28

Schattensee, The Rack Äußere Peripherie
16. Juni 3059
»Teufelskerl, bist du okay?« bellte Jord MacAuld über Breitband.

Harley starrte ungläubig auf die dunkle Oberfläche des Sees, der seinen Bruder und dessen fünfundsiebzig Tonnen schwere Clan-Kampfmaschine verschlungen hatte. Nichts zeugte mehr von Bens Existenz. Nur der Regen prasselte auf die Wasseroberfläche.

Ob er okay war, wollte Jord wissen. Harley wußte keine Antwort. Würde er je wieder okay sein? Er drehte den Torso seines Mechs und holte die beiden anderen Acer in die Mitte des Sichtschirms. Sie standen auf einem niedrigen Hügel hinter seiner Position. Jord und Livia Hawke.

Harley schaltete auf den abhörsicheren Privatkanal zu Hawke, damit Jord nicht mithören konnte. Er war sich noch immer nicht sicher, was er sagen sollte, als er die Verbindung öffnete.

»Oberleutnant, der Timber Wolf, das war Ben.« Die Worte schienen einen Teil von ihm mitzunehmen, als sie seinen Mund verließen. Es war, als ob mit ihnen ein Teil seiner Seele abgerissen würde.

Einen Augenblick erhielt er keine Antwort. »Schütze ... Harley, das muß ein Irrtum sein. Ich war dabei, als Ben starb.« Hawke klang benommen, wie jemand, der gerade aus einem Traum geweckt worden war.

Harley wußte, daß Mechs für den Einsatz unter Wasser oder sogar im luftleeren Raum konstruiert waren, aber der Timber Wolf war beschädigt. Es bestand die Möglichkeit, daß Ben tot oder sterbend am Boden des Sees lag, aber ebensogut konnte er immer noch seine Flucht planen. So oder so blieb ihnen nicht viel Zeit.

»Nein, es war Ben. Wir unterhielten uns auf einer anderen Frequenz. Er war es, glaub mir. Er muß seinen Tod am Vogelsangkamm vorgetäuscht haben.«

