22
Korisches Tiefland, außerhalb Niffelheims, Kore Peripherie22. April 3060
Goldjunge trug Sturm Kintaro schnell über die dunkle Permafrostlandschaft Kores. Der Mech kam gut voran, mit rund sechzig Stundenkilometern, für die riesige Kampfmaschine ein schneller Trab. Sturm wollte sich nicht zu schnell bewegen, um den Mech nicht unnötig aufzuheizen und so die Gefahr einer Entdeckung zu vergrößern. Die meisten Wärmetauscher des Goshawk arbeiteten ohnehin im Leerlauf, um die an die Außenluft abgegebene Hitze auf das absolute Minimum zu begrenzen. Er wollte nicht von irgendwelchen Sensoren oder Routinepatrouillen der Piraten bemerkt werden. Dadurch war das Innere der Pilotenkanzel ungewöhnlich warm, und Sturm schwitzte bereits in Strömen, als er aus dem Gebirge kam. Er war sich allerdings nicht sicher, ob das am Hitzestau des Mechs oder an seiner Nervosität lag. Was er hier veranstaltete, war gleichermaßen waghalsig und gefährlich. Wenn Krenner das geahnt hätte ...
Aber Krenner ahnt nichts davon, dachte Sturm. Der alte Feldwebel würde ihn mit einem Donnerwetter empfangen, wenn er erst zurück war, aber Sturm hatte keine andere Wahl gehabt. Susie Ryan drohte, seinen Vater umzubringen. Das konnte Sturm nicht zulassen. Nicht, solange er die Möglichkeit hatte, etwas dagegen zu unternehmen. Selbst wenn das genau das war, was Ryan von ihm erwartete.
Er steuerte den Mech geschickt über die Tundra und orientierte sich dabei ausschließlich mit Hilfe des Sternenlichts und der lichtverstärkenden Optiksensoren des Goldjungen. Mehr brauchte er auch nicht. Er hatte das korische Tiefland in den letzten Jahren auf seinen Trainingmissionen in alle denkbaren Richtungen durchquert und kannte es wie seine Westentasche. Er wußte, wo die Bodenspalten und Schlote waren, denen er ausweichen mußte. Und er wußte, wie er das Gelände dazu ausnutzen konnte, seine Annäherung an die alte Basis der Lanciers zu verbergen.
Sturm bewegte Goldjunge an der äußersten Grenze der Sensorenreichweite der Basis in einem weiten Bogen um die Anlage. Auf diese Entfernung waren die Ortungsanlagen notorisch unzuverlässig. Sie fingen ständig irgendwelche magnetischen und thermischen Impulse aus der Umgebung auf, und alle Lancier-Techs hatten schon vor Jahren gelernt, daß es sinnlos war, auf diese »Geisterbilder« zu reagieren. Sturm war sich nicht sicher, ob die Piraten ebenso nachlässig sein würden, aber inzwischen waren sie wahrscheinlich an das ständige Auftauchen von Geisterbildern auf ihrer Ortung gewöhnt, und eines mehr oder weniger würde nicht auffallen.
Als er näherrückte, kam ihm die Natur zu Hilfe. Sturm schaute auf die Langstreckenortung und lächelte grimmig. Von Norden zog eine Gewitterfront heran. Es war Unwettersaison, und plötzliche, heftige Schneestürme waren an der Tagesordnung. Das Schneetreiben würde helfen, seine Annäherung zu verschleiern, und möglicherweise würde er sogar näher an die Basis kommen können als er ursprünglich geplant hatte. Er blickte noch einmal auf den Monitor. Die Front müßte in ein paar Minuten hier sein.
Tatsächlich frischte der Wind schnell auf und trieb reichlich Pulverschnee vor sich her. Der Himmel verdunkelte sich, als sich schwere Wolken vor die Sterne schoben und ein heftiger Schneefall einsetzte. Innerhalb von Minuten verwandelten sich die zunächst vereinzelt fallenden Flocken zu einem dichten weißen Vorhang vor den Kameras des Mechs. Sturm bremste Goldjunge ab, um sich in der weißen Flut nicht zu verirren. Die Mechsensoren waren unter diesen Bedingungen nahezu wertlos, und den Ortungsanlagen der Basis konnte es nicht besser gehen.
Er bewegte den Goshawk bis auf zwei Kilometer an den Stützpunkt heran, deutlich weiter als er es normalerweise gewagt hätte. Er wußte von einer tiefen Bodenspalte dort, auf die er bei den Trainingsläufen wiederholt gestoßen war. Sie war ein bevorzugter Standort für Hinterhalte gewesen. Mit äußerster Vorsicht lenkte er den mittelschweren ClanMech in die Spalte. Die zehn Meter große Maschine ging auf Sturms Befehl langsam in die Hocke und setzte sich auf den Boden der engen Schlucht, so daß sie von der Oberfläche aus nicht mehr zu sehen war.
