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Forschungslabor der Alfin-AG, Niffelheims, Kore Peripherie12. April 3060
Doktor Hidoshi Kintaro sah hinüber zu der Frau, die wahrscheinlich die Verantwortung für den Tod seines Sohnes trug. Seit letzter Nacht waren Susie Ryan und ihre Piraten die unumstrittenen Herrscher Kores, und Doktor Kintaro gehörte zu den Tausenden, deren Leben in der Hand der Eroberer lag. Es gab kein Lebenszeichen von den MechKriegern der KoreLanciers, und allen Meldungen zufolge waren sie sämtlich im ersten Angriff der Piraten ums Leben gekommen.
Der Kampf um Niffelheims hatte ein schnelles Ende gefunden. Auch wenn die Reste der KoreLanciers und die örtliche Miliz sich tapfer gewehrt hatten, waren sie den riesigen BattleMechs unter Ryans Befehl einfach nicht gewachsen gewesen. Kurz nachdem es Dr. Kintaro und der Gefreiten Metz gelungen war, dem Puma zu entkommen, hatten die anderen Mechs das Verwaltungszentrum angegriffen und die Herrschaft übernommen. Dr. Kintaro hatte sicher erwartet, unter dem Metallfuß des gigantischen Mad Cat zerquetscht zu werden, aber im Gegensatz zu manchen ihrer Leute wußte die Piratenanführerin, daß sinnloses Morden potentiell wertvolle Möglichkeiten vernichten konnte.
Das bedeutete jedoch keineswegs, daß Ryan irgendwelche Skrupel hatte. Sie hatte dem Gouverneur des Planeten ein eiskaltes Ultimatum gestellt: Bedingungslose Kapitulation, oder ihre Mechs würden die Stadt in Schutt und Asche legen, angefangen mit den dichtbesiedelsten Gebieten. Es war keine echte Wahl. Wie vor zehn Jahren den Clan-Invasoren gegenüber war die planetare Regierung Kores auch diesmal gezwungen, sich zu ergeben.
Erst danach hatten Ryans Bodentruppen die Stadt betreten. Die restlichen Militäreinheiten waren schnell zusammengetrieben und eingekerkert worden, während die Zivilbevölkerung unter dem wachsamen Auge der Piraten ihrer normalen Beschäftigung nachgehen durfte. Der Gouverneur hatte sich mit Susie Ryan getroffen, um deren Forderungen entgegenzunehmen. Überraschenderweise hatte die neue Herrscherin Kores mit einem ihrer ersten Befehle von ihm verlangt, ein Gespräch mit dem Leiter der Planetographischen Forschungsabteilung, Dr. Kintaro, zu arrangieren. Ryan lächelte, als sie ihn erkannte.
»Ah, Doktor«, meinte sie. »Sie wirken heute
viel größer als letzte Nacht.«
Kintaro war erstaunt, daß Ryan sich noch daran erinnerte, mit ihrem
Mech den Schweber gestoppt zu haben, in dem Gefreite Metz und er
gesessen hatten. Aus der Höhe, in der sich das Cockpit des
Mad Cat befand, mußten sie wie Ameisen
ausgesehen haben. Aber sie erkannte ihn trotzdem wieder.
Ryan traf sich mit Doktor Kintaro in dessen Büro in der
Planetologischen Abteilung. Sie wurde von zwei Wachen begleitet,
die aber vor der Tür warten mußten. Hidoshi spielte kurz mit dem
Gedanken, Ryan zu überwältigen, verwarf diese Idee aber schnell
wieder Sie war zwar allein und nur mit einer Pistole bewaffnet, die
in einem Holster an ihrer Hüfte steckte, aber er war Forscher und
Wissenschaftler und hätte gegen eine ausgebildete Soldatin und
eiskalte Mörderin wie Susie Ryan nicht viel ausrichten können. Kurz
dachte er an seinen Sohn und fragte sich, ob es den Versuch
trotzdem wert war.
»Was wollen Sie von mir?« fragte er und schleuderte der Piratin
einen frostigen Blick zu, während diese mit einem Ausdruck
unterkühlten Desinteresses die Unterlagen und Meßblätter auf seinem
Schreibtisch durchging. Sie hob den Kopf, und ihr gesundes Auge
verengte sich, als sie seinen Blick erwiderte. Hidoshi ließ sich
von ihrem mörderischen Starren nicht einschüchtern, sondern blieb
kerzengerade sitzen.
Seine trotzige Haltung ließ Ryan leicht lächeln, und sie setzte
sich auf die Schreibtischkante. »Sie haben diesen Planet gründlich
erforscht, Doktor. Was können Sie mir über ihn erzählen?«
Dr. Kintaro räusperte sich. Er staunte darüber, wie locker Ryan
sich mit ihm unterhalten konnte, nachdem sie gerade eine ganze
Stadt brutal in ihre Gewalt gebracht hatte. Was hatte diese Frau
vor?
