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Landungsschiffzone Clowster's Crossing, Slewis Randgemeinschaft, Peripherie13. März 3059
Auf dem improvisierten Landefeld, das im Grunde nicht mehr als ein abgeernteter Acker, markiert mit den Brandspuren früherer Starts und Landungen war, standen drei Landungsschiffe. Eines davon war das Schiff der Leopard-Klasse, an das Harley sich noch bestens aus der Nacht erinnerte, in der er und die anderen die Mädchen von Thorpe gerächt hatten. Die beiden anderen waren hoch aufragende kugelförmige Schiffe der Union-Klasse. Man sah allen drei Schiffen ihr Alter an. Die Rümpfe waren übersät mit Brandspuren, Schrammen und Meteorkratern, und einige alte Geschütztürme starrten noch vor Waffen. Eine Union trug die Insignien von Able's Aces - die General Gordon. Die beiden anderen waren Handelsschiffe.
Durch ihre schiere Größe beherrschten die Schiffe das Bild, aber noch auf dem Weg zu ihnen mit seiner Familie sah Harley auch die Menschenmengen unter den Schiffesrümpfen und die fast drei Stockwerke hohen BattleMechs, die rund um das Landefeld patrouillierten.
Der Anblick der Mechs nahm ihn unwillkürlich gefangen. Sie waren metallene Giganten, auch wenn sie jetzt durch die gewaltigen Landungsschiffe dicht hinter ihnen winzig erschienen. Die mit beinahe menschlichen Bewegungen über das Feld stampfenden Kampfkolosse schienen die Bürger und Händler, zu deren Schutz sie hier waren, kaum wahrzunehmen.
Harley rückte seinen Tornister auf dem Rücken zurecht. Er wußte aus seiner Ausbildungszeit, daß die Aces einem Rekruten in der Regel Waffen und Schutzkleidung stellten, aber er hatte trotzdem sein Messer dabei ebenso wie seine Jagdmontur. Natürlich würde er auch eine Uniform bekommen, aber es würde sicher auch Zeiten geben, in denen er eine andere Bekleidung bevorzugte. Während seiner Dienstperioden bei der Slewis-Miliz war es nicht anders gewesen. Außerdem hatte er noch ein paar weitere Kleidungsstücke und ein zusätzliches Paar handgenähter Mokassinstiefel gepackt, die ihm enganliegend bis an die Knie reichten. Jolee hatte sie genäht, und wohin immer es ihn verschlug, sie würden ihn an sie erinnern.
Auf Schulterhöhe ragte eine zerfledderte Ausgabe der gesammelten Gedichte von Byron, Shelley und Keats aus dem Tornister, die Da ihm zum dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte. Dreizehn war ein besonderes Alter für seinen Vater, ein Alter, in dem ein Junge die ersten Schritte auf dem Weg zum Mann machte. Das Buchgeschenk hatte Harley die Sprache verschlagen. Er hatte erwartet gehabt, vielleicht ein neues Messer zu bekommen, oder ein paar Fallen, weil er sich damals gerade mit Fallenstellerei ein wenig zusätzliches Taschengeld verdiente. Ben hatte im selben Alter einen Compblock bekommen. Harley hatte versucht, seine Enttäuschung zu verbergen, aber sein Vater hatte ihn durchschaut. Da hatte ihm auf die Schulter geschlagen und ihm aufmunternd zugelächelt. »Das ist ein Geschenk, dessen Wert nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, mein Junge«, hatte er gesagt. »Du wirst an ihm wachsen, und es an dir Im Moment bist du noch ganz Augen und Hände, aber das liegt daran, daß du nach etwas suchst, das dein Herz füllen kann.«
Da hatte recht gehabt. Und in den langen Tagen nach Bens Tod hatte Harley Trost in seinem geliebten Buch gefunden. Es hatte ihm geholfen, die Trauer durchzustehen.