»Mein Gott«, flüsterte Hawke.
»Wir müssen ihn finden und retten, wenn das noch möglich ist.« Harley konnte Ben jetzt nicht sterben lassen, konnte sich nicht umdrehen, einfach davonmarschieren und seinen Bruder hier in einem nassen Grab zurücklassen. Er bewegte den Enforcer an die Stelle, an der Ben in den See gestürzt war. Das trübe Wasser ließ nichts erkennen, keine Spur von Leben an seinem Grund.
Hawkes Orion lief den Hügel herab und trat neben ihn. »Ich taste den Seeboden ab. Das ist ein gehöriger Sturz, Harley, und Sprungdüsen funktionieren unter Wasser nicht. Es scheint, als gäbe es einen Felssims, zu dem wir uns hinabarbeiten könnten. Wenn die Sensoren korrekt arbeiten, liegt er da auf dem Sims.«
»Was ist mit Ben?« fragte Harley und versuchte, seine Mechortung einzujustieren.
»Ich zeichne eine aktive Reaktorsignatur, aber erheblich tiefer. Wir müssen selbst nachsehen, was da unten los ist. Ich gehe voraus.« Sie marschierte zum entfernten Ende des Sees und watete ins Wasser.
Jords Stimme drang über Breitband aus dem Lautsprecher. »Wäret ihr beide vielleicht mal so freundlich, mir mitzuteilen, was ihr da macht?« Seine Stimme klang besorgt.
»Gib uns hier oben Deckung«, befahl Hawke knapp. Noch zwei Schritte vor, und ihr Mech verschwand unter der Wasseroberfläche. Harley folgte ihr auf dem Fuß. Das Wasser stieg am Kanzeldach hoch, und er vergewisserte sich vorsichtshalber auf der Schadensanzeige des Sekundärschirms, daß es nicht ins Innere des Kampfkolosses eingedrungen war.
Er war schon fast zehn Meter unter Wasser, als der Enforcer plötzlich unter dem wachsenden Druck aufstöhnte. Das Licht der kleinen Navigationsscheinwerfer auf der Vorderseite des Mechs reichten gerade weit genug, um ihn Hawkes Orion auf dem langen Marsch hinab in den scheinbar bodenlosen See nicht aus den Augen verlieren zu lassen.
Sie brauchten volle fünfzehn Minuten, um den Sims zu erreichen. Rechts von ihnen stieg eine senkrechte Felswand bis zur Oberfläche des Sees hoch, an dessen Rand sie kurz zuvor noch gestanden hatten. Auf der linken Seite ging es ebenso steil hinab zum Grund des Sees, der nach den Sensordaten, die Harley empfing, sehr viel tiefer gelegen war. Sie befanden sich fast fünfundsechzig Meter unter der Seeoberfläche. Das einzige Licht kam von den kleinen Navigationsleuchten, und selbst die reichten nur wenige Meter.
Allmählich kam Harley nah genug an Hawkes Mech heran, um die Überreste des Timber Wolf auszumachen, die, im schwachen gelben Glanz der Navleuchten kaum auszumachen, zu Füßen des Orion lagen. Aus dem Cockpit des umgestürzten Mechs drang ein schwaches, offenbar von der Kanzelbeleuchtung stammendes Leuchten. Der Platz auf dem Sims war knapp, aber Harley gelang es, sich neben Hawkes Maschine zu zwängen. Er starrte nach unten und hatte fast Angst davor, was er zu Gesicht bekommen würde.
Im Cockpit des zertrümmerten Clan-Mechs sah er seinen Bruder auf der Pilotenliege sitzen. Der Timber Wolf lag schräg auf der Seite. Eine gespenstische Wolke aus grüner Kühlflüssigkeit und Sediment trieb über und neben ihm im Wasser. Luftblasen traten aus den Löchern und Rissen in der Panzerung und schwebten langsam zur Oberfläche davon.
»Harley, schalte auf Laser-Komm um«, hörte er Hawkes Stimme. Unterwasserfunk konnte in dieser Situation Probleme bereiten. Das Laser-KommSystem benutzte einen modulierten Lichtstrahl als Trägerwelle und gestattete eine störungsfreiere Unterhaltung.
Harley warf einen Schalter um. »Ben, kannst du mich hören?« fragte er und fürchtete sich vor der Antwort.
Er hörte ein Husten, dann eine Stimme, von der er nicht gedacht hatte, daß er sie jemals wieder hören würde. »Ich höre dich, Harley. Wen hast du dabei, Livia?«
»Ben«, stieß sie hervor, dann versagte ihre Stimme mit einem leisen Schluchzen. Harley sah, wie Ben sich in seinem Cockpit etwas vorbeugte, um zu ihr hochsehen zu können.
