20

In der Nähe des Kapidan, Toffen Geisterbären-Dominium
1. April 3062

Von ihrer Position auf einem riesigen Felsblock auf dem Gipfel des Berges blickte Angela Bekker auf den Fluß hinab, der unter ihr in einer weiten Biegung durch das Tal verlief. Der Rapidan besaß eine recht starke Strömung. Er war fast achtzig Meter breit, und tief und tückisch genug, um eine Durchquerung mit einem BattleMech ebenso gefährlich wie mühsam zu machen. Auf der anderen Seite des Flusses war ihr BefehlsStern in Position gegangen, nachdem er den Strom an weiter flußaufwärts gelegenen Furten überquert hatte. Die Mechs bewegten sich an den hohen Klippen entlang, auf der Suche nach geeigneten Gefechtspositionen.

Ihr Executioner stand nur wenige Meter entfernt. Sein Schatten dehnte sich hinter ihm auf den dichten Wald zu. Das Gelände hier gefiel ihr. Es war gut geeignet für eine Operation, wie sie ihr vorschwebte. Nicht perfekt, aber gut genug für einen weiteren vernichtenden Schlag gegen die Wölfe, die es gewagt hatten, Toffen zu entweihen. Richtig ausgeführt, konnte dieser Angriff den Wölfen noch mehr Schaden zufügen und sie weiter ausbluten.

Angela sah sich beinahe sehnsüchtig zu ihrem Executioner um. Er war kein Zuhause, sondern eine Kampfmaschine, aber ihr diente er häufig als ein Heim. Er war ein Teil von ihr, und bis jetzt hatte er in diesem Feldzug noch keinen Schaden davongetragen. Ihr Blick löste sich von dem OmniMech und stieg zum Himmel auf. Ihre HPG-Botschaft über den Versuch der Wölfe, Toffen zu erobern, mußte inzwischen bei ihren Kommandeuren eingetroffen sein, vielleicht sogar beim Khan persönlich. Würden sie zusätzliche Truppen aussenden, und wenn, wann?

Angela senkte den Blick und sah Constant Tseng mit verschränkten Armen unten stehen und darauf warten, daß sie ihn bemerkte. Sie stieg in einer Staubwolke den grauen Felsen hinab. »Ein annehmbarer Platz«, stellte sie fest, als sie in einem Satz zu Tseng hinabsprang.

Er nickte. »An dieser Biegung ist es unmöglich, den Fluß zu überqueren. Alles, was den Wölfen auf dieser Seite gegenübertritt, sitzt in der Falle. Zumindest muß es diesen Anschein haben.«

Sie gestattete sich die Andeutung eines Lächelns. »Ich weigere mich, Dirk Radick zu unterschätzen. Nach allem, was wir von ihm wissen, ist er skrupellos, aber kein Dummkopf. Wir haben seine Truppen schon zweimal in einen Hinterhalt gelockt und beschädigt, beim letzten Mal ernsthaft. Er wird versuchen, eine Wiederholung zu vermeiden.«

»Stimmt, aber hier arbeitet das Gelände gegen ihn.

Er kann versuchen, die Flanken zu umgehen, und sich einbilden, unseren Hinterhalt damit umgangen zu haben, aber im Endeffekt wird er genauso in der Falle sitzen.«

