23
Shangri-La, Jotunberge, Kore Peripherie23. April 3060
Zum Teufel mit diesem Bengel, warum muß er so stur sein, so loyal, so ... so ganz wie seine Mutter, dachte Krenner. Er saß in der Funkzentrale des Clandepots, das Sturm »Shangri-La« getauft hatte, und suchte die Kommfrequenzen nach einer Spur des jungen MechKriegers oder seiner Maschine ab. Krenner konnte sich denken, wohin Sturm unterwegs war: zur Lancier-Basis, um seinen Vater zu suchen. Er hätte erwarten müssen, daß Sturm so reagieren würde, aber tatsächlich hatte es ihn völlig überrascht. Er suchte weiter nach irgendeiner Nachricht von Sturm oder einem Hinweis darauf, daß der Feind ihn erwischt hatte.
Es war keine angenehme Vorstellung, aber Krenner war sich bewußt, daß Sturm inzwischen durchaus in Gefangenschaft geraten und wahrscheinlich zusammen mit seinem Vater erschossen worden sein konnte. Er war ein guter Junge, ein fähiger MechKrieger und noch cleverer, als seine Mutter es gewesen war, aber trotz allem nur ein einzelner junger Bursche im Kampf gegen eine Bande skrupelloser Raumpiraten. Krenner schätzte Sturms Chancen nicht sonderlich hoch ein, und das bedeutete, er mußte eine Entscheidung fällen, was für das Wohl der Einheit zu tun war.
Wahrscheinlich würde er selbst den Befehl übernehmen müssen. Er war weder ein Offizier noch ein MechKrieger, nur ein Schlammstampfer, ein Infanterist. Aber er hatte die größte Erfahrung hier, und Lon Volker hielt er für einen Kommandeursposten für absolut ungeeignet. Volker war zu egoistisch, zu besorgt darum, seine eigene Haut zu retten, als daß er sich wirklich um die Leute unter seinem Befehl gekümmert hätte. Die anderen Anwärter waren eigentlich noch zu unerfahren für einen Kampfeinsatz, geschweige denn für eine Führungsposition. Krenner blieb nicht viel Wahl. Selbst wenn er das Kommando übernahm, war die Einheit ohne Sturm erheblich geschwächt. Wenn sein Schützling wenigstens nicht den besten ihrer Mechs mitgenommen gehabt hätte.
Die Tür zur Funkzentrale öffnete sich, und Krenner drehte seinen Stuhl. Er fragte sich, wer um diese Uhrzeit außer ihm noch wach sein konnte. Er hatte den diensthabenden KommTech bereits zu Bett geschickt, als er gekommen war, um herauszufinden, wie es Sturm ging. Der nächste planmäßige Schichtwechsel war erst in Stunden fällig. Vielleicht gab es Neuigkeiten.
Lon Volker wirkte überrascht, Krenner an der Kommunikatorkonsole zu sehen. Einen kurzen Moment war seine Entgeisterung nicht zu übersehen, dann fing er sich und schloß die Tür. »Spieß«, stellte er fest. »Was machen Sie denn hier?«
Krenner verzog das Gesicht. Es hatte keinen Zweck, etwas geheimhalten zu wollen. Bis zum Morgen würde es ohnehin jeder im Depot wissen. »Kintaro ist weg. Er hat den Goshawk genommen und ist los, seinen Vater zu holen. Ryans Funkbotschaft hat ihm ernsthaft zugesetzt. Ich hatte gehofft, daß er versucht, uns eine Botschaft zukommen zu lassen, damit wir wissen, wie es ihm geht.«
Volker riß die Augen auf. »Kintaro ist abgehauen?« fragte er. »Hhm. Ich hab immer gewußt, daß der Kleine es nicht bringt.«
