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Außerhalb Thorpes, Slewis Randgemeinschaft, Peripherie26. Februar 3059 Aus dem Tagebuch des Harley Rassor:
Ich bin kein großer Schriftsteller. Aber nach allem, was heute Nacht und heute morgen geschehen ist, halte ich es für das Beste, wenn ich alles aufschreibe. Vielleicht hilft es mir, zu verstehen oder wenigstens halbwegs durchzublicken.
Ich bin achtzehn Jahre alt, so groß wie mein Da, mit breiten Schultern, aber hagerer Statur. Von den Holos von Mutti, die Da aufgehoben hat, weiß ich, daß ich mein schwarzes Haar, die grünen Augen und den dunklen Teint von ihr geerbt habe. Mutti ist kurz nach der Geburt meiner jüngsten Schwester Jolee gestorben. Ben war der einzige von uns, der sich wirklich an sie erinnert konnte. Er war sechs Jahre älter als ich, aber er hat weniger von ihr gesprochen als Da.
Nach dem, was heute Nacht geschehen ist, frage
ich mich, was Mutti jetzt von mir denken würde.
Der Plan für die Hinrichtung stammte von Da. Wir sind keine Mörder,
er nicht und ich auch nicht, genausowenig wie unsere Nachbarn. Aber
er kann furchtbar wütend werden. Ich habe seinen Handrükken und
seine Wut schon am eigenen Leibe zu spüren bekommen, wenn ich mich
ab und an zu spät nach Hause geschleppt habe, um meine Arbeit noch
anständig verrichten zu können. Normalerweise war ich dann bei Ben
gewesen, meinem älteren Bruder, der sich schon aus der Fürsorge von
Da entfernt hatte. Als Ben sich entschloß, mit Able's Aces
abzufliegen, bekam ich es von Da um so härter. Ich glaube, er hatte
Angst, daß ich auch abhauen könnte. Ich war damals siebzehn und
genau in dem Alter, zu tun, was mir gefiel. Ich bin aber geblieben,
weil ich wußte, daß Da mich brauchte, und ich war mir auch nicht
sicher, ob ich überhaupt Bedarf nach einer weiteren Welt als Slewis
oder auch nur Thorpe hatte.
Aber in manchen Nächten habe ich die Sterne rufen gehört.
Ich wünschte, ich wäre ihrem Ruf vor heute Nacht gefolgt.
Ich hatte mich im Geäst einer Cathbaal versteckt, als einer der
Handelsvertreter zum Pinkeln an den Baum kam. Er blieb die ganze
Zeit in Sicht seiner Freunde, und mir war klar, daß er Angst davor
hatte, was im Wald ringsum auf ihn warten könnte.
Ich wußte nicht, ob er mich entdeckt hatte, deshalb zog ich nur zur
Sicherheit das Jagdmesser aus der Scheide an meinem Gürtel. Ben
hatte die Scheide aus Ultethleder genäht, so weich wie Seide und
lautlos wie ein Windhauch. Der Händler hörte nichts, als ich die
Klinge blankzog. Ich wußte, wenn es sein mußte, würde ich ihn töten
und dann im Wald untertauchen. Aber das war nicht der
Plan.
Das Herz hämmerte mir in der Brust, als wollte es freibrechen, und
der beschleunigte Puls sagte mir, daß mein Körper für alle
Anforderungen gerüstet war, die ich an ihn stellen mochte. Ich
ballte die Faust um das Messer und atmete leise durch den Mund,
während ich ihn beobachtete.
Er war ein großer Kerl, fast zwei Meter lang, mit einem Stoppelbart
und harten Augen von der Farbe Fremdweltlerstahls. Er trug einen
LandungsschiffOverall in Rostbraun und Gold, reichlich schmutzig
und ein paarmal geflickt, mit dem Zeichen des Freihändlerkombinats,
für das er unterwegs war. Ich schätze, er war Anfang vierzig, etwa
so alt wie Da, aber der Vertreter war ein brutaler Kerl. Phelyn muß
furchtbare Angst vor ihm gehabt haben.
In mir stieg die Wut hoch, als ich daran dachte, was er und seine
Begleiter ihr und den beiden anderen Mädchen im Dorf angetan hatten
und welche Angst die Mädchen gehabt haben mußten. Und wieviel Angst
sie immer noch hatten. Ich hatte sie gesehen, und ich glaubte
nicht, daß ich den Klang ihrer von Schmerz erfüllten Stimmen jemals
würde vergessen können.
