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Außerhalb Thorpes, Slewis Randgemeinschaft, Peripherie26. Februar 3059 Aus dem Tagebuch des Harley Rassor:
Ben ist tot.
Es fällt mir immer noch schwer, es zu schreiben. Auf dem Weg nach
Hause erzählte Da mir, daß in
Kommandanthauptmann Ables Nachricht gestanden hat, daß Ben auf Caldarium beim Kampf gegen Piraten gefallen ist. Die Nachricht kam in Form eines Einsatzberichts, zusammen mit einem Beileidsschreiben. Able hatte sie über HPG geschickt, was reichlich teuer ist und eine großzügige Geste von ihm.
Das Problem dabei ist, daß das Hyperpulsgeneratornetz der Randgemeinschaft ziemlich alt ist und Nachrichten nur gebündelt versendet, und selbst das erst nach einer Wartezeit. Die Nachricht wäre beinahe auf einem Frachtraumer schneller hier gewesen.
Sie haben uns mitgeteilt, daß Ben fast augenblicklich tot war, genau wie der Rest der Einserkompanie. Drei Leichen, darunter Bens, waren so verkohlt, daß sie kaum noch zu identifizieren waren.
Und jetzt sitze ich hier im Schlafzimmer, in dem ich Ben zugehört habe, wie er von seinen Träumen erzählte, davon, was er alles noch sehen und erreichen wollte, und schreibe diesen Eintrag. Es gibt Nächte, die prägen das Leben eines Menschen und ändern seinen Lauf. Das hat Da mir schon immer gesagt. Jetzt verstehe ich endlich, was er gemeint hat. Heute nacht habe ich einen Menschen getötet, und ich habe erfahren, daß mein Bruder tot ist.
Ben war der Abenteurer von uns beiden, nicht ich. Ich habe schon immer die Freiheit geliebt, aber Ben lebte für eine andere Art von Freiheit als ich sie draußen in der Wildnis finde, weit weg von Thorpe, möglicherweise sogar auf anderen Welten. Ich habe auch schon an so etwas gedacht, aber nicht so wie Ben. Mir war der Wald um Thorpe immer groß genug, vollgepackt mit Abenteuer.
Aber nicht für Ben.
So leer das Zimmer war, seit er sich den Aces angeschlossen hat, es
war noch nie so leer wie heute. Es hat ewig gedauert, mich zu
waschen, all das Blut abzuschrubben. Nicht nur mein eigenes Blut,
vor allem das des Mannes, den ich getötet habe. Meine Jagdsachen
waren stellenweise stumpfbraun von eingetrocknetem Blut. Aber das
war alles ohne Bedeutung. Das einzige, was irgendeine Bedeutung
hatte, war Bens Tod. Ich wäre die ganze Nacht in meinem Zimmer
geblieben, wenn Da mich nicht in die Küche gerufen hätte.
»Die Wunde werden wir nähen müssen.«
»Hab' ich mir schon gedacht.«
»Setz dich.« Da zog einen Stuhl neben sich vor. Ich setzte
mich.
Da kramte in seinem Nähzeug. Eigentlich ist es ein Medset mit ein
paar chirurgischen Instrumenten. Die Medikamente, die ursprünglich
darin waren, sind längst aufgebracht, und jetzt enthält er statt
dessen Salben und Tinkturen aus Thorpe und Umgebung, seit
Generationen überlieferte Hausmittel. Jolee hat es Nähzeug genannt,
als sie noch klein war, und irgendwie hat sich der Name
gehalten.
»Bist du bereit, Junge?« fragte er.
»Warten macht es auch nicht einfacher«, gab ich zurück.
»Wir lassen uns Zeit«, äußerte Da. »Du kannst dich ausruhen, wenn
es nötig wird.«
»Okay.« Ich setzte mich so bequem hin, wie es ging.
Da fädelte den dünnsten Faden in die krumme Chirurgennadel, den er
hatte. »Wenn ich das dick vernähe behältst du eine böse Narbe. Das
will ich nicht, nicht bei einer Wunde im Gesicht.«
»Sie ist mehr beim Haaransatz«, erwiderte ich.
»So oder so bleibt eine Narbe«, erklärte er mir. »Kein Grund, sie
größer zu machen als nötig.« Für einen großen Mann konnte Da sehr
zart sein, wenn es sein mußte. »Wir machen ein paar Stiche, und
wenn alles gutgeht, ziehen wir die Fäden in etwa fünf Tagen
wieder.«
Ich schloß die Augen, atmete aus und entspannte mich. Ich
konzentrierte mich auf den Duft der Kekse im Backofen und ließ mich
von ihm davontragen, um die Schmerzen zu verdrängen. Jolee backt
immer, wenn sie aufgewühlt ist. Da sagt, Mutti war
genauso.