Auf dem Weg zum Landefeld sprach Da mit ruhiger Stimme zu seinem einzigen überlebenden Sohn und achtete darauf, daß er seine volle Aufmerksamkeit hatte. »Du hast den größten Teil deines Lebens auf Slewis verbracht, Junge. Ich habe es dir schon einmal gesagt, aber wenn du dort draußen bist, wirst du einer Menge unterschiedlicher Leute begegnen. Manche davon werden gute Menschen sein, andere werden deine Werte nicht teilen. Wähle deine Freunde sorgfältig aus. Ein Mann wird daran gemessen, welche Gesellschaft er pflegt und was er sagt.«
Harley nickte langsam, ohne die Augen von den Mechs zu nehmen, die um das Landefeld patrouillierten. »Keine Bange, Da. Ich kann auf mich aufpassen.«
Das konnte seinen Vater nicht überzeugen. Er blieb stehen und legte Harley die Hände auf die Schultern, um sich seine Aufmerksamkeit zu sichern. Er sah ihm in die Augen. »Verlier dich nicht zu sehr im Augenblick, Harley. Ich kenne das Militärleben. Ich weiß, was es heißt, im Kampf zu stehen. Das ist kein Spiel, und im Gegensatz zu dem, was wir mit dem Vertreterabschaum gemacht haben, wirst du nicht nur zu deinen Regeln und Bedingungen kämpfen können. Du wirst schlauer, schneller und überlegter agieren müssen, wenn du am Leben bleiben willst. Benjamin habe ich schon verloren. Ich will dich nicht auch noch betrauern müssen.«
Seine Worte überraschten Harley. Er hatte seinen Vater nie auch nur andeuten hören, daß er irgendwelche militärischen Kenntnisse besaß. »Da, du weißt, daß ich zurechtkomme, im Feld und auch sonst, wenn es dazu überhaupt kommt. Ich werde herausfinden, was mit Ben geschehen ist, und es wiedergutmachen.« Er wollte seinen Vater noch danach fragen, was genau er vom Kampf und Soldatenleben wußte, aber da hatte Da sich schon wieder umgedreht und war weitergegangen.
Es war Jolee, die das Schweigen brach. »Das ist ein Black Knight«, sagte sie und deutete auf einen der Mechs. »Der andere ist, glaube ich, ein Hussar.« Auf der anderen Seite der Landungsschiffe waren noch drei Maschinen zu erkennen, aber durch die Schiffsrümpfe wurden sie teilweise verdeckt, so daß es schwerfiel, sie zu identifizieren.
Harley schüttelte den Kopf. Jolee hatte ebenso ein Miliztraining hinter sich wie er, aber ihr Wissen über BattleMechs war recht lückenhaft. »Netter Versuch, aber ich halte deinen ›Hussar‹ eher für einen Sentinel.«
»Bist du sicher?«»Wenn es ein Hussar
ist, wo ist dann der Laser über dem Cockpit?«
Sie sah hinüber zum Landefeld, dann runzelte sie die Stirn. »Na
gut, dann ist es eben ein Sentinel. Was
für einen Mechtyp wirst du zugeteilt bekommen, glaubst
du?«
Harley zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Möglicherweise teilt
Kommandanthauptmann Able mich ja auch zur Infanterie ein. Mir ist
das sowieso egal. Solange ich bei nur den Aces bin, damit ich
herausfinden kann, was mit Ben geschehen ist.«
Etwa zweihundert Meter vor dem Landefeld kam ihnen eine Streife der
Slewis-Miliz entgegen. Die mit schweren Zeus-Gewehren oder
Federated Long Rifles und Pistolen bewaffneten Milizionäre wirkten
verglichen mit den riesenhaften Schiffen und der Mechlanze zu ihrem
Schutz nicht sonderlich bedrohlich. Zusätzlich zu den über der
Schulter hängenden Gewehren hielten drei der Männer
Repetierschrotflinten in der Hand, und der Sergeant, der die kleine
Streife anführte, hielt eine ImperatorMaschinenpistole in der
linken Armbeuge.
