Blaine Lee Pardoe & Mel Odom

Blutsverrat 1

Vogelsangkamm, Caldarium Randgemeinschaft, Peripherie
15. Januar 3059

»Eulenschwarm Eins von Laterne Eins.« Von Billy Wallace kam keine Antwort. Das beunruhigte Oberleutnant Livia Hawke. Noch einmal überprüfte sie die Haupt-und Nebenschirme ihres Quickdraw. Die Sensoren meldeten keinerlei Feindaktivität in der Umgebung, während die beiden anderen BattleMechs ihrer Befehlslanze auf der Sichtprojektion deutlich zu sehen waren. Dasselbe galt für die Infrarot-Ortung und die Magnetischen Resonanztaster, die normalerweise die Fusionsreaktoren in der Nähe befindlicher Mechs ohne Schwierigkeiten entdeckten. Aber dieses Gelände war für akkurate Messungen einfach nicht geeignet.

Während ihre Kompanie unter Funkstille wartete, suchte Billy Wallace in seinem Jenner vor ihnen im Gebirge nach Spuren der Piraten. Eigentlich hätte er in einem Rafferimpuls Zeichen geben sollen. Nicht mehr als ein freundliches Anklopfen, nur um sie zu beruhigen, daß er noch unter den Lebenden weilte. Aber es kam nichts.

Wo steckte er?
Das Warten zehrte an den Nerven. Es war, als würden Ameisen über die Haut krabbeln. Hawke blickte vom Sekundärschirm hoch und durch das Polykarbon-Kanzeldach des Mechcockpits hinaus in die Nacht. So sehr sie es auch versuchte, sie konnte das Unbehagen nicht abschütteln, das von ihr Besitz ergriffen hatte. Mit dem Rest der Einserkompanie bewegte sie sich langsam und etappenweise weiter vorwärts und hoffte darauf, daß Wallace sie vor wirklichen Gefahren warnen konnte, bevor die Einheit in eine Falle tappte.

Das Gelände des Vogelsangkamms mit seinen steilen Klippen und den unzugänglichen, mit hohen Bäumen und dichtem Unterholz bedeckten Bergen war tödlich für Mechs. Die Kampfkolosse konnten zwar klettern, aber es kostete einige Mühe, sie unter diesen Bedingungen aufrecht zu halten. Ganz davon abgesehen, daß die Sichtweite praktisch gleich Null war. Dem bloßen Auge bot sich die Umgebung im fahlen Mondlicht nahezu zweidimensional dar. Selbst die IR-Optik des Quickdraw hatte Mühe mit dem schwierigen Terrain. Das lag nur zum Teil an den Geländebedingungen. Ein anderer Faktor war die Tatsache, daß Hawke einen recht alten Mechtyp steuerte. Hier draußen, in den dünnbesiedelten Weiten der Peripherie, hatte moderne Technik Seltenheitswert.

Andererseits kümmerte Hawke alte oder neue Technik wenig. Ein Mech war nur so gut wie der MechKrieger, der ihn steuerte. Außerdem hatten die Einheimischen bei den Meldungen über den Überfall auf Porth vor ein paar Wochen nur drei bis fünf Piratenmaschinen erwähnt. Sie waren in der Übermacht. Kompanie Eins würde keine Probleme damit haben, sie in die Flucht zu schlagen. Able's Aces beschützten die Siedlungswelten der Randgemeinschaft jetzt schon seit zwölf Jahren. Dafür wurden sie schließlich bezahlt.

Kommandanthauptmann Able persönlich hätte diese Piratenjagd geleitet, wenn nicht kurz vor seinem Abflug nach Caldarium Hopper Morrisons Bande eine Munitionsfabrik auf Waypoint überfallen gehabt hätte. Also hatte er die Mission Livia Hawke übergeben und sich stattdessen auf den Weg nach Waypoint gemacht.

In der Peripherie gehörten Piratenüberfälle zum Alltag, aber Morrisons Ausbeuter waren ebenso berüchtigt für ihre Gnadenlosigkeit wie für ihre Habgier. ›König‹ Hopper Morrison und seine Bande hatten sich in der letzten Zeit einen üblen Ruf erworben und beanspruchten inzwischen zwei nicht weit von der Randgemeinschaft gelegene Sonnensysteme. Morrison hatte die beiden bewohnbaren Welten Pain und The Rack getauft und sich dort derart gründlich eingegraben, daß niemand in der Lage war, ihn zu vertreiben.