Nachdem der Mech abgestellt war und Sturm sich vergewissert hatte, daß der Kampfkoloß sicher stand, schaltete er alle Hauptsysteme Goldjunges ab. Er vergewisserte sich noch einmal, daß die Steuersysteme fest auf seine Gehirnwellen eingestellt waren. Jeder andere, der versuchte, seinen Mech zu steuern, würde einen schweren Nervenschock erleiden und den Goshawk keinen Meter weit bewegen können. Dann schaltete er den Neurohelm aus und streifte die Kühlweste ab.
Sturm Kintaro griff hinter die Pilotenliege zu der kleinen Plastikkiste. Er zog ein Handtuch heraus und trocknete sich den Schweiß ab, so gut es ging. Dann warf er das Handtuch zurück und griff sich den Uniformoverall. In der Enge des Mechcockpits war es nicht gerade einfach, sich umzuziehen, aber es mußte gehen. Über den Overall schnallte er einen Pistolengurt, dessen Holster mit der Laserpistole er am linken Bein festzurrte. Ein Kommandomesser verschwand in einer Stiefelscheide. Dann holte Sturm die Polarausrüstung hervor: eine parkaähnliche Jacke mit enganliegender Kapuze, thermalgefütterte Handschuhe und eine getönte Schutzbrille gegen den Schneesturm.
Er öffnete das Kanzeldach ein wenig, und ein eisiger Windstoß fuhr ins Cockpit und brachte ein paar Schneeflocken mit. Die Hitze in der Kanzel war schnell verflogen. Sturm beeilte sich, die Polarausrüstung anzulegen. Als er fertig war, holte er den kleinen Rucksack aus der Kiste und stieß das Kanzeldach ganz auf. Er richtete sich zu voller Größe auf, um den Rucksack überzuziehen und zurechtzurükken, bis er bequem saß. Sturm bewegte die Schultern ein wenig, damit sich das Gewicht gleichmäßig verteilte, während über ihm der Wind über den Rand der Bodenspalte heulte.
Vorsichtig kletterte er aus dem Cockpit auf den Rumpf Goldjunges und warf das Kanzeldach zu. Es schnappte hörbar ein. Sturm balancierte vorsichtig auf der breiten Schulter des Mechs. Das dumpfe, metallische Knacken des in der frostigen Luft abkühlenden Metalls war über dem Brausen des Winds kaum wahrnehmbar. Mit Hilfe der Wartungshandgriffe kletterte er an der »Haube« empor, die den Kopf des Goshawk nach hinten beschützte. Im Augenblick lag sie fest an der Seitenwand der Bodenspalte und reichte fast hoch genug, um Sturm deren Oberkante erreichen zu lassen.
Auf der Spitze der Haube angekommen, holte er ein paar Kletterhaken aus dem Rucksack und hämmerte sie in die Wand. Die wenigen Meter bis zur Oberkante hatte er schnell überwunden. Er rückte den Rucksack neu zurecht und machte sich auf zur Basis.
Unter normalen Umständen wären die zwei Kilometer bis zum Stützpunkt kein Problem gewesen. Auf Kore waren alle MechKrieger darauf trainiert, sich durch das lebensfeindliche Terrain des Planeten zu bewegen. Aber in einem Schneesturm herrschten besondere Bedingungen. Die Sicht war extrem eingeschränkt, und es bestand eine reale Gefahr, sich zu verirren. Ein normaler Kompaß funktionierte in Kores ungewöhnlichem Magnetfeld nicht. Aber Sturm hatte den Goshawk so eingestellt, daß er auf einer bestimmten Frequenz in regelmäßigen Abständen ein Peilsignal aussandte, an dem er Entfernung von und Richtung zu seinem Mech ablesen konnte. Das erhöhte zwar etwas die Gefahr, daß der Mech entdeckt wurde, machte es aber zugleich erheblich unwahrscheinlicher, daß Sturm in die Irre lief und erfror.
Er marschierte durch den Sturm auf die Basis zu und achtete darauf, das Signal des Goshawk immer im Rücken zu haben. Der Schneesturm reduzierte die Sicht auf ein, zwei Meter, und auf dem Boden entstanden schnell Verwehungen, die das Fortkommen zusätzlich erschwerten. Er brauchte einige Zeit, den Rand der Basis zu erreichen. Sturm erschien es wie eine Ewigkeit, aber tatsächlich war es nur eine gute Stunde gewesen.