»Ich sollte mich also damit zufriedengeben, daß er glaubt, meinen Plan durchkreuzt zu haben?«
»Aye. Seine Kriegerinstinkte werden ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Wir haben selbst erfahren, daß es schwieriger ist, sich aus einem Kampf zu lösen als einen zu eröffnen.«
Angela sah auf die Uhr, dann warf sie erneut einen Blick hinüber zu ihrem Mech. »Ich habe eine Meldung von Stone erhalten«, meinte sie. »Sein Stern hat ausgekundschaftet, daß die Wölfe nur eine Handvoll ihrer am schwersten beschädigten BattleMechs zur Verteidigung des Forts zurücklassen. Ihre Patrouillen sind in letzter Zeit stark reduziert und bleiben in der Nähe der Operationsbasis. Aber der BefehlsStern ist in unsere Richtung unterwegs. Er sucht die Flußufer ab. In ein oder zwei Tagen müßten wir Kontakt haben.«
Tseng nickte. »Das ist aufschlußreich. Sie sind nicht mehr so forsch wie unmittelbar nach der Landung. Einen Teil ihrer Einheiten können sie nicht mehr komplett reparieren. Vermutlich zwingen wir ihnen das letzte an Ersatzteil- und Munitionsreserven ab.«
»Vielleicht. Aber ich weigere mich auch in dieser Hinsicht, Dirk Radick zu unterschätzen. Seine Blutsäufer gelten als Teil der Wolfsclan-Elite. Wir können nicht ausschließen, daß er von Stone weiß und ihm etwas vorspielt, was nicht den Tatsachen entspricht.« Bei diesem Gedanken lief ihr ein kalter Schauder über den Körper, und auf ihren Armen breitete sich eine Gänsehaut aus. »Wie ist unser Status?«
»Sorrenteno ist noch in der Obhut des Doktors. ChefTech Luray hat die IsorlaSummoner weitgehend einsatzbereit bekommen. Unsere Vorräte und Munition und Ersatzteilen sind reichlich. JagdStern operiert zwar nur mit etwa fünfzig Prozent Effizienz, aber es hat seiner Kampfmoral erheblich geholfen, daß Stone wieder im Einsatz ist. Hast du dich schon entschieden, wer den bevorstehenden Angriff leiten soll?«
»Wir haben mehrere Mechs und Krieger, die den Missionsanforderungen für diese Seite des Flusses gerecht werden«, antwortete Angela. »Gregori und sein Grizzly zum Beispiel, oder Kate und ihr Mist Lynx.«
»Und Bethanys Nova«, stellte Tseng fest, »erfüllt die Operationsparameter ebenfalls.«
»Wir brauchen für diesen Auftrag nur zwei Krieger, und Kate ist zur Zeit beim JagdStern«, meinte Angela mit leichtem Schulterzucken. »Damit bleiben uns Bethany und Gregori.«
»Zusammen?« Tseng gluckste. »Das ist eine Kombination, die ich instabil nennen würde, hauptsächlich, weil mir kein besseres Wort einfällt.«
»Vielleicht wäre ›unterhaltsam‹ passender«, gab sie zurück. »Du hast mir selbst geholfen, diesen Plan auszuarbeiten, Sterncommander. Wir brauchen zwei Mechs, die den Missionsanforderungen entsprechen, und das sind die beiden einzigen, die uns zur Verfügung stehen.«
»Wir gehen ein Risiko ein, indem wir unsicheren Elementen eine Schlüsselrolle in unserem Plan zugestehen.«
Angela blieb unbeeindruckt. »Im Krieg gibt es reichlich unsichere Elemente, Sterncommander. Ich vertraue den beiden. Aber glaube ja nicht, daß ich darauf verzichten werde, sie zu überwachen.«
»Ich werde Gregori informieren. Er wird sich in etwa zwei Stunden hier melden. Wir treffen uns dann auf der anderen Flußseite.«
»Sehr schön«, bestätigte Angela mit einem letzten Blick zurück auf den Fluß. »Mach ihm auch klar, daß sie zur Erfüllung eines Missionsauftrags zusammen losgeschickt werden, nicht, damit sie sich gegenseitig umbringen können. Wir wollen den Wölfen nicht die ganze Arbeit abnehmen. Ich werde mir Bethany entsprechend zur Brust nehmen.«

* * *

 

»Ich hasse dich«, fluchte Bethany in das Mikro ihres Neurohelms.

»Und ich empfinde nichts als Liebe für dich, Kanistergeburt«, antwortete Gregori.
»Unser Sterncaptain muß mich abgrundtief hassen, mich mit dir zusammen auf einen Einsatz zu schikken«»murmelte sie.
»Was für ein häßlicher Gedanke«, stichelte Gregori.
»Was werden unsere Kinder sagen?«
Der Gedanke, eine Wahrgeborene könnte Kinder gebären, war für eine wahrgeborene Kriegerin mehr als beleidigend, er war widerwärtig. Das Eugenikprogramm der Clans war darauf ausgerichtet, durch gezielte Zuchtmaßnahmen eine überlegene Kriegerrasse zu erzeugen. Zufallsbegattungen, die »Herstellungsweise« der Freigeburten, wurden als minderwertig verachtet und waren tabu. Zukünftige Generationen der Geisterbären stammten aus dem Genmaterial der besten Krieger, das von den Mitglieder der Wissenschaftlerkaste in den Labors sorgfältig vermischt wurde. Gregoris Andeutung, er und Bethany könnten sich fortpflanzen, war die Entsprechung einer gut gezielten Raketenbreitseite. Bethany sah rot. Sie machte die Waffenmodule scharf und drehte ihre untersetzte Nova herum, so daß Gregoris riesiger Grizzly unter dem Fadenkreuz lag. »Noch eine Beleidigung, Gregori, und ich erledige dich selbst.«
»Und stellst dich den Wölfen allein?«
»Aye«, bestätigte sie. »Lieber trete ich gegen einen Stern Wölfe an als mir deine Schweinereien anzuhören.«
Plötzlich drang ein scharfes Zischen aus den Lautsprechern ihrer Kommsysteme, als jemand ihre Unterhaltung unterbrach. »Hier spricht Sterncaptain Angela Bekker. Ich habe euren Funkverkehr überwacht. Ihr benehmt euch wie zwei läufige Surats. Alle beide: Haltet den Mund, oder ihr werdet mir im Kreis der Gleichen gegenübertreten müssen.«
»Verstanden, Sterncaptain«, erklärte Gregori.
»Aye«, bestätigte Bethany. »Aber wenn das hier vorbei ist, Sterncaptain, bitte ich um die Erlaubnis, dieser Freigeburt beizubringen, was Ehre ist.«
»Das hier erweist sich als ein noch größerer Spaß als ich erwartet habe«, höhnte Gregori.
Angela wollte sichergehen, daß beide den Ernst der Situation erkannten und einsahen, daß dies nicht der Zeitpunkt für ihre Streitereien war. »Wenn wir das hier überleben, habt ihr beide meine Erlaubnis, euch gegenseitig zu Brei zu prügeln. Aber jetzt zurück auf Posten! Behaltet die Ortung im Auge und macht euch bereit, auf die Wölfe zu treffen!«

