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Shangri-La, Jotunberge, Kore Peripherie23. April 3060
Alarmsirenen gellten durch das Clandepot. Aus ihrem unruhigen Schlaf gerissen, rannte Laura den Korridor hinab und zog im Laufen die Kühlweste über das dünne T-Shirt. Das kräfteraubende Trainingsprogramm Feldwebel Krenners und Kintaros hatte sie so geschlaucht, daß sie sich angewöhnt hatte, in ihrer Trainings-»Uniform« zu schlafen. Als sie in die Nähe des Mechhangars kam, sah sie Volker und rief zu ihm hinüber. »Lon! Was, zum Teufel, ist los?«
»Die Piraten«, brüllte er zurück. »Ihre Mechs sind hierher unterwegs. Sie müssen in ein paar Minuten hier sein. Wir müssen die Mechs erreichen und ausrücken.«
Laura war wie gelähmt. Das hätte nicht zu einem schlechteren Zeitpunkt passieren können. »Die Piraten?« fragte sie. »Aber wie? Wie haben sie uns gefunden?«
»Es muß Kintaro gewesen sein«, gab Volker zurück. »Er ist weg, zusammen mit seinem Mech. Soweit wir sagen können, ist er zur Basis aufgebrochen. Die Piraten müssen ihn geschnappt haben. Oder er hat sich entschlossen, sich ihnen zu ergeben, um zu versuchen seinen Vater zu retten.«
»Sich ergeben? Glaubst du wirklich, so etwas
würde er tun?«
Volker zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, daß Kintaro
weg ist, und Krenner ist auch verschwunden ...«
»Krenner ist nicht da?« Laura hatte den Ausdruck auf Sturms Gesicht
gesehen, nachdem Ryan ihre Drohung ausgesprochen hatte, Dr. Kintaro
zu töten, wenn Sturm sich ihr nicht ergab. Trotzdem war sie
überrascht, daß er sich allein auf den Weg gemacht hatte. Aber
nicht Feldwebel Krenner. Er hätte seinen Posten nie verlassen, erst
recht nicht in einer derartigen Lage. »Bist du sicher?« fragte sie
Volker, der die ganze Sache erstaunlich ruhig aufzunehmen schien.
»Bist du sicher, daß Krenner nicht da ist?«
»Ich kann ihn nirgends finden«, antwortete Volker. »Und er reagiert
nicht auf Lautsprecherdurchsagen. Niemand weiß, was aus ihm
geworden ist. Vielleicht ist er Kintaro gefolgt. Ich weiß nur, daß
ich den Befehl habe, nachdem er und Kintaro weg sind. Wir müssen zu
unseren Maschinen, MechKriegerin!« In Volkers Stimme trat ein
Befehlston, den er Laura gegenüber noch nie angeschlagen hatte.
Natürlich war sie auch noch nie eine MechKriegerin unter seinem
Befehl gewesen, mit dem Auftrag, das Leben der restlichen Lanciers
gegen Raumpiraten-Mechs zu beschützen. Laura nahm Haltung an und
nickte ernst. Dann drehte sie sich um und rannte hinunter zum
Mechhangar, Volker dicht hinter sich.
Als sie ankamen, waren Clancy und Flannery schon dabei, ihre Mechs
fertigzumachen: einen Peregrine und
eine Vixen. Die Techs schwärmten um die
beiden anderen ClanMechs, Volkers Hellhound und Lauras Vixen, eine Maschine vom selben Typ wie die
Flannerys.
»Status!« rief Volker einem der SeniorTechs zu. Der Mann sah von
den Instrumentenanzeigen hoch.
»Alle Maschinen einsatzbereit, Volker«, antwortete et
»Munitionslager sind gefüllt. Noch immer keine Nachricht von
Feldwebel Krenner oder ...«
»Schon gut«, unterbrach Volker ihn. »Wir machen das. Aufsitzen!«
rief er den anderen MechKriegern zu und lief weiter zu seinem
Hellhound.
Laura sprintete zur Lady Fuchs und
kletterte hastig die Kettenleiter zum Cockpit hoch. Oben
angekommen, ließ sie sich auf die Pilotenliege fallen und zog den
Neurohelm aus dem Kokon von Drähten herab und über ihren Kopf auf
die gepolsterten Schultern der Kühlweste. Hastig überprüfte
sie die Halterungen. Das gab ihr eine
Chance, ihre Nervosität zu verdrängen. Sie steuerte die
Vixen zum allerersten Mal aus dem
Hangar. Bis jetzt hatte sie nur im Simulator gekämpft. Sie hatte
nie wirklich im Cockpit eines echten Mechs gesessen, außer, um sich
mit den Kontrollen vertraut zu machen und den Neurohelm an ihre
Gehirnwellenmuster anpassen zu lassen.