Vorsichtig ging er am Außenzaun der Anlage
entlang. Er hatte Glück. Die Piraten hatten sich nicht die Mühe
gemacht, den Schaden zu reparieren, den Sturm an dem
Maschendrahtzaun angerichtet hatte, als er die anderen Lanciers aus
der Gefangenschaft befreit hatte. Er kletterte über den halb vom
Schnee begrabenen Zaun und lief auf die durch den weißen
Schneevorhang kaum zu erkennenden Lichter der Gebäude zu.
Vermutlich hatte Ryan seinen Vater irgendwo in ihrer Nähe
untergebracht, wo sie jederzeit Zugriff auf ihn hatte. Sturm kannte
den Grundriß der Anlage genau. Sie war seit mehreren Jahren sein
Zuhause gewesen. Er war sich ziemlich sicher, wo die Piraten
Gefangene unterbringen würden, besonders einen einzelnen
Gefangenen, der für ihre Kommandeurin von besonderem Wert war. Die
Piraten waren vernünftig genug, bei einem solchen Wetter keinen Fuß
vor die Tür zu setzen, also war niemand auf Posten am Eingangstor
der Basis. Die BattleMechs der Raumpiraten standen entweder
ebenfalls sicher und trocken im Hangar, oder sie patrouillierten
außerhalb der Anlage. Sturm sah jedenfalls keine Spur von
ihnen.
Er bewegte sich am Rand der Anlage auf sein Ziel zu. Unterwegs zog er den Rucksack von den Schultern und holte ein paar Sachen heraus, die er brauchen würde, wenn dieses Unternehmen ein Erfolg werden sollte.
Das Hauptgebäude zu erreichen, erwies sich nicht als Problem, ebensowenig wie das Überwinden der Alarmanlage am Eingang. Sturm kannte die Zugangscodes. Den Hauptcode hatten Ryans Piraten natürlich geändert, aber das System verfügte über einen zusätzlichen Satz Notfallcodes für den Fall, daß es unter Fremdeinfluß geriet. Dieses Untersystem schienen die Piraten noch nicht gefunden oder abgeschaltet zu haben. Sturm war innerhalb von Sekunden im Innern des Gebäudes, ohne daß irgend jemand etwas davon bemerkte.
Drinnen angekommen, zog er die Laserpistole und hielt sie im Anschlag, während er den Gang hinab zur Treppe schlich. Er konnte nicht riskieren, die Aufzüge zu benutzen und womöglich steckenzubleiben. Glücklicherweise lag der Kerker der Zentrale nur zwei Stockwerke tiefer. Kein Problem also, beruhigte Sturm sich, während er den Gang hinauf- und hinunterschaute. Niemand in Sicht.
Er sprintete den Korridor hinab bis zur Tür, stieß sie auf und preßte sich flach an die Wand, als die Tür wieder zuschwang. Er war im Treppenhaus. Noch immer war niemand zu sehen. Irgendwie wunderte es ihn, daß die Piraten keine Posten aufgestellt hatten, aber andererseits wußte er nicht, wie groß Ryans Truppe war. Nach allem, was die Lanciers berichtet hatten, die den Angriff auf Niffelheims beobachtet hatten, besaßen ihre Gegner Mechs und Infanterie, aber möglicherweise hatte Ryan die anderweitig im Einsatz. Oder sie erwartete hier einfach keine Schwierigkeiten. Oder vielleicht ist das auch eine Falle. Sturm hatte diese Möglichkeit schon mehrmals in Betracht gezogen, aber auch das konnte ihn von seinem Vorhaben nicht abbringen.
Er arbeitete sich leise die Treppen hinab in den Tiefkeller des Gebäudes, der eine kleine Anzahl von Kerkerzellen enthielt. Sie waren nur zum Einsatz gekommen, um gelegentlich einen Lancier zu disziplinieren, der im Suff über die Stränge geschlagen war und eine Gelegenheit brauchte, seinen Rausch auszuschlafen und über die Dummheit eines derartigen Benehmens nachzudenken. Sturm hatte selbst nie das Mißvergnügen gehabt, sie von innen zu sehen, aber er wußte, daß die Zellen alles andere als ein Hochsicherheitstrakt waren. Dementsprechend zuversichtlich war er auch, mit den Schlössern fertigwerden zu können.
Am Fuß der Treppe war eine Tür. Er versuchte die Klinke, stellte fest, daß die Tür nicht verriegelt war, und schob sie vorsichtig auf. Sie öffnete sich in einen Hauptkorridor, der sich durch den ganzen Tiefkeller zog. Die Zellen lagen am hinteren Ende des Stockwerks, etwa zehn Meter entfernt. Durch den Türspalt lugend, bemerkte Sturm einen einzelnen, gelangweilt wirkenden Piraten, der vor den Zellen an der Wand lehnte und den deutlichen Eindruck machte, daß ihm jede andere Beschäftigung lieber gewesen wäre. Er hatte eine Waffe umgeschnallt (vermutlich eine Pistole, dachte Sturm), und trug die bei Ryans Rebellen übliche Kombination aus Bestandteilen verschiedener Uniformen.