* * *

Angela stand im dunkeln und betrachtete den Berg am anderen Ufer des Rapidan, auf dem sie einige Stunden zuvor noch gestanden hatte. Jetzt befand sie sich hoch auf den Felsenklippen, und tief unter ihr toste der Fluß. Mit ihrem elektronischen Fernglas konnte sie kurz hinter der Kuppe die schwachen elektromagnetischen Signaturen der beiden Mechs erkennen. Dort oben auf der Bergkuppe, unweit des Felsens, den sie als Aussichtspunkt erklettert gehabt hatte, waren sie für Wolf-Mechs, die sich in dieser Gegend aufhielten, nicht zu übersehen. Es war zwei Stunden her, daß sie gezwungen gewesen war, die beiden MechKrieger zur Ordnung zu rufen. In beiden brannte ein wütendes Feuer. Wenn es ihnen nur gelang, dessen Energie in die richtigen Bahnen zu lenken, konnten sie den Feind das Fürchten lehren.

Sie spürte die Anwesenheit einer zweiten Person und senkte das Fernglas. Als sie sich umdrehte, sah sie Neta in der Dunkelheit stehen. Nur die kleine Lampe, die sie am Handgelenk trug, machte sie erkennbar. »Du hast dich angeschlichen, Neta«, stellte sie fest. Einen Augenblick schlug ihr das Herz bis zum Hals bei dem Gedanken, daß es jemand gelungen war, ihr so nahe zu kommen, ohne bemerkt zu werden.

»Es tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe, Sterncaptain«, meinte Neta leise. »Ich bringe dir etwas Saft. Er ist nicht sonderlich kalt, aber durstlöschend.« Sie hielt ihr eine Tasse entgegen. Angela nahm sie und trank.

Neb hatte etwas Besonderes an sich. Angela hatte es schon bei ihrer ersten Begegnung gespürt, aber erst recht, nachdem Neta das Kommen der Wölfe vorhergesagt hatte. Ihr ganzes Leben lang hatte die Geisterbärin Witze über die Prophezeiungen der Novakatzen gehört. Jetzt hatte sie selbst eine erlebt, und sie war beeindruckt. »Es überrascht mich, daß du noch wach bist. Morgen könnten wir reichlich zu tun bekommen.«

Neta nickte einmal. »Morgen werden wir reichlich zu tun bekommen«, stellte sie mit großer Sicherheit fest. »Ich habe mich vor zwei Stunden schlafengelegt. Aber ich bin wieder aufgewacht. Ich hatte das Bedürfnis, dich zu besuchen.«

Angela lief ein Schauer den Rücken hinab. »Macht dir etwas Sorgen, Neta?«
»Neg, Sterncaptain. Aber dir macht etwas Sorgen: Die Entscheidung, Gregori und Bethany gemeinsam auszusenden.«
Angela zog die Stirne kraus. »Ich müßte lügen, wollte ich sagen, daß ich keine Bedenken deswegen habe.«
»Dazu besteht kein Grund, Sterncaptain. Du hast die richtige Wahl getroffen«, meinte Neta ruhig.
»Du hast in deinen Träumen etwas gesehen, Neta?«
»Aye, Sterncaptain.«
»Kannst du mir mehr darüber sagen?«
»Manchmal ist ein Blick in die Zukunft ebensosehr Fluch wie Segen. Ich habe nur ein Gefühl, mehr nicht.«
»Ich wünschte, ich könnte deine Gelassenheit teilen«, erklärte Angela.
»Vergiß nicht, Sterncaptain«, sagte Neta: »Es ist Feuer, das aus Eisen Stahl macht. Kein Feuer brennt heißer als die Glut der Schlacht.« Bevor Angela nachhaken konnte, drehte Neta sich um und verschwand wieder in der Dunkelheit. Zum ersten Mal seit Stunden wußte Angela, daß sie die nötige innere Ruhe hatte, um zu schlafen.

BattleTech 50: MechWarrior Trilogie
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