Brüderchen. Es war eine geschäftliche Transaktion, nicht mehr und nicht weniger.«
»Für die Aces, die auf dem Vogelsangkamm gestorben sind, war es mehr.«
»Komm mir ja nicht so, Brüderchen. Sie waren MechKrieger. Als sie in ihre Cockpits gestiegen sind, wußten sie, daß sie es möglicherweise nicht mehr lebend verlassen würden. Daran ändern deine Worte nichts. Du bist jetzt selbst ein MechKrieger. Wir haben uns mehr als einmal auf dem Schlachtfeld gegenübergestanden. Du hast dem Tod ins Auge geblickt, oder? Du weißt, was ein Soldat zu tun hat, was ein Soldat riskiert. Jetzt schalt' die Zielerfassung ab und laß uns von hier verschwinden, solange es noch geht.«
Bens Worte trafen Harley bis ins Mark, weil er teilweise recht hatte. »Es stimmt, Ben. Sie wußten, welches Risiko sie eingingen, aber mit deinem Verrat hast du das Risiko in eine Gewißheit verwandelt. Du hast deine Kompanie verkauft, und jetzt sind sie alle tot. Sie sind nicht nur ein Risiko eingegangen. Du hast sie in den sicheren Tod geschickt. Sie hatten nie eine Chance.«
»Stimmt, Har. Sie sind tot. Hershorn und ich haben sie verraten. Ist es das, was du hören willst?«
»Ich würde lieber hören, daß es dir etwas ausgemacht hat. Und was ist mit Da und Jolee? An deinen Händen klebt das Blut einer Menge Menschen, Bert Und du hast Da und unsere Schwester durch die Hölle gehen lassen. Er hat eine Menge Gefallen einfordern müssen, damit ich hier stehen kann. Ich wäre gar nicht bei Able's Aces, wenn du nicht zum Überläufer geworden wärst. Ich bin gekommen, um herauszufinden, was aus dir geworden ist, um die Wahrheit zu entdecken.«
Harley fühlte Wut in sich aufsteigen. Er hatte immer zu Ben aufgeblickt, hatte bei all seinen Streichen und Plänen mitgemacht. Er hatte sich bemüht, ihm zu gefallen, wollte ihm gleichen. Das schien jetzt eine Ewigkeit zurückzuliegen, fast schon Teil eines anderen Lebens gewesen zu sein. In den letzten Minuten hatte sich Grundlegendes geändert.
»Da?« höhnte Ben. »Du machst dir Gedanken darüber, wie Da sich fühlt? Wann hat er sich je die Mühe gemacht, einen Gedanken an uns zu verschwenden? Er hat Herrgott mit unserem Leben gespielt, Har, und das weißt du auch. Er hat jeden Aspekt unseres Daseins beherrscht. Erinnerst du dich nicht, wie es war, von ihm aufgezogen zu werden? Wir hätten uns etwas Besseres leisten können. Er hatte Fähigkeiten, mit denen er reichlich Geld verdienen und uns ein angenehmeres Leben hätte verschaffen können. Statt dessen mußte er unbedingt den Bauern spielen und uns erziehen, dasselbe zu machen wie er. Das mag für dich und Jolee in Ordnung sein, aber nicht für mich. Ich will etwas Besseres. Ich verdiene etwas Besseres.«
Harley wußte, daß ein gewisses Maß an Wahrheit in dem steckte, was Ben über Da gesagt hatte, aber nicht genug, um seine Handlungen zu rechtfertigen. »Er war möglicherweise streng mit uns, Ben, aber er hat uns beigebracht, unser Leben zu führen, ohne andere für unsere Fehler bezahlen zu lassen. Du hast fremde Leben geopfert, um deines zu ändern. Ich kann mich kaum an Mutter erinnern, aber ich bezweifle, daß ihr das, was du getan hast, besser gefallen würde als Da. Und bevor du ihn völlig verurteilst, vergiß nicht, daß dein Schicksal Da wichtig genug war, mich loszuschicken, damit ich herausfinde, was aus dir geworden ist.«
»Was erwartest du, Har?« zischte Ben zurück. »Glaubst du ernsthaft, nach allem, was ich getan habe, könnte ich mich noch ergeben?«
»Es ist nicht zu spät, Ben. Davon, daß du wegläufst, wird es nicht besser.«
»Wenn du mich nicht begleiten willst, dann geh mir aus dem Weg und laß mich vorbei.«
Einen Moment fragte Harley sich, ob er Ben tatsächlich gehen lassen, ihn mit dem Leben davonkommen lassen sollte. Aber der Gedanke weckte nur den Abscheu darüber wieder neu, was aus Ben geworden war. Das war nicht mehr sein Bruder, sondern ein Pirat, ein Plünderer, ein Mörder und Verräter. Was sollte er Da sagen? Was sollte er Jolee sagen?
»Ich befürchte, das kann ich nicht«, stellte Harley schließlich fest und starrte den zerbeulten Timber Wolf auf seinem Sichtschirm an. Er erschien ihm häßlicher als je zuvor.
»Du schaffst es nicht, auf mich zu schießen, Har.« Die Selbstgefälligkeit in Bens Stimme erinnerte ihn an die Jahre ihrer Jugend und die Selbstverständlichkeit, mit der ein älterer Bruder seine jüngeren Geschwister herumkommandierte. »Das bringst du nicht fertig.«
Harley bewegte den Steuerknüppel und hob die Armwaffen des Enforcer, so daß sie direkt auf den Mech seines Bruders wiesen. »Du irrst dich, Ben. Mein Wort und meine Loyalitäten stehen nicht zum Verkauf. Da hat mich hierher geschickt, um die bezahlen zu lassen die für dein Schicksal verantwortlich sind. Wenn er wüßte, was du getan hast, würde er dich nicht länger als seinen Sohn betrachten. Und er würde verlangen daß du dafür bezahlst.«
»Du warst schon immer etwas langsam«, antwortete Ben, hob ebenfalls die Mecharme und zielte mit den tödlichen schweren Lasern der ausladenden Waffenmodule auf Bens Maschine.
Ohne Vorwarnung donnerte hinter Harley ein Autokanonenbombardement auf, gefolgt vom Kreischen einer Salve Langstreckenraketen, und hämmerte auf Bens Timber Wolf ein. Der OmniMech stolperte einen Schritt zurück, als die Granaten der AK-Salve die Reste von Panzerung über dem rechten Torso zertrümmerten. Der rechte Arm und Kopf des Mechs wurden von den Raketenexplosionen durchgeschüttelt, Harleys Puls hämmerte, als er die Vernichtung von Bens Kampfkoloß beobachtete.
Eine Stimme drang über die Kommleitung. »Rassor, rauf hier, bevor er feuert!« Es war Livia Hawke. Sie mußte ihm gefolgt sein!
»Oberleutnant!« brüllte er, noch während zwei Laserlanzen sich in den zur Seite kippenden Timber Wolf senkten. Ben versuchte, die Neigung auszugleichen, verlor aber auf dem regennassen Kies und Fels des Ufersims den Halt.
»Nein!« schrie Harley, aber es war schon zu spät. Der Timber Wolf sackte seitlich weg, hing einen Moment über dem Wasser, dann stürzte er in die tiefschwarzen Fluten des Sees.

BattleTech 50: MechWarrior Trilogie
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