Harley blickte in ein vertrautes Gesicht. Der Sergeant hieß Grant,
und er kannte ihn aus der Schule und seiner eigenen
Milizzeit.
»Guten Tag, Familie Rassor«, begrüßte Grant sie. »Die Händler
beladen gerade ihre Schiffe. Zutritt zum Landebereich nur auf
Befehl oder mit Genehmigung.«
Harley reichte ihm einen kleinen Datenchip. Grant nahm ihn und
schob ihn in seinen Armbandcomp, dann betätigte er mehrere Knöpfe.
Sekunden später sah er seinen Freund grinsend an. »Harley Rassor
geht zu Able's Aces? Du darfst an Bord der General Gordon gehen. Melde dich an der Rampe bei
Geschützfeldwebel Coombs. Er weist dich ein.«
Harley wußte, daß er seinen Vater und seine Schwester jetzt
verlassen mußte. Er drehte sich zu ihnen um und wollte gerade
Lebewohl sagen, als Grant murmelte: »Das ist seltsam.« Er sah auf
seinen Armbandcomp. »Ich habe deine Ankunft gemeldet, und als
Antwort eine Datei von Major Able persönlich zurückbekommen. Hier
steht, er will dich persönlich bei Able's Aces willkommen
heißen.«
Grant legte den Kopf zur Seite und sah Harley fragend an. »Du mußt
Freunde in einflußreichen Stellen haben, Schütze Rassor. Niemand
sonst hat eine persönliche Einladung vom Kommandeur bekommen.« Er
reichte Harley den Chip zurück, und der steckte ihn in die
Hosentasche.
Harley erwiderte Grants Blick, dann sah er zu seinem Vater hinüber.
Da zwinkerte ihm lächelnd zu. »Ich war nicht immer ein Bauer,
Junge. Kommandanthauptmann Able und ich kennen uns schon lange,
noch aus der Zeit, als es die Randgemeinschaft gar nicht gab. Hast
du gedacht, den alten Commando auf
unserem Gelände hätte der frühere Eigentümer da
vergessen?«
Harley war zu geschockt, um ein Wort herauszubringen, aber Jolee
benahm sich, als hätte sie nicht einmal gehört, was Da gerade
gesagt hatte. Sie umarmte Harley, und er drückte sie ebenso fest an
sich. Sein Vater streckte ihm die schwielige Hand zu einem festen
Händedruck entgegen. Mehrere Minuten sagte niemand ein Wort,
während Harley sich darüber klar wurde, daß er nicht nur sein
Zuhause hinter sich ließ, sondern auch das Leben, das er gekannt
hatte.
»Keine Sorge, Da. Ich finde raus, was mit Ben passiert ist. Und ich
werde einen Weg finden, es gutzumachen.«
»Aye«, äußerte sein Vater. »Paß nur auch auf dich selbst auf,
Junge.« Mit diesen Worten gab Da Harleys Hand frei, dann drehten er
und Jolee sich um und machten sich zurück auf den Weg zum in der
Ferne glitzernden Fluß.
Harley Rassor drehte sich um und schaute hinüber zu dem in den
Himmel aufragenden Landungsschiff Er rückte seinen Tornister
gerade, nahm die Schultern zurück und machte sich auf den
Weg.
Harley stand an der Rampe, die hinauf ins Innere der General Gordon führte, als eine grobe Stimme ihr
zusammenfahren ließ. »Wer bist du, und was machst du hier?«
herrschte die Stimme ihn an.
Harley wirbelte herum und prallte fast mit einem Muskelberg von
einem Mann mit kurzgeschorenem graumeliertem Haar zusammen. Auf dem
Ärmel seiner Uniform prangte unter dem Einheitsaufnäher von Able's
Aces der Keil eines Stabsfeldwebels.