»Vorsicht, Volker«, meinte Krenner, und seine Augen wurden zu drohenden Schlitzen. »Sturm Kintaro ist ein guter MechKrieger und ein guter Mann. Er hat in den letzten zwei Wochen unter mehr Druck gestanden als für einen doppelt so alten MechKrieger gut wäre. Wenn er sich entschlossen hat, die Loyalität seiner Familie gegenüber über die zu seiner Einheit zu stellen, kann ich dem zwar nicht zustimmen, aber ich kann ihm auch keine Vorwürfe dafür machen, daß er seinem Vater das Leben retten will.«
»Ruhig, Spieß«, winkte Volker ab. »Ich weiß, daß Sie den Kleinen mögen, aber Sie haben selbst gesagt, er hat unter reichlich Druck gestanden. Außerdem liegt das letzt eh nicht mehr in unserer Hand, richtig?« Er zuckte die Schultern. »Für Kintaro können wir nichts mehr tun, aber wir müssen entscheiden, was für die Einheit das Beste ist, richtig?«
Volkers Reaktion überraschte Krenner. Er brannte auf einen Kampf, aber wie es schien, würde Volker ihm den nicht liefern, »Ja«, stimmte er dem MechKrieger widerwillig zu. »Ich habe mir bereits meine Gedanken darüber gemacht, während ich hier gesessen und auf eine Nachricht gewartet habe.«
Volker trat näher an die Konsole heran und sah über Krenners Schulter auf die Instrumente. »Haben Sie versucht, auf irgendeinem der Kanäle Verbindung zu ihm aufzunehmen?« fragte er.
»Nein«, antwortete Krenner. »Das können wir nicht. Jedes Signal, das kräftig genug wäre, Sturm zu erreichen, würde mit Sicherheit auch in der Basis aufgefangen werden. Damit würden wir dem Feind unsere Position verraten, und möglicherweise wäre Sturm trotzdem nicht in der Lage, uns zu empfangen, oder wenn doch, dann nicht, uns zu antworten. Das Risiko ist zu groß.«
»Aber diese Anlage ist stark genug, um die
Basis zu erreichen?«
»Leicht. Das System ist mindestens so gut wie die Anlage der Basis,
vielleicht sogar besser. Aber wie ich bereits sagte, würden wir bei
dem Versuch, die Basis anzufunken, Ryan und ihren Piraten aller
Wahrscheinlichkeit nach unsere Position verraten, und dann hätten
wir sie sofort auf dem Hals. Außerdem habe ich dieser
Mörderinnenschlampe nichts zu sagen.«
»Spieß«, setzte Volker langsam und bedächtig an. »Betrachten Sie
einmal unsere Lage. Wir sind allein, am äußersten Rand der
Peripherie. Wir haben vier Mechs und einen einzigen erfahrenen
Piloten, mich. Alle anderen sind so feucht hinter den Ohren, daß
sie sich nicht zu waschen brauchen. Ganz egal wie gut die Mechs
sind, daran kommen Sie nicht vorbei. Wir stehen einem Gegner mit
ebensovielen Mechs gegenüber, vielleicht sogar mehr, falls Kintaro
ihnen in die Falle gegangen ist und sie seine Maschine auch noch
erbeutet haben. Sie haben erfahrene Piloten, sie kontrollieren die
Stadt und den einzigen Raumhafen dieser Welt. Und selbst wenn das
Hauptquartier unser Signal empfängt, sind wir mehrere Sprünge von
jeder Hilfe entfernt. Sie werden Wochen benötigen, uns zu
erreichen.«
»Falls Sie auf irgend etwas hinauswollen, Volker, kommen Sie
allmählich zum Punkt«, meinte Krenner, obwohl er sich ziemlich
sicher war, was Lon Volker beabsichtigte.
»Ich finde, wir müssen mit Ryan reden«, erklärte Volker. »Wir
sollten eine Kapitulation ins Auge fassen.« Als er Krenners wütende
Miene sah, hob er abwehrend die Hand. »Lassen Sie mich ausreden.