Die Aces hatten die Piraten bisher abhalten können, aber ihre drei Bataillone waren durch die zum Schutz der sechs Systeme in ihrer Obhut nötig gewordene Aufteilung bedrohlich zerfasert. Morrison und seine Banditen wurden immer frecher und hatten sich sogar ausdrücklich angekündigt, bevor sie Waypoint angriffen, zwei Mechs zerstörten und sechzehn Fabrikangestellte umbrachten. Der Angriff war derartig provozierend ausgeführt, daß Kommandanthauptmann Able den eigentlichen Zweck der Attakke sofort durchschaut hatte: Sie sollte Zweifel an der Fähigkeit der Aces säen, die Welten der Gemeinschaft zu beschützen.

Auf Otisberg hatte auch Hawke schon gegen die Ausbeuter gekämpft und sich bei einem der jüngsten Scharmützel ein Andenken in Form einer zehn Zentimeter langen und vier Zentimeter breiten Narbe eingehandelt. Mit jedem neuen Schlag trieb Morrison einen tieferen Keil zwischen Able's Aces und den Rat der Planeten, der die Randgemeinschaft regierte.

Hawke drückte eine Taste und öffnete die Kommverbindung. Die Gedanken an Morrisons Bande hatten sie in Rage versetzt, und ihre Geduld war aufgebraucht. »Laterne Zwo von Eins.«