»Ich wette, du bist überrascht, mich zu sehen«, stellte er fest, dann hustete er wieder.
»Da hast du recht«, erklärte sie. Sie hatte sich wieder ganz in der Gewalt. »Wie ist dein Zustand?«
»Der Sturz hat mir den Rest gegeben, Puppe«, verkündete Ben. »Das Gyrogehäuse muß zerplatzt sein, denn er ist völlig ausgefallen. Der Reaktor arbeitet zwar noch, aber ich kann die Mechbeine nicht bewegen. Vermutlich sind die Kontrollschaltkreise für die Myomersteuerung gebraten worden.« Eine Pause. »Und nur um das Ganze etwas interessanter zu machen, dringt langsam Wasser in die Kanzel.«
Harleys Mund öffnete sich vor Schreck. Durch die Taktikortung wußte er, daß sie tief in eisigkaltem Wasser standen. Ben konnte das Kanzeldach absprengen, aber falls er das tat, würde die Kanzel augenblicklich überflutet werden, und der Kälteschock würde ihn lähmen und möglicherweise töten. Selbst wenn er es unter diesen Umständen noch schaffte, das Cockpit zu verlassen, mußte er noch mit dem Wasserdruck fertigwerden. Kurz gesagt hatte er keine Chance, die Wasseroberfläche lebend zu erreichen. Er konnte bestenfalls versuchen, das Cockpit allmählich weit genug fluten zu lassen, um die Luke ohne Druckverlust öffnen zu können, aber erstens hätte er auch dabei eine Unterkühlung riskiert, und zweitens hätte es viel zu lange gedauert. Wenn er die Rettungsautomatik auslöste, war es sein sicherer Tod, denn das Wasser hätte auf den Schleudersitz wie eine massive Felswand gewirkt.
»Tja, Har, du hast immer vorausgesagt, daß mir eines Tages das Wasser bis zum Hals stehen würde«, lachte Ben ohne erkennbaren Humor »Wie fühlst du dich jetzt?«
»Verdammt übel, Ben«, antwortete Harley. »Gerade war ich soweit, mich mit deinem Tod abgefunden zu haben, und jetzt muß ich dabei zusehen. Was glaubst du wohl, wie ich mich fühle?«
»Ben, was ist geschehen?« fragte Hawke.
Er antwortete erst nach einer kurzen Pause. »Hopper Morrison machte mir ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte. Du weißt ja, wie wild ich auf Tech bin. Er hatte diesen OmniMech gestohlen, und den hat er mir angeboten. Dafür brauchte ich ihm nur die taktischen Daten unserer Kompanie zu geben, Einheitsaufstellung, Kommfrequenzen, Ausrüstungsdaten. Er versprach mir, meinen Tod vorzutäuschen. Danach konnte ich direkt für ihn arbeiten.«
»Du hast uns für einen BattleMech verraten?«
»Ich wußte gleich, daß du das nicht verstehst, deswegen habe ich gar nicht versucht, dich zum Mitkommen zu überreden. Bei dir hört sich das so gemein an, als wäre es ein schmutziges Geschäft gewesen. Laß dich nicht von Äußerlichkeiten täuschen, Livia. Das hier ist das beste Stück Gefechtsfeldtechnologie, das es jemals gegeben hat.«
Harley unterbrach ihn. »Im Moment sieht es ziemlich schrottreif aus, Ben. Ich glaube nicht, daß es den Preis wert war.« Erst die Leben anderer, und nun vielleicht noch Bens eigenes.
»Kann sein, daß du recht hast, Har. Aber wenn du erwartest, daß ich jetzt Reuetränen über das vergießt was ich getan habe, dann vergiß es. Ich habe ein paar Entscheidungen getroffen, mit denen du nicht einverstanden bist, aber ich bin nicht der herzlose Bastard für den du mich hältst. Ich habe Livia am Vogelsangkamm das Leben gerettet. Das war Teil der Abmachung Und auf Gillfillan's Gold habe ich dafür gesorgt, daß die Ausbeuter sie und dich mit Samthandschuhen angefaßt haben, nachdem ich von Hershorn gehört habe daß du zu den Aces gestoßen warst.«
Jetzt ergriff Hawke wieder das Wort. »Du hast uns all das eingebrockt, Ben. Deinetwegen sind die Ausbeuter restlos zerschlagen worden. Egal ob sie gut, böse oder sonst etwas waren, eine Menge Menschen haben deinetwegen das Leben verloren.«
»Ich liebe dich, Livia«, erklärte Ben. »Was du auch glauben magst, es ist die Wahrheit.«
»Ich habe Benjamin Rassor geliebt«, stellte sie fest. »Er ist auf dem Vogelsangkamm gestorben. Ich weiß nicht, wer du bist, aber inzwischen ist klar, daß du nie die Oberfläche erreichen wirst.«