Jetzt rückten sie und ihre Kameraden zum Kampf gegen eine Bande
gnadenloser Piraten aus, deren Mechs ihnen an Gewicht und
Bewaffnung überlegen waren. Sie hatte furchtbare Angst und wünschte
sich verzweifelt, Feldwebel Krenner wäre in der Nähe, oder besser
noch Sturm Kintaro.
Irgendwie hätte sie mehr Vertrauen in ihre Gewinnchancen gehabt,
wenn wenigstens einer der beiden jetzt dagewesen wäre. Sie fragte
sich kurz, was aus ihnen geworden war, wo sie jetzt steckten. Dann
ging sie die letzte Checkliste der Lady
Fuchs durch. Nach dem Geplapper auf der Kommleitung zu
schließen, kamen die Piraten-Mechs näher, und sie mußten machen,
daß sie aus dem Depot kamen.
Gleichzeitig riß Sturm Kintaro nicht weit von der alten Basis der Kore-Lanciers sein Schneemobil von einer Seite zur anderen, um dem MG-Feuer des Piraten-Schwebers auszuweichen, der sie verfolgte. Es war ein Winterhawk, eine Maschine vom selben Typ, den die Lanciers bei ihrer Flucht aus der Basis hatten mitgehen lassen, und er war mit einem MGGeschützturm und einer leichten Raketenlafette bewaffnet. Sturm war froh, daß die Piraten keine Raketen auf ihn abfeuerten, oder es zumindest bis jetzt noch nicht getan hatten.
»Sie kommen näher, Sturm!« brüllte Dr. Hidoshi Kintaro auf dem Rücksitz der rasenden Maschine. Sturm sah sich um. Sein Vater hatte recht. Der Winterhawk holte auf. Er war entschieden schneller als sein kleines Kettenfahrzeug, und der Vorsprung, den sie bei ihrer Flucht aus der Basis aufgebaut hatten, schrumpfte zusammen.
Sturm legte sich wieder in die Kurve, um einem neuen Feuerstoß des Maschinengewehrs auszuweichen, dessen Geschosse den Schnee rings um ihr Gefährt explodieren ließen.
»Festhalten!« rief er nach hinten zu seinem Vater, als er Vollgas gab und das Schneemobil auf ihr Ziel richtete. Sie jagten über eine Bodenwelle und hingen kurz in der Luft, bevor sie krachend wieder im Schnee aufsetzten. Sie waren fast da. Sturm mußte nur das Tempo und ihren Vorsprung ein wenig länger aufrechterhalten.
Ein dumpfes Rauschen hinter ihnen ließ sein Blut gefrieren. Er riß das Schneemobil zur Seite, um sie so schnell wie möglich aus der Feuerlinie zu bringen.
»Papa! Kopf runter!« brüllte er. Die beiden Raketen senkten sich auf die Tundra, aber sie landeten weit von ihrem Ziel entfernt. Trotzdem schleuderte die Wucht ihrer Detonation auf dem viele Meter tief gefrorenen Boden einen Hagelsturm von Eis, Schnee und steinharten Erdbrocken auf. Die Druckwellen warfen das Schneemobil fast um, aber Sturm schaffte es, das Gefährt senkrecht zu halten, und jagte an dem kleinen Krater vorbei auf die Bodenspalte zu. Er hoffte darauf, daß der Rauch und Trümmerregen der Raketenexplosionen sie für wertvolle Sekunden vor dem Bordschützen des Schwebers verbarg.
Er hielt das Schneemobil wenige Meter vom Rand
der Bodenspalte entfernt an.
»Schnell!« rief er, und zusammen mit Hidoshi sprintete er los. Sie
verschwanden in der Tiefe, als der Luftkissentransporter gerade
durch den Rauchvorhang der Raketendetonationen stieß. Seine
Hubpropeller heulten auf, als das Fahrzeug abbremste und sich der
Bodenspalte und dem verlassenen Schneemobil näherte. Die beiden
Geschütztürme suchten langsam die Umgegend ab, aber von den beiden
Flüchtigen war keine Spur zu entdecken. Langsam bewegte sich der
Schweber auf den breiten Riß im Permafrostboden zu, die Sensoren
aktiviert, die Waffensysteme feuerbereit.
Plötzlich stieg eine glänzendweiße Riesengestalt auf Feuerzungen
aus der Spalte. Der Goshawk stieg über
zwölf Meter hoch, flog über den Winterhawk hinweg und landete kurz hinter dem
Schweber. Der Truppentransporter versuchte seitlich auszuweichen,
als der Goshawk aufsetzte und den
rechten Arm auf das Piraten-Fahrzeug richtete.