Ich verkorkte meine Wut, schob sie beiseite, um mich darauf zu
konzentrieren, wozu ich hier war. Das habe ich von Da gelernt. Er
hat mir erklärt, daß er sich verantwortlich dafür fühlt, wie ich
mit meiner Wut umgehe, weil ich die Neigung dazu von ihm geerbt
habe. Die Handelsvertreter hatten verdient, was sie erwartete, und
ich fühlte kein Mitleid mit ihnen. Es war kein echter Mord. Es war
Gerechtigkeit. Das sagten Da und die anderen. Sie sagten es
ziemlich häufig während der Planung. Ich glaubte daran. Wenn man
jemandem das Leben nimmt, braucht man so einen Glauben.
Der Vertreter behielt das Automatikgewehr in der Hand, während er
Wasser ließ, und sah dauernd über die Schulter zurück zu den fünf
anderen Männern, die nervös auf ihn warteten. Sie hatten alle
Gewehre, deswegen hielten wir uns versteckt, während wir sie
verfolgten. Sie wußten, daß etwas in der Luft lag, aber sie hatten
keine Ahnung, was sie erwartete.
Thorpe ist eine minimaltechnologische Gemeinschaft, weil seine
Bewohner es so wollen. Früher hat es einmal Bergwerke hier gegeben
und hochmoderne Verarbeitungsanlagen, mit aus dem harten Fels
gesprengten Tunneln, die sich tief in den Boden senkten. Das Erz
wurde ausgehauen und dann auf Schienen die Berge hinab zu den
Fabriken im Vorgebirge transportiert. In den Werken wurde das Erz
zu Metall verhüttet, und dann wurden daraus Bauteile geschlagen und
gegossen, die mit Frachtraumschiffen
ins All verschifft wurden. Als das Erz dann ausging, verschwanden
auch die Fabriken und die Kombinate, die sie gebaut
hatten.
Die Menschen, die hier zurückblieben, mußten sich ein neues Leben
aufbauen. Heute sind wir eine Agrargesellschaft, und nichts
bedeutet uns mehr als unsere Familie und unser Hof. Einen Hof kann
man zur Not wiederaufbauen. Eine Familie ist etwas für
immer.
In letzter Zeit, in den Jahren seit der Gründung des Rats der
Planeten, sind Thorpe und ein paar der anderen Dörfer effizienter
geworden und produzieren jetzt genug Weizen und Sojabohnen für
einen begrenzten Handel mit den FreihändlerLandungsschiffen, die
durch die Randgemeinschaft fliegen. Die meisten von ihnen haben
eine Lizenz vom Rat der Planeten, die von Able's Aces
gegengezeichnet ist, so wie das Kombinat, für das diese Vertreter
unterwegs waren. Aber das garantiert leider nicht, daß sie allesamt
gute Menschen sind.
»Mach hinne, Hackett«, rief einer der anderen Vertreter. »Wir haben
nicht die ganze Nacht Zeit. Die Blödmänner in Thorpe werden uns
nicht einfach hier verduften lassen, ohne zu versuchen, uns
aufzuhalten.«
»Ich komm ja schon, ich komm schon«, antwortete Hackett. Er knöpfte
seinen Overall zu und trabte zurück zu seinen Kumpels. »Dieses
verdammte Eingeborenenbier läuft geradewegs durch einen
durch.«
»Du solltest froh sein, wenn es das Bier ist«, erklärte ein
anderer, als sie sich wieder in Bewegung setzten. »Und kein
einheimischer Tripper von einer der Huren in Thorpe.« Sein
grausames Gelächter hallte durch den Wald.
Ich griff meinen Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne, um den
Kerl zu durchbohren. Phelyn war eine gute Freundin von mir, und die
beiden anderen Mädchen kannte ich auch. Sie waren keine Huren, nur
ganz normale Mädchen, die sich von den wilden Geschichten und
dicken Bündeln mit C-Noten hatten einfangen lassen und einer Bande
wilder, brutaler Kerle zu nahe gekommen waren. So etwas war Mädchen
in Thorpe schon früher zugestoßen, aber das hatte lange Jahre
zurückgelegen. Ich atmete langsam aus und entspannte den Bogen, als
ich mich an die Ermahnung von Da erinnerte, daß wir sie alle
erwischen wollten, statt auch nur einem die Gelegenheit zu geben zu
entkommen.
»Wenn du die verdammte Packratte besser
bewacht hättest, brauchten wir jetzt nicht mitten durch diesen
Scheißwald zu stiefeln«, beschwerte sich Hackett.
»Wir haben sie noch nie bewachen brauchen«, gab der andere zurück.
Er trat in eine Lichtung, auf der das Mondlicht durch das
Blätterdach brach, und einen winzigen Augenblick stand er im Licht.