»Nun«, setzte er an. »Kore ist ein felsiger Planet von etwas
geringerer Größe als Terra, aber auf Grund hoher Konzentrationen
von Metallen und Mineralien in Kern und Kruste etwa gleicher
Schwerkraft. Der Planet war zu einem früheren Zeitpunkt seiner
Geschichte vulkanisch sehr aktiv, was zur Entstehung ausgedehnter
planetologischer Phänomene wie den naheliegenden Gebirgsmassiven
geführt hat und bei Planetenbeben und Eruptionen einige der
Erzlager und Felsschichten an die Oberfläche hob. Es findet noch
immer beträchtliche planetologische Aktivität statt, jedoch nicht
annähernd in dem Ausmaße wie in der Vergangenheit.«
Ryan schien ihm konzentriert zuzuhören, also sprach Dr. Kintaro
weiter.
»Der Planet ist reich an verschiedenen Metallerzen, insbesondere
Aluminium, Eisen, Nickel und Wolfram. Die hohen
Metallkonzentrationen sind mit eine Ursache für Kores ungewöhnlich
starkes Magnetfeld, das die Erforschung spürbar erschwert. Die
Magnetfelder stören die meisten Sensorgeräte. Außerdem sind viele
Bereiche des Planeten noch immer vulkanisch aktiv, und aktive
Dampfschlote und Lavaröhren führen zu Problemen mit unseren
seismischen und Infrarotsensoren.«
»Was ist mit Tieren?« unterbrach Ryan. »Gibt es einheimische
Lebensformen?«
»Ja, mehrere«, erklärte der Planetologe und stieß seinen Sessel
etwas zurück. »In der Hauptsache Pflanzen und einfaches Tierleben,
kleine, an die kalte Umwelt angepaßte Säugetiere. Darüber hinaus
existieren Lebensformen, von denen wir annehmen, daß sie hierher
verpflanzt und genetisch an die auf Kore herrschenden Bedingungen
angepaßt wurden.«
»Verpflanzt? Von wem?«
»Das wissen wir nicht mit Sicherheit. Einzelne korische Tierarten
stammen eindeutig von terranischen Vorfahren ab. Die genetische
Ähnlichkeit ist einfach zu groß, um einen anderen Schluß
zuzulassen. Der Winterwolf beispielsweise ist eine vom terranischen
Lupus abstammende Raubtierart. Die Tiere lebten bereits hier, lange
bevor Alfin diese Kolonie errichtete, wahrscheinlich mindestens ein
Jahrhundert. Unsere beste Theorie erklärt ihre Existenz mit den
Bemühungen früherer Kolonisten. Es gibt Hinweise darauf, daß Kore
vor langer Zeit bereits einmal kolonisiert wurde. Wahrscheinlich
erwies sich die Kolonie nicht als lebensfähig, aber einzelne der
Lebensformen, die ihre Bewohner in die hiesige Biosphäre eingeführt
hatten, konnten überleben.«
»Diese ... Kolonie«, meinte Ryan. »Gibt es Ruinen? Sonstige
Beweise?«
»So gut wie nichts«, antwortete Dr. Kintaro. »Wir haben auf einer
der südlichen Kontinentalebenen bei der kartographischen Erfassung
einzelne Hinweise auf mögliche Ruinen gefunden, aber sie sind unter
einer dichten Eis- und Schneedecke begraben. Selbst im Tiefflug
läßt sich nicht sicher feststellen, ob es sich wirklich um die
Überreste von Gebäuden handelt oder nur um ungewöhnliche
Felsformationen.« »Wann hätte sich diese Kolonie hier befunden?«
»Schwer zu sagen. Vor ein- bis zweihundert Jahren, vielleicht noch
eher. Falls ein Kolonistenschiff durch einen Fehlsprung hierher
verschlagen wurde, kann es von so ziemlich überall gekommen sein.
Möglicherweise konnte man den ursprünglichen Kurs nicht
weiterverfolgen und hat sich notgedrungen hier niedergelassen. Um
ehrlich zu sein, haben wir darauf kaum Anstrengung verwendet. Alfin
ist an den Erzvorkommen Kores interessiert, nicht an planetarer
Archäologie oder Geschichte, deshalb wurde die ganze Sache als
nebensächliches Rätsel ad acta gelegt, um das wir uns später immer
noch kümmern können, wenn wir einen größeren Teil der Oberfläche
erkundet haben.« Er machte eine Pause und sah Ryan an. »Sind sie
deshalb nach Kore gekommen, wegen Informationen über eine Kolonie,
die hier einmal existiert haben könnte?«
Ryans gesundes Auge verengte sich zu einem drohenden Schlitz. »Ich
stelle hier die Fragen, Doktor. Sie antworten nur darauf,
vollständig und so gut Sie können. Solange Sie das tun, sind Sie
von Nutzen für mich, und das bedeutet, Sie bleiben am Leben. Haben
Sie verstanden?«
Dr. Kintaro nickte. Sein Mund war nur noch ein dünner Strich. »Ja,
ich schätze schon.«
»Gut. Also, gibt es irgendwelche anderen Spuren von Bewohnern
dieser Welt?«
Kintaro schüttelte den Kopf.