Harley unterbrach sie. Er konnte nicht anders. »Oberleutnant, es muß etwas geben, was wir tun können. Wir können ihn nicht sterben lassen ... Nicht noch einmal.«
»Wir haben die Möglichkeiten nicht und er nicht die Zeit«, erwiderte Hawke. Sie klang erschöpft. Dann wurde ihr Tonfall bitter. »Wer immer Sie sein mögen, Timber Wolf-Pilot, Sie haben mein Mitgefühl.«
Sie drehte den Orion auf dem Absatz um und machte sich auf den Rückweg.
»Oberleutnant«, rief Harley, dann wußte er nicht mehr, was er noch sagen sollte.
»Es ist nichts daran zu ändern, Harley. Er weiß das. Du weißt das. Ich habe Ben Rassor schon einmal sterben sehen. Ich kann es kein zweites Mal tun. Ich werde es nicht tun. Er ist dein Bruder. Du schuldest ihm etwas, selbst wenn er jetzt nicht mehr als ein Mörder ist. Du kannst bleiben und tun, was immer getan werden muß. Aber ich glaube, du weißt, wie das hier enden wird.« Dann marschierte sie weiter und verschwand in der Dunkelheit des Sees.
Harley drehte sich wieder um und blickte auf Bens verkrüppelten Mech hinab. Wenn er den Enforcer vorbeugte, konnte er im schwächer werdenden Licht der Instrumente immer noch das Innere der Kanzel und die Umrisse seines Bruders sehen. Er starrte mit leerem Blick auf den sterbenden Mech und den sterbenden Mann in seinem Innern und fragte sich, was er tun sollte. Er wußte nicht, wie lange er dort allein mit Ben in der Dunkelheit gestanden hatte, als sein Bruder sich wieder meldete.
»Ich wußte, das du bleibst, Harley.«
»Wir sind Blutsverwandte, Ben. Du bist mein Bruder.«
»Wir hätten ein großartiges Team abgegeben.«
»Nein, Ben. Dein Weg ist nicht meiner. Das weißt du.«
»Ich schätze ja. Das kann hier auf zweierlei Weise enden, Har. Früher oder später werde ich ertrinken. Das Wasser steigt ziemlich gleichmäßig, und ich kann dir sagen, es ist verteufelt kalt. Ich will nicht ertrinken.«
Darauf wußte Harley keine Antwort. »Ben, was sage ich Da und Jolee?«
»Ich weiß es nicht mehr. Du wirst es selbst entscheiden müssen. Du bist jetzt dein eigener Mann. Vor ein paar Jahren wärst du gegangen. Aber nicht jetzt. Ich glaube ehrlich, du hättest auf mich geschossen.«
»Ich glaube, da hast du recht.«
»Na gut dann, Bruder. Jetzt bitte ich dich darum Ich will hier unten weder erfrieren noch ertrinken. Erinnerst du dich, wie wir auf den Taylorrücken mit dem Bogen auf die Jagd gegangen sind? Erinnerst du dich, was wir tun mußten, als wir das Reh nur verwundet hatten? Ich will nicht ertrinken. Du weißt, was du zu tun hast.«
Harley verstand. »Ich habe dich geliebt, Ben«, sagte er. Dann legte er den Daumen auf den Feuerknopf des Steuerknüppels. Ein Wummern schlug durch das Wasser, als er seine Autokanone aus nächster Nähe auf die Pilotenkanzel des Timber Wolf abfeuerte.
Harleys Enforcer brach durch die Wasseroberfläche. Er sah Livia Hawkes Orion neben Jords Victor stehen. Zu seiner Überraschung hatte der Regen aufgehört, auch wenn der Himmel immer noch düster war. Für The Rack war das ein klarer Tag. Er watete aus dem tiefschwarzen Wasser und blieb vor seinem befehlshabenden Offizier und seinem Freund stehen.
Jords Stimme hallte in seinen Ohren. »Bist du in Ordnung, Teufelskerl? Was ist da unten vorgefallen?«
»Mir geht es gut«, erwiderte Harley und stieß einen langen Seufzer aus. »Der Pilot des Timber Wolf ist tot.«
»Es tut mir leid, Harley«, erklärte Hawke leise. »Du hast das Richtige getan. Das weißt du, nicht wahr?«
»Ja, Ma'am, ich habe getan, was ich tun mußte.« Es kostete ihn Mühe, die Worte herauszubringen. Es war, als wöge jedes von ihnen einen Zentner. »Und mir tut es auch leid. Wie wäre es, wenn wir zurückgehen und nach Hause fliegen?«
»Ich würde sagen, unsere Arbeit hier ist getan«, stimmte Hawke ihm zu. Dann drehte sie den Orion um und machte sich auf den langen Weg zurück zum Rest von Able's Aces.

BattleTech 50: MechWarrior Trilogie
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