Der Impulslaser leuchtete in einem infernalisch grünen Licht auf
und schleuderte Bolzen purer Energie auf den leichten Schweber. Die
Panzerung des Winterhawk verdampfte
unter der Gewalt dieses Angriffs auf der Stelle, und die
Laserimpulse drangen bis in das Innere des Fahrzeugs vor. Ein Teil
der Crew versuchte im letzten Moment zu fliehen, aber es war zu
spät. Die Laserimpulse brachten die restlichen Raketen im
Munitionslager des Schwebers zur Explosion, und der Winterhawk flog in einem schwarzorangeroten
Feuerball auseinander, der hoch in den bleigrauen Himmel über Kore
stieg.
In Goldjunges Cockpit grinste Sturm
durch die Visierscheibe seines Neurohelms. Dr.Kintaro klammerte
sich an die Rückenlehne der Pilotenliege. Er hatte sich mühsam in
die Lücke hinter dem Sitz gezwängt. Sturm zog sich aus. Der Sprung
und das Abfeuern des schweren Impulslasers hatten die
Innentemperatur der Kanzel bereits spürbar in die Höhe getrieben.
Er drehte sich etwas um und versuchte, über die Schulter zu sehen,
aber mit dem wuchtigen Neurohelm war das fast unmöglich.
»Ich wünschte, ich könnte dich irgendwo absetzen, wo du in
Sicherheit bist«, meinte er zu seinem Vater »Aber ich muß zurück
zum Depot. Ryans Leute sind wahrscheinlich schon fast da, und hier
ist nirgends ein Ort, wo ich dich aussteigen lassen könnte. Ich muß
...«
Dr. Kintaro legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. »Schon
gut. Ich verstehe, daß du deine Pflicht erfüllen mußt, Sohn. Mach
dir um mich keine Sorgen. Tu du, was du tun mußt. Ich komme schon
zurecht.«
Sturm zögerte einen Moment, dann nickte er.
»In Ordnung. Halt' dich fest, wir müssen uns beeilen.« Er stieß den
Steuerknüppel nach vorne, und der fünfundfünfzig Tonnen schwere
BattleMech rannte über die offene Tundra auf das Gebirge zu. Sturm
konnte nur beten, daß er nicht zu spät kam, um ein Gemetzel zu
verhindern.
Die Lancier-Mechs verließen Shangri-La durch die offenen Tore und marschierten in das schneebedeckte Tal inmitten der Jotunberge. Dadurch, daß nur ein Paß in den Talkessel führte, durch den Piraten eindringen konnten, war es hervorragend zu verteidigen.
Das gibt uns zumindest eine Chance, dachte Laura, als sie die Vixen durch den tiefen Schnee und das felsige Gelände steuerte. Sie hatte im Simulator gelernt, mit Kores Geländebedingungen zurechtzukommen, aber es bereitete ihr immer noch Probleme. Sie wollte kein Risiko eingehen, auszurutschen und zu stürzen. Flannery und Clancy schienen ähnliche Probleme zu haben, aber Lons Hellhound bewegte sich zügig durch das Tal. Er würde wahrscheinlich als erster den Paß erreichen.
»Lancier Eins an alle Einheiten«, drang Lons Stimme durch das Knistern der Kommverbindung. »Um den Paß herum Aufstellung nehmen. Ich übernehme die Spitze. Wir müssen sie daran hindern, in das Tal zu kommen.«
Laura schaltete ihr Mikrophon ein. »Lancier Vier an Eins. Wie wäre es, wenn wir oberhalb des Passes einen Hinterhalt legen? Das gäbe uns das Überraschungsmoment.«
»Nein«, lehnte Volker ab. »Es würde zu lange dauern, dort hinaufzukommen, und ihr scheint schon genug Schwierigkeiten mit dem Gelände hier unten zu haben. Wir können darauf verzichten, einen Mech dadurch zu verlieren, daß einer von euch dem Gegner auf den Kopf fällt. Bleibt in den unteren Lagen.«
»Aber wenn wir hier unten bleiben, werden wir
über...«
»Das ist ein Befehl, MechKriegerin«,
fiel Volker ihr hart ins Wort.
»Jawohl«, bestätigte Laura. Vielleicht hatte Lon ja recht. Die
höhergelegenen Bereiche des Massivs waren unter der Schneedecke
zunehmend felsig und steil. Es würde schwierig sein, sie zu
erklettern, besonders für unerfahrene MechKrieger. Aber sie fand
trotzdem, daß sie sich zu sehr auf den Schutz des engen Paßzugangs
verließen. Es mochte möglich sein, den Paß von unten gegen die
Piraten-Mechs zu verteidigen, aber wenn es Ryans Rebellen gelang,
durch den Paß ins Tal zu kommen, standen die Lanciers auf gleicher
Ebene einer überlegenen Feindeinheit gegenüber. Es machte Sinn,
nach jedem taktischen Vorteil zu greifen, der sich ihnen bot. Aber
Lon war der erfahrenere MechKrieger,
und er hatte den Befehl.