»Nein, keine. Niffelheims ist die einzige Siedlung auf der
Oberfläche Kores, und wir verfügen über Satellitenkarten des
gesamten Planeten.«
»Ich will sie sehen«, stellte Ryan fest. »Wie sieht es unter de
Oberfläche aus?«
»Unter der Oberfläche? Nun, wie ich bereits sagte, war Kore in
seiner Vergangenheit vulkanisch sehr aktiv. Die planetare Kruste
neigt zur Bildung von Tälern, Schluchten und einer großen Zahl von
Höhlen.«
»Wie viele Höhlen?«
Der Wissenschaftler zuckte die Achseln, »Tausende, vielleicht sogar
Hunderttausende. Im Jotunmassiv ganz in der Nähe hier gibt es
zahlreiche Höhlen, in der Hauptsache Dampfschlote und erkaltete
Lavaröhren, außerdem Gletscherformationen und von Beben
aufgerissene Öffnungen. Wir haben gerade erst begonnen, sie zu
erfassen.«
»Wie groß sind diese Höhlen?« fragte Ryan. Ihre Fragen wurden
merklich drängender, als sie nachhakte. Dr. Kintaro spürte, daß
sich das Gespräch in Richtung der Informationen bewegte, nach denen
sie suchte.
»Das variiert«, antwortete er. »Manche sind sehr klein, nicht
annähernd weit genug, um einen Menschen hindurchzulassen. Andere
sind sehr groß, bis zu fünf oder zehn Meter im Durchmesser,
möglicherweise mehr.«
»Ich verstehe«, sagte Ryan und lehnte sich zurück. Ihre Miene war
nachdenklich, als ihr Blick über die an den Bürowänden hängenden
Landkarten glitt. »Sie sagen, Sie haben diese Daten mit Satelliten
gesammelt?« Sie deutete auf die Karten.
»Die meisten. Aber wir haben auch direkte Untersuchungen
angestellt, mit Flugzeugen ... und einzelnen BattleMechs der
Lancier-Basis.«
»Können unsere Mechs das Gelände ebenfalls erkunden?«
Dr. Kintaro zuckte wieder die Achseln. »Ich schätze schon. Ich bin
mit den Ortungsmöglichkeiten von Clan-OmniMechs nicht vertraut,
aber ich muß davon ausgehen, daß sie mindestens denen der Maschinen
entsprechen, die bei den Lanciers im Gebrauch waren, wenn sie ihnen
nicht sogar überlegen sind. Es würde erfordern, daß die Sensoren in
gewissen Maße umkalibriert werden.« »Gut«, erklärte Ryan. »Dann
werden wir das tun.«
»Darf ich fragen, wonach Sie suchen?« erkundigte Dr. Kintaro
sich.
»Nach großen Metallkonzentrationen, Doktor. Ich werde Ihnen alle
Spezifikationen liefern. Sie und Ihr Stab werden Ihre
Forschungsdaten zusammenziehen und was immer Sie noch brauchen, um
die nötigen Anpassungen an den Mechsensoren vorzunehmen. Ich lasse
Sie in einer Stunde zur Basis bringen.«
Ryan wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb sie stehen, eine Hand
auf der Klinke, und sah sich zu dem Wissenschaftler um. »Wenn Sie
sich mir widersetzen oder ich entdecke, daß irgendeine der
Informationen, die Sie mir gegeben haben, falsch war, werde ich ein
Mitglied Ihres Mitarbeiterstabes töten lassen. Das wird so
weitergehen, bis ich habe, was ich will. Ist das klar?« Dr. Kintaro
nickte, und Ryan lächelte. »Gut, Dann sehen wir uns bald wieder.
Ich werde Ihnen die Gelegenheit geben, eine echte Entdeckung zu
machen, Doc.«
Mit diesen Worten verließ die Piratenkönigin Dr. Kintaros Büro und
gab den draußen wartenden Wachen ihre Anweisungen. Hidoshi sammelte
seine Notizen und das übrige Material und griff zum Kommgerät, um
seine Assistenten einzuweisen.
Er stockte einen Moment und dachte, das Kommgerät in der Hand, über
das Gespräch mit Susie Ryan nach. Wonach sucht
sie, fragte er sich, und ist es
wirklich so viele Leben wert? Er dachte an seine Frau, und
jetzt seinen Sohn, beide bei der Verteidigung einer isolierten Welt
am Rande des bekannten Weltraums gefallen, und er fragte sich,
welchen Sinn das alles hatte.
Dann öffnete er die Verbindung und gab seine Anweisungen. Er hatte
eine Menge Arbeit zu erledigen.