Instinktiv wollte Harley salutieren, aber dann überlegte er es sich
rechtzeitig noch anders. Das war eine Lektion, die er in der Miliz
gelernt hatte. Wer vor einem Spieß salutierte, war entweder ein
Arschkriecher oder ein Idiot, und er hatte keine Lust, gleich am
erster Tag als das eine oder das andere abgestempelt zu werden.
Statt dessen nahm er zackig Haltung an. »Schütze Harley Rassor
meldet sich zum Dienst.«
»Order?« forderte der Feldwebel ihn auf.
Harley zog den Datenchip aus der Tasche und reichte ihn dem
Unteroffizier. Der Feldwebel schob ihn in seinen Compblock und sah
Harley schräg an. »Willkommen bei Able's Aces. Du bist Benjaim
Rassors Bruder, richtig?« Seine Stimme hatte einiges an Schärfe
verloren.
Harley nickte. »Ja, Stabsfeldwebel.«
»Geschützfeldwebel, Schütze. Merk es dir. Ich kannte deinen Bruder
ganz gut. Guter Mann. Schade um ihn.«
Harley wollte gerade etwas sagen, als der Boden unter seinen Füßen
erzitterte. Er drehte sich um und sah nur wenige Meter entfernt
einen riesigen OrionBattleMech. Trotz
des Flickenteppichs aus Austauschpanzerplatten, der seinen Rumpf
überzog, wirkte er um nichts weniger bedrohlich als an dem Tag, an
dem er vom Band gelaufen war. Harleys Blick wanderte von den
Metallfüßen den Mechrumpf hinauf bis zum Cockpit, unter dessen
polarisierten Kanzeldach der MechKrieger saß, der die humanoide
Kampfmaschine kontrollierte.
Aus einem Außenlautsprecher des Mechs donnerte eine Stimme.
»Geschützfeldwebel Coombs, wir heben in dreißig Minuten ab.
Beginnen Sie mit den Vorbereitungen. Ich werde in fünf Minuten der
Miliz den Befehl geben, die Zivilisten zu entfernen.« Die Stimme
gehörte einer Frau, aber sie stand der des bulligen Feldwebels in
nichts nach, was ihren Kommandoton betraf.
»Wer war das?« fragte Harley, immer noch hinter dem Mech
herblickend, der sich sofort wieder umgedreht hatte und jetzt
schwerfällig davonstampfte.
»Das war Oberleutnant Hawke, Kommandeurin Bataillon Eins, Kompanie
Eins. Du wirst unter ihrem Befehl dienen, Schütze.«
Hawke. Harley erinnerte sich an den
Namen. Sie war die einzige Überlebende des Gefechts am
Vogelsangkamm. Sie hatte überlebt, während sein Bruder Ben
gestorben war - unter ihrem Befehl. Und jetzt würde er sich bei ihr
melden müssen ...
»Wie ist sie so?« fragte er.
Der Geschützfeldwebel wischte seine Frage beiseite wie einen
Dunststreifen. »Das wirst du früh genug selbst herausfinden,
Schütze. Im Augenblick habe ich reichlich Arbeit und wenig Zeit.
Hebel deinen Kadaver an Bord und warte im Besprechungszimmer beim
restlichen Frischfleisch.«
»Frischfleisch?« Harley löste seinen Blick von dem Orion und sah den Geschützfeldwebel an.
Coombs schenkte ihm ein breites Grinsen. »Frischfleisch, Rassor.
Ersatztruppen. Mit anderen Worten, du.«
Damit ging Geschützfeldwebel Coombs davon und brüllte den anderen
Soldaten seine Befehle zu. Harley drehte um und machte sich auf den
langen Marsch die Rampe hinauf ins Innere des Landungsschiffes, das
ihn fort von dem einzigen Zuhause, das er je gekannt hatte, und
hinaus ins All tragen sollte.