Lon Volker gab weiter seine Anweisungen, als wäre er nie
unterbrochen worden. »Lancier Zwo an die Nordseite des Passes. Drei
und Vier bleiben auf der Südseite. Haltet euch vorerst versteckt.
Wir wollen den Piraten unsere Position nicht verraten. Ich decke
den Paß und ziehe ihr Feuer auf mich, dann können wir sie in die
Zange nehmen.
Die drei anderen MechKrieger bestätigten seine Anweisungen und
setzten sich in Bewegung. Laura suchte mit ihren Sensoren das
gesamte umliegende Gelände nach Spuren des Feindes ab. Wie
erwartet, störten starke magnetische und thermale Interferenzen die
Ortung, aber sie glaubte trotzdem, Hinweise auf näherkommende Mechs
zu erkennen.
»Lancier Vier an Lancier Eins«, gab sie durch. »Ich zeichne vier
unidentifizierte Signale, die sich diesem Bereich zu nähern
scheinen. Wiederhole, ich habe die Feindmechs möglicherweise in der
Ortung.«
»Möglicherweise nützt mir nichts, Vier«, bellte Lon zurück. »Ich
orte nichts. Daten überprüfen.«
Laura runzelte die Stirn. Sie war sich sicher, daß sie die Sensorangaben korrekt
interpretiert hatte. Sie überprüfte die Meßergebnisse. Es war
denkbar, daß die Störungen in der Ortung Geisterbilder erzeugten,
aber diese Bilder bewegten sich recht zügig, und die magnetischen
und Thermaldaten schienen zu passen.«
»Eins, ich zeichne auf dieser Seite ähnliche Daten«, erklärte
Clancy in ihrem Peregrine. »Soll ich
nach ...«
»Negativ, Zwo«, unterbrach Volker sie. »Halte dich an den Plan und
bleib wo du bist.«
»Eins, ich zeichne sie im Paß!« rief Laura. War mit der Ortung des
Hellhound irgend etwas nicht in
Ordnung? Irgendeine Interferenzstörung? Wie war es möglich, daß
Volker nicht ortete, was alle anderen ...
»Zentrale an Lanciers! Zentrale an Lanciers!« brach abrupt eine
Stimme in die Kommleitung. »Wir haben Feldwebel Krenner gefunden!
Er ist tot! Jemand hat ihn erschossen und seine Leiche in einen
Vorratsschrank gesteckt! Wiederhole ...«
Plötzlich drehte der Hellhound sich um
und hob den rechten Arm. Ein smaragdgrüner Lichtstrahl schlug aus
dem schweren Impulslaser und traf den Rumpf des Peregrine. Der leichtere Mech wurde mit einer
rußgeschwärzten Schmelzspur auf der Brustpartie nach hinten
geworfen. Im gleichen Moment strömten mehrere BattleMechs durch die
Paßöffnung.
»Was, zum Teufel...«, stieß Laura aus. Sie griff nach den
Kontrollen der Lady Fuchs, als eine
neue Stimme aus den Lautsprechern drang. Eine Stimme, die sie aus
der Sendung kannte, die kurz zuvor aus Niffelheims eingetroffen
war.
»Captain Ryan an die Kore-Lanciers. Ihr seid zahlenmäßig und
kräftemäßig unterlegen. Übergebt eure Mechs und steigt aus, und
euch wird nichts geschehen. Wenn ihr euch widersetzt, werde ich mir
diese Mechs über eure Leichen holen. Die Entscheidung liegt bei
euch. Euer Kommandeur hat seine klugerweise bereits
getroffen.«
»Tut mir leid«, drang Lons Stimme über die Leitung. »Aber ich habe
ein besseres Angebot bekommen. Ich habe nicht vor, auf diesem
Eisball zu krepieren. Ich schlage vor, ihr kommt zur Vernunft und
macht es mir nach. Krenner ist tot, und Kintaro ist erledigt. Gebt
auf, und keiner wird verletzt.«
Lauras Blick wanderte zur Sichtprojektion. Clancys Peregrine war beschädigt, aber nicht ernsthaft.
Ihre Vixen und die Flannerys waren noch
intakt. Ihnen gegenüber standen vier ClanMechs, die alle mindestens
ebenso schwer waren wie ihre Maschinen, plus Lons altem
Panther. Zusammen hatten die Mechs der
Piraten den Lanciers fünfzig Tonnen voraus. Der Fenris und der Panther
blockierten den Paß, während der Puma,
Volkers Hellhound und Ryans
Mad Cat in die Mitte des Talkessels
marschierten. Sie standen zwischen den Lanciers und dem einzigen
Fluchtweg.
Sie saßen in der Falle.