»Ich höre, Eins«, antwortete Benjamin Rassor mit ruhiger Stimme.
Trotz der Anspannung lächelte Hawke, während sie mit den Mechsensoren die Nacht abtastete. Benjamin war ein Vollprofi. Er war aggressiv und schnell, und er ergriff jede sich bietende Chance, ins Cockpit eines größeren und besseren Mechs umzusteigen. Sein Ehrgeiz und seine Energie waren mit der Grund gewesen, der sie bewogen hatte, sich auf eine Affäre mit ihm einzulassen. Trotz der Leidenschaft, die er im Bett an den Tag legte, unternahm er niemals den geringsten Versuch, den Rangunterschied zu verwischen, der sie bei der Arbeit trennte.
»Bereithalten, Zwo«, erklärte Hawke und faßte die Steuerknüppel. »Wir erkunden das Gebiet und versuchen herauszufinden, was aus Eulenschwarm geworden ist. Falls es Schwierigkeiten gibt, werden wir eine Hintertür brauchen.«
»Verstanden, Eins«, erwiderte Benjamin. »Wir stehen Gewehr bei Fuß. Gute Jagd.«
Hawke wurde in die Haltegurte gedrückt, als die Bein- und Hüftaktivatoren die sechzig Tonnen ihres Mechs in Bewegung setzten. Die normale Reisegeschwindigkeit des Quickdraw lag bei vierundfünfzig Stundenkilometern, aber das war unter den gegebenen Geländebedingungen zu schnell.
»Greifvogel Eins von Laterne Eins.«
»Verstanden, Laterne Eins. Greifvogel Eins hört.« Oberleutnant Jon Jamison befehligte die Fluglanze der Kompanie. Deren zwei SPR-H5 Sparrowhawk waren mit mittelschweren und leichten Lasern bewaffnet, und ihre Geschwindigkeit machte sie zu erstklassigen Angriffsjägern.
»Ich brauche einen Vorbeiflug, Greifvogel Eins«, gab Hawke durch. »Volle Sensorabtastung über eine Distanz von fünf Klicks von meiner Position. Kein Waffeneinsatz, es sei denn, ihr werdet angegriffen und habt ein erkennbares Ziel. Irgendwo da draußen wird eine unserer Einheiten vermißt.«
»Keine Sorge, Laterne Eins«, beruhigte Jamison sie. Er war ein vorsichtiger und fähiger Pilot und konnte mit jedem anderen mithalten, was Tapferkeit betraf. Greifvogel Eins breitet seine schützenden Schwingen über euch aus.«
Wieder suchte Hawke das Gelände mit den Sensoren ab. Mit jeder Minute wurde ihr unbehaglicher. Dank der Kameras und Elektronik des Bordcomputers lieferte ihr die Sichtprojektion eine 360°Rundumsicht, allerdings auf einen Winkel von 120 Grad komprimiert. Den Mech mit Hilfe der komprimierten Rundumdarstellung zu manövrieren, hatte zu den schwierigsten Aufgaben gehört, denen sie sich in der Mechausbildung gegenübergesehen hatte.
Sie überprüfte kurz ihre Waffen und Feuerleitkreise. Der Quickdraw war mit zwei mittelschweren Omikron 4000-Lasern an den Armen und zwei weiteren im Rücken bewaffnet. In Schulterhöhe war eine Delta-Dart-Langstreckenraketenlafette mit zehn Abschußrohren in dem Torso integriert, und eine Hovertec Vierer-Kurzstreckenlafette saß in der Mitte des Torsos. Hawke kannte den Quickdraw und seine Bewaffnung wie ihre Westentasche und fühlte sich gleich erheblich ruhiger, als die stetig grün leuchtenden Vorheiz- und Ladelichter auf der taktischen Anzeige volle Gefechtsbereitschaft signalisierten.
Sie öffnete die Verbindung zu ihrer BefehlsLanze. »Crosby.«
»Ich höre, Oberleutnant«, antwortete Crosby.
»Wir rücken aus. Ich übernehme die Spitze, Arnos deckt uns den Rücken. Das heißt, du kommst in die Mitte.«
»Verstanden, Boß. Diese Rumsteherei hier hat mir eh den letzten Nerv geraubt. Ich will mich austoben, was soll ich sonst hier.«
Hawke beobachtete, wie Leonid Crosbys Dervish aus der Deckung einer Baumgruppe trat. Crosby war impulsiv und aufbrausend. Wäre er nicht außerdem ein verteufelt guter MechKrieger gewesen, der in der Hitze des Gefechts ausgezeichnetes Unterstützungsfeuer lieferte, hätte Kommandanthauptmann Able ihn mit Sicherheit ein Dutzend Male degradiert und längst aus der Einheit geworfen. So mußte er nur regelmäßig Strafdienst für seine Verstöße ableisten oder bekam einen Teil des Solds gestrichen. Oder beides.
Hinter ihm brachte Derrick Arnos seinen Orion in Position. »Bereit« meldete er mit seiner sanften Flüsterstimme. Arnos war ein Rätsel für seine Kameraden. Niemand wußte genau, woher er kam oder was er getan hatte, bevor er sich bei den Aces verpflichtete, und er schien auch keinerlei Neigung zu verspüren, darüber zu reden. Hawke war es zufrieden, denn das einzige was sie über Arnos wußte, war auch das einzige, was sie interessierte: In einem Kampf konnte man sich auf ihn verlassen.
»Ausrücken«, befahl sie und beschleunigte den Quickdraw auf Reisegeschwindigkeit. Sie mußte herausfinden, was aus Billy Wallace und seinem Jenner geworden war, selbst wenn sie dazu mit ihrer Einheit geradewegs in eine Falle lief.
Sie blickte hoch zum Kanzeldach und sah die beiden Sparrowhawk der Greifvogel-Lanze an ihrer rechten Flanke vorbeiziehen. Im selben Moment loderte es unter den Jägern gleißend blau auf. Für einen Zivilisten hätte es möglicherweise nach einem strahlend blauen doppelten Blitzschlag ausgesehen. Für Hawke hatte der Anblick eine sehr viel düsterere Bedeutung: Partikelprojektorkanonen, mehrere sogar. Ein schlechtes Zeichen. Ein äußerst schlechtes Zeichen.
Sie griff nach den Funkkontrollen, aber es war schon zu spät. Raketenschwärme jagten zu den bereits beschädigten und von den PPK-Attacken geschüttelten Luft/Raumjägern hoch. Sie hörte Jamison aus dem Lautsprecher ihres Neurohelms kreischen, dann wurde sein Todesschrei abrupt von einem langen Rauschen abgeschnitten. Die Raketen hämmerten auf den Jäger ein, und er brach in einem Feuerball auseinander.
Der zweite Sparrowhawk versuchte abzudrehen und dem Angriff auszuweichen. Leuchtendgelbe Laserstrahlbahnen zuckten durch den Himmel und schnitten durch eine der Tragflächen. Keiner der beiden Piloten hatte Zeit, auszusteigen. Hawke war klar, daß sie beide tot waren. Innerhalb von Sekunden hatte ihre Kompanie ein Sechstel der Feuerkraft eingebüßt.
»Laterne Eins an alle«, rief sie über die Kommleitung. »Sie haben auf uns gewartet. Sofort auf Verteidigungsposition zurückfallen!«
Hawkes Stimme hallte durch ihren Helm, aber die einzige Antwort, die sie erhielt, war Rauschen. Die Piraten hatten die Aces in die Gebirgslandschaft des Vogelsangkamms gelockt und dann vom Rest des Universums abgeschnitten.
Sie saßen in der Falle.

BattleTech 50: MechWarrior Trilogie
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