Während er arbeitete, baute ich vor meinem inneren Auge die Küche
auf, mit all den Kleinigkeiten, mit denen Jolee und Ben sie
dekoriert haben. Jolee hat Spaß an Collagen und macht Bilder aus
den verschiedensten Dingen. Ben hat gerne kleine Schnitzereien
hergestellt und er war echt gut darin. Seit etwa drei Jahren hängt
Jolee auch getrocknete und gepreßte Blumen hier auf. Die Blumen
verleihen der Küche sanfte Farbtupfer.
Die Nadel stieß in meine Haut, und trotz der Schmerzen spürte ich,
wie er den Faden durchzog. Da zog ihr durch die andere Seite der
Wunde, dann benutzte er eine kleine Schere, um den Knoten zu
binden, als er die beiden Wundränder zusammenzog. Die Wunde hatte
schon aufgehört zu bluten, aber als er jetzt an ihr arbeitete, floß
doch wieder ein wenig Blut.
»Der Tod deines Bruders stellt mich vor einige Fragen«, erklärte Da
schließlich. Ich muß zugeben, ich war froh, daß er es zur Sprache
brachte.
»Ja«, äußerte ich und achtete darauf, den Hals entspannt zu lassen,
so daß mein Kopf im Nacken blieb und Da die Fäden verknoten
konnte.
»Ich habe daran gedacht, Able eine HPG zu schikken, um Antwort zu
bekommen«, sagte Da und machte einen weiteren Knoten. »Aber ich
weiß nicht, inwieweit ich seinen Antworten glauben darf.«
»Kommandanthauptmann Able hat einen Ruf als fairer Mann.«
»Ja.« Da stimmte mir fast zu schnell zu. »Aber ich weiß, daß die
Militärs einander decken. Verluste gibt es immer wieder, und manche
müssen einfach als akzeptabel hingenommen werden. Ich betrachte
Bens Tod nicht einmal annähernd als akzeptablen Verlust. Außerdem
weiß ich, daß Able durch seine Kontakte mit dem Rat der Planeten
inzwischen ebensosehr Politiker wie Soldat geworden ist. Er wird
seine Interessen und die seiner Einheit verteidigen. Er muß mit
einer politischen und einer militärischen Version der Wahrheit
jonglieren, und im Moment bin ich mir nicht sicher, welche der
beiden wir bekommen haben.«
Jolee saß uns mit tränennassen Augen gegenüber.
Mein Herz schmerzte schlimmer als die Wunde an meiner
Stirn.
»So wie diese Mechs auf dem Vogelsangkamm abgeschossen wurden«,
sprach Da weiter, während er mit sicherer Hand meine Verletzung
nähte. »Das war kein Zufall. Es war ohne jeden Zweifel ein
Hinterhalt.«
Das überraschte mich. Da hat noch nie irgendwelche auch nur
entfernt militärischen Kenntnisse gezeigt. Jetzt redete er
plötzlich wie jemand, der Erfahrung in so etwas hat.
Ich hatte nicht mitgezählt, wie viele Stiche er schon gesetzt
hatte, aber er nähte immer noch weiter. »Wenn eine Militäroperation
dermaßen erfolglos ist, liegt das daran, daß bei der Planung nicht
alle Fakten bekannt waren. Irgendwer hat sie in eine Falle gelockt
oder bewußt wichtige Informationen zurückgehalten.« Er machte eine
Pause und setzte noch einen Stich. »Ich glaube, irgend jemand bei
Able's Aces hat die Einheit verraten und seine Kameraden in diesem
Hinterhalt verrecken lassen. Wenn ich mich nicht irre, denkt Jerry
Able wahrscheinlich genau das gleiche.« Er redete, als ob er den
Kommandanthauptmann persönlich kennen würde, aber ich weiß, daß das
nicht sein kann. Er ist ein Bauer, ein Jäger, kein
Krieger.
Ich ließ mir Das Schlußfolgerungen durch den Kopf gehen, und es
gefiel mir gar nicht, in welche Richtung sie sich bewegten. Aber
ich war gezwungen anzuerkennen, daß sie nicht von der Hand zu
weisen waren.
»Es gibt jemanden, der den Angriff überlebt hat«, sagte er. »Ich
hab' Chilton eine Nachricht nach Porth schicken lassen, zu einem
›Freund‹ aus meiner Jugend, aus den alten Zeiten.«
Ich stellte die Ohren auf. Noch nie hatte Da irgendwelche alte
Zeiten erwähnt, und er sagte auch jetzt nichts weiter
darüber.