Ich erkannte ihn an der Narbe über den Augen. Es war Jenkins, der
Händler, der die Gruppe anführte. Bei dem Überfall auf die drei
Mädchen hatte er die Männer nicht angeführt, aber er hatte
mitgemacht.
Ich war es gewesen, der ihr Fahrzeug außer Gefecht gesetzt hatte.
Es war ein alter Fernaufklärer Typ Rickratte, aber das Freihändlerkombinat hatte ihn
zum Frachttransporter umgebaut. Im Vergleich dazu, wie Ben und ich
den alten Commando wiederhergerichtet
hatten, der auf unserem Gelände stand, war es ein Kinderspiel
gewesen. Daran hatten wir gemeinsam gearbeitet, und dann hatte er
mir beigebracht, den Mech zu steuern. Es war ein alter
Schrotthaufen, der in einem Kampf keine zehn Minuten überlebt
hätte, aber er gehörte uns, und ich hatte gelernt, ihn zu
fahren.
Da hatte darüber nie ein Wort verloren. Inzwischen verstehe ich
auch, warum. Ich brauchte keine zwei Minuten, den Reaktor außer
Betrieb zu setzen. Jetzt hatten die Vertreter einen langen
Fußmarsch zurück in die Stadt vor sich, über Wege, an denen wir auf
Posten gegangen waren, um sie für ihr Verbrechen
hinzurichten.
Ich trug meine Jagdmontur aus weicher, schwarzer Terrighaut, die
ich selbst zugeschnitten und zu einer ärmellosen Joppe und Hose
genäht hatte. Jolee hat mir beim Nähen geholfen. Sie hat bei Dama
Elaine gelernt, der besten Schneiderin von Thorpe, deren Arbeiten
die Handelsvertreter immer als erstes kaufen.
Nach konventionellen Maßstäben waren meine Sachen vielleicht nicht
sonderlich ansehnlich, aber sie erfüllten ihren Zweck bestens und
halfen mir, in der Nacht unterzutauchen. Die Schleichanzüge, die
ich beim Miliztraining gesehen habe, sind natürlich viel besser,
aber mit meiner Jagdmontur und meinem Wissen über das Gelände war
ich fast genauso unsichtbar.
Dann machten die Vertreter bei ihrem plumpen Getrampel durchs
Unterholz mir plötzlich einen Strich durch die Planung. Der Waidweg
teilte sich, und ich hatte erwartet, daß sie sich an den stärker
ausgetretenen Pfad halten würden. Ich hatte meinen Weg so angelegt,
daß er parallel zu ihrem verlief. Aber sie waren nicht völlig
bescheuert. Der Nebenweg verlief in direkterer Richtung nach
Clowater's Crossing und zu Belloqs Fähre.
Ich rannte hinter ihnen her, sprang über Felsen und umgestürzte
Bäume, und merkte mir diejenigen, die ich später zu Brennholz
zerkleinern will. Uns steht dieses Jahr wieder ein harter Winter
bevor. Dann konzentrierte ich mich wieder auf die Jagd.
Da setzt mir ständig wegen meiner Neigung zu, die Gedanken
schweifen zu lassen, aber er kennt auch deren Wert. Manchmal fallen
mir Möglichkeiten ein, die andere übersehen haben, und ich
entdekke, was andere nicht bemerken. Ich bin neugierig, und er
findet das eine Veranlagung, die für einen Bauern nichts taugt. Ben
wußte immer viel klarer, was er wollte und wie er es bekam. Antrieb
... so hat Da es genannt. Das war einer der Gründe, warum er nicht
groß versucht hat, es Ben auszureden, als der sich Able's Aces
angeschlossen hat. sobald er die Gelegenheit dazu hatte.
Wegen des Lärms, den ich beim Rennen machte, machte ich mir keine
großen Sorgen. Verglichen mit dem Krach, den die Vertreter machten,
war ich geradezu leise, und es bestand keine Gefahr, daß sie mich
hörten. Ich lief den Berghang hoch und achtete darauf, mich nicht
in dem Gewirr von toten Zweigen und Ästen zu verheddern, das in der
Nähe des Kamms aufgehäuft war Oben angekommen, stierte ich durch
die Schatten und sah die Umrisse der Vertreter, die gerade in die
nächste Talsenke verschwanden. Sie zogen im Gänsemarsch vor mir
vorbei und hielten sich dichter beieinander als vorher.