Wir wissen, daß Ryan weder an dieser Welt noch an uns interessiert
ist. Das einzige, worum es ihr geht, sind die ClanMechs und die
Vorräte in diesem Depot. Wenn sie die bekommt, wird sie
wahrscheinlich morgen abfliegen und uns in Frieden lassen. Wir
können warten, bis die Verstärkungen eintreffen, und brauchen uns
um nichts Sorgen zu machen. Vermutlich will sie ebensowenig kämpfen
wie wir. Aber wenn wir es darauf ankommen lassen, wird Ryan uns
niederwalzen und sich nehmen, was sie will.« »Und was ist mit den
Clans?« fragte Krenner. »Haben Sie die vergessen? Wenn wir Ryan
geben, was sie will, schlachtet sie dieses Depot bis auf die
blanken Wände aus und verschwindet. Und was passiert mit uns, wenn
ein Haufen wütender Stahlvipern erscheint und nach den Mechs
sucht?«
»Die Clans werden sich nicht die Mühe machen, hierher
zurückzukommen«, tat Volker seinen Einwand ab. »Diese Welt ist zu
klein und abgelegen. Sie haben andere Sorgen. Und selbst wenn sie
kommen, ist es nicht unser Problem, solange Ryan die Mechs
mitgenommen hat.
Wir sagen den Vipern einfach, wo sie Ryan finden können, und dann
kümmern die Clanner sich um sie. Wenn wir versuchen, die Mechs zu
behalten, haben wir statt dessen die Clans auf dem Hals.«
»Bilden Sie sich wirklich ein, die Clanner würden uns in Ruhe
lassen? Selbst wenn wir ihre Mechs nicht haben?« fragte Krenner.
»Und bilden Sie sich tatsächlich ein, Susie Ryan würde einfach so
abfliegen und uns hier zurücklassen, damit wir den Clans oder den
Sturmreitern oder wem auch immer davon erzählen können, was hier
vorgefallen ist? Ryan hat schon eine Menge guter Leute umgebracht,
um zu bekommen, was sie will, Volker, und ich habe nicht den
geringsten Zweifel, daß sie dafür noch eine Menge mehr töten würde,
sei es, um sich zu beschaffen, weswegen sie gekommen ist, oder um
ihre Spuren zu verwischen. Ich habe für die Ausrüstung in diesem
Depot eine Menge guter Leute verloren, eine Menge guter Freunde.
Ich will verdammt sein, wenn ich Susie Ryan gebe, was sie will,
ohne sie dafür bezahlen zu lassen. Diese Kampfkolosse bekommt sie
nur über meine Leiche!«
Volker sah Krenner lange schweigend an, dann sackten seine
Schultern herab, und er zuckte die Achseln. »Wenn Sie das so sehen,
Spieß. Sind Sie sicher?«
»Ich war mir noch nie einer Sache so sicher. Verhandlungen kommen
nicht in Frage.«
»In Ordnung. Dann machen wir es eben so, wie Sie es haben
wollen.«
Krenner war von Volkers Zustimmung angenehm überrascht.,
»Wollen Sie sich eine Runde hinlegen?« fragte Volker. »Ich könnte
bis zur nächsten Wache übernehmen.«
Krenner schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich mach' das schon.
Schlafen könnte ich jetzt ohnehin nicht. Wir haben heute morgen
noch eine Menge vor uns.« Er drehte sich wieder zur Konsole, um
nach Anzeichen eines Funksignals aus Richtung der Basis zu
suchen.
Er hörte ein leises Geräusch hinter sich, und seine durch Jahre des
Kampftrainings geschärften Reflexe reagierten sofort, aber es war
bereits zu spät. Der Nadlerschuß traf ihn in den Rücken und
schleuderte ihn auf die Konsole. Durch
die brennenden Schmerzen und das Dröhnen des Bluts in seinen Ohren
hörte Krenner Schritte näherkommen, dann packte ihn eine feste
Hand, zog ihn von der Konsole hoch und stieß ihn aus dem Drehstuhl.
Er rutschte zu Boden und hörte eine Stimme, während er in einer
schnell wachsenden Blutlache lag und immer schwächer
wurde:
»Tut mir echt leid, daß Sie es so sehen, Spieß. Aber Sie wollten es
ja über Ihre Leiche.«
Dann wurde es schwarz um ihn. Die letzten Gedanken des
Stabsfeldwebels drehten sich um Sturm und Jenna und sein Bedauern,
sie im Stich gelassen zu haben.