»Abgesehen von dem, was man in den Nachrichten hört, gibt es kaum
Informationen, und das ist in der Regel manipuliert oder
tendenziös. Aber Chilton hat es geschafft, eine Information zu
bekommen, die ich noch nicht hatte. Es gibt eine Überlebende des
Gefechts auf dem Vogelsangkamm. Eine Oberleutnant Livia
Hawke.«
»Du meinst, sie hatte etwas damit zu tun?« fragte ich.
»Ich halte es für ziemlich offensichtlich.«
»Able wird das nicht einfach ignorieren«, sagte ich. »Man wird ihn
und den Präsidenten unter Druck setzen, andere Söldnereinheiten
anzuheuern, um unsere Verteidigung zu stärken.«
»Ich habe nie erwartet, daß er es ignoriert«, antwortete Da. »Aber
wer auch immer diesen Hinterhalt geplant hat, wird auch eingeplant
haben, daß man der Sache nachgeht. Able und seine Leute.«
»Du meinst, es wird mehr Lügen geben?«
»Könnte sein. Ich weiß jedenfalls, daß ich mich nicht allein auf
das verlassen will, was Able bereit ist, dem Rat der Planeten zu
erzählen. Und was der dann seinerseits bereit ist, an uns
weiterzugeben. Ich traue Jerry Able. Aber ich traue denen nicht,
durch deren Hände seine Nachrichten an uns gehen. Deswegen möchte
ich, daß Ben, daß unsere Familie in dieser Sache repräsentiert ist.
Ich will wissen ...« Das Stimme brach ein wenig, aber seine Hände
bewegten sich so sicher wie immer.
Ich öffnete die Augen und sah zu ihm hoch. Ich kann mich nicht
erinnern, ihn weinen gesehen zu haben, als Mutter starb, obwohl ich
sicher bin, daß er um sie geweint hat, wenn er allein war Das ist
einfach seine Art. Er hat nie wieder geheiratet Er sagt immer, für
ihn kann es keine andere Frau geben.
»Ich will wissen, was genau Ben zugestoßen ist«, sprach er weiter.
»Und ich will seine Asche hier in seinem Zuhause haben. Er ist auf
Caldarium eingeäschert worden.«
Meine Kehle war wie zugeschnürt, und mein Mund staubtrocken. Ich
hatte nicht einmal daran gedacht, was mit Bens Leiche geschehen
würde. Es fiel mir zu schwer, daran zu denken, daran, daß es da
eine Leiche gab.
»Wie können wir das erreichen, Da?« fragte ich.
»Ich möchte, daß du bei den Aces eintrittst und soviel
herausfindest, wie du kannst.« Er setzte in aller Ruhe den nächsten
Stich.
Ich sagte nichts und warf Jolee einen schnellen Blick zu. Sie
wirkte kein bißchen weniger überrascht als ich. »Bist du sicher,
daß sie mich nehmen werden?«
Da nickte, ohne die Augen von seiner Arbeit zu nehmen. »Ja. Deine
Zensuren sind gut genug, und dein Milizdienst hier auf Slewis ist
auch nicht unbemerkt geblieben. Du hast sogar eine gewisse
Erfahrung in dem Schrottmech da draußen auf unserem Gelände. Sie
werden dich nehmen. Dafür sorge ich schon. Wie ich bereits sagte,
ich habe einen Freund aus den alten Zeiten jemand, der mir noch
etwas schuldig ist und dafür sorgen kann, daß du aufgenommen wirst.
Ich habe ihm schon eine entsprechende Nachricht
geschickt.«
Da hat Ben und mich immer mit unserer Bastelei an dem alten Mech
aufgezogen. Seltsam, wie das jetzt zu etwas wird, das mein ganzes
Leben verändert.
Ich habe ihn nicht weiter gefragt, wie er Kommandanthauptmann Able
dazu bringen will, mich bei den Aces zu akzeptieren. Eines habe ich
gelernt, was Da angeht: Er verspricht nichts, was er nicht halten
kann.
Da nähte noch ein paar Minuten, dann entschied er, daß es genug
war. Er machte die Nadeln sauber und packte das Medset weg.
Inzwischen waren auch Jolees Kekse fertig.
Wir aßen schweigend, in Gedanken versunken. Ich bin mir sicher, daß
Da und Jolee sich des leeren Stuhls am anderen Ende des Tischs, den
Da so glänzend poliert hatte, daß man sein Spiegelbild in der
Platte sehen konnte, genauso bewußt waren wie ich. Die Sahnebutter,
der Honig und die Marmelade waren wirklich gut, aber keiner von uns
hatte sonderlichen Appetit.
»Able baut die Kompanie wieder auf, die er verloren hat, und ich
habe gehört, daß auf einem