Ein Vetchin brach aus dem Gebüsch, und seine vier Flügel schlugen
wild, als er aufgeschreckt in die Luft stieg. Er hatte eine
meterbreite Flügelspanne und machte gehörigen Lärm. Bis auf einen,
einen Mann namens Brewster, warfen sich alle Händler auf den Boden.
Ich hatte Brewster schon früher getroffen und erinnerte mich an
seine Gestalt und Bewegungen. Ich beobachtete ihn, wie er
geschmeidig wie Sahnebutter das Automatikgewehr hoch und
herumriß.
Einen Pulsschag später explodierte der Vetchin zu einer Masse aus
Federn und Blut. Ich hörte keinen Schuß, also mußte Brewster einen
Schalldämpfer benutzen. Mit dem Vorteil auf seiner Seite konnte er
in den Schatten des Waldes untertauchen und auf die Bauern und
Hirten Jagd machen, die ihn verfolgten, um Rache für Phelyn und die
anderen Mädchen zu nehmen.
Die vertraute eisige Hand der Furcht kroch über meinen Nacken und
glitt mir den Rücken hinunter, als ich an die Männer dachte, die
sich für dieses Unternehmen gemeldet hatten. Ich kannte sie alle,
und mit den meisten war ich befreundet.
Die fünf anderen Vertreter kamen langsam und laut fluchend wieder
auf die Beine. Einer von ihnen lachte.
Ich wollte gerade weitergehen, als ich einen Luftzug schräg hinter
mir spürte. Ich sah über die Schulter und entdeckte meine Schwester
Jolee hinter mir im Unterholz sitzen.
Sie ist blond, genau wie Ben, der unserem Vater so sehr ähnelt. Sie
hat ein herzförmiges Gesicht, und aus ihren klaren blauen Augen
leuchtet in aller Regel der Schalk.
»Was?« fragte ich sie.
»Sie haben den Weg verlassen«, flüsterte sie.
»Ich weiß.«
»Da will, daß du sie zum Umdrehen bringst oder wenigstens
aufhältst. Er braucht noch ein paar Minuten.«
Ich wurde ärgerlich. »Hat er irgendeinen Vorschlag anzubieten, wie
ich das zuwege bringen soll?«
Sie zuckte die Achseln wie nur Jolee es kann. Ich habe schon
gesehen, wie sie mit ihrem Schulterzukken jungen Burschen das Herz
gebrochen hat. »Er hat gemeint, das überläßt er dir. Sie warten auf
der Lichtung. Wir müssen sie aufhalten, bis er soweit ist. Und sie
müssen im Freien bleiben.«
»›Wir?«
»Da hat mir gesagt, ich soll bei dir bleiben. Er will kein Risiko
eingehen, daß sie mich im Wald erwischen, nachdem du sie gestoppt
hast.«
Das machte Sinn, aber mir war auch das Risiko klar, das damit
verbunden war. Und ich war mir sicher, daß Da es ebensogut kannte.
Es war eine enorme Ehre, daß er mir so vertraute und mir zutraute,
auf Jolee aufzupassen. Da ist ziemlich geizig, wenn es um Lob geht,
aber wenn man welches von ihm bekommt, wiegt es doppelt und
dreifach.
»Okay«, sagte ich. »Aber du tust genau, was ich dir
sage.«
»Sicher.«
Ich war überrascht, wie schnell sie mir zustimmte »Harley«, fügte
sie leise hinzu. »Eine eigene Meinung haben bedeutet nicht, daß man
blöd ist.«
»Ist klar« Der Lärm der durch das Gebüsch brechenden Vertreter
erinnerte mich, daß mir die Zeit davonlief.« »Du bleibst vier Meter
hinter mir, und wenn wir losrennen, halt dich im Gebüsch und nimm
Kurs auf Thorpe. Ich werde direkt hinter dir sein, also keine
plötzlichen Halts.«
Sie nickte, und ihre blonden Locken hüpften. Ich nickte ebenfalls,
dann lief ich los, und meine langen Beine fraßen die Entfernung zu
den Fremdweltlern. Ich lauschte auf Jolee und hörte sie in der
vereinbarten Entfernung hinter mir.
Ich zog den Kompositbogen von der Schulter und zog drei Pfeile aus
dem Köcher an meinem rechten Oberschenkel. Zwei behielt ich in der
Linken, den dritten legte ich auf. Ich hielt die Sehne und die
Fiederung des Pfeils locker mit drei Fingern, sobald ich sicher
war, daß er sauber anlag.
Ich zielte, spannte, atmete halb aus und schickte den ersten Pfeil
auf die Reise. Ich war mir ziemlich sicher, daß sie das aufhalten
würde, bis Da und die anderen soweit waren.