Was sein muß, muß sein, dachte Sturm. Er richtete die Laserpistole auf den Piraten und zielte. Der Laserstrahl ließ sich in zwei Stufen auslösen. Wurde der Abzug voll durchgezogen, feuerte die Waffe einen stark gebündelten Energiestrahl, der sich durch Fleisch, Stein und Metall brannte. Wenn man ihn nur leicht antippte, wobei ein schwacher Widerstand half, den Übergang zur vollen Stärke zu erkennen, lieferte die Waffe einen schwachen Lichtstrahl, der nicht stärker war als der eines Laserzeigestabs oder Entfernungsmessers, sich aber gut als Zielhilfe eignete. Auf der linken Schulter des Piraten erschien ein kleiner roter Punkt, der hoch zu seinem Kopf wanderte.
»Was, zum...« Der Pirat drehte sich um und bemerkte den Laserpunkt. Als er gerade reagieren wollte, zog Sturm den Abzug durch. Ein Knall tönte durch den Gang, als die abrupt aufgeheizte Luft entlang der Schußlinie sich explosionsartig ausdehnte, und ein rubinroter Lichtspeer bohrte sich durch den Schädel des Mannes. Der Pirat sackte augenblicklich tot zu Boden. Aus der Kopfwunde stieg Dampf auf, aber es floß kein Blut, weil die Hitze des Laserstrahls alle durchtrennten Blutgefäße augenblicklich versiegelt hatte.
Sturm rannte den Gang hinab, ohne der Leiche des Postens einen zweiten Blick zu gönnen. Zugleich tauchte im kleinen, vergitterten Sichtfenster einer der Zellentüren ein vertrautes Gesicht auf, dessen Augen sich überrascht weiteten, als sie den toten Wächter und die dunkel gekleidete Gestalt sahen, die durch den Korridor heranpreschte.
»Sturm!« stieß Dr. Kintaro halblaut aus. »Was
machst du ...?«
»Wir haben jetzt keine Zeit zum Reden, Vater«, unterbrach Sturm
ihn. »Geh weg von der Tür.« Der ältere Kintaro gehorchte, und Sturm
richtete den Laser auf das Türschloß. Er hatte keine Zeit, sich mit
Schlüsseln oder Zugangscodes herumzuschlagen. Statt dessen
zerschmolz die leuchtend rote Energiebahn Türschloß und Riegel
komplett, und die Zellentür schwang zum Gang hin auf.
Sturm streckte seinem Vater die Hand entgegen. »Komm, ich hol' dich
hier raus. Gehen wir.«
DR. Hidoshi Kintaro trat zu seinem Sohn in den Gang. Er starrte
schockiert auf den Leichnam seines Bewachers. »Sturm, du hättest
nicht herkommen dürfen«, meinte er.
»Ich mußte kommen«, antwortete Sturm.
»Nein, du verstehst nicht...« Dr. Kintaros Erklärung wurde von
einem Geräusch am anderen Ende des Ganges abgeschnitten.
Die Tür schwang auf, und eine kleine Gruppe Piraten stürmte herein.
Sie waren mit Sturmgewehren bewaffnet, die sie auf Sturm und seinen
Vater richteten.
»Keine Bewegung!« brüllte der vorderste Pirat. »Waffe fallen
lassen!« Den Bruchteil einer Sekunde überlegte Sturm, ob er feuern
sollte, aber die Piraten waren zu dritt, und alle drei hatten ein
Gewehr. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, zwei von ihnen zu
erledigen, bevor sie schießen konnten, hätte der dritte den
gesamten Korridor mit genügend Blei füllen können, um ihm und
seinem Vater den Garaus zu machen. Er ließ die Laserpistole zu
Boden fallen, und die Piraten rückten näher.
»Bleib in meiner Nähe und tu, was ich dir sage, Vater«, murmelte
Sturm. »Bitte.« Hidoshi Kintaro nickte kaum wahrnehmbar.
Als die Piraten die beiden Kintaros in Gewahrsam nahmen, erschien
eine weitere Gestalt in der Tür des Tiefkellers. Sie kam lächelnd
näher.
»Das ist also der junge MechKrieger, der mir so viel
Schwierigkeiten gemacht hat«, stellte Susie Ryan fest. Das gesunde
Auge der Piratenchefin glänzte triumphierend, und sie trug einen
breites Grinsen zur Schau. »Sturm Kintaro. Es ist mir ein
Vergnügen, dich endlich persönlich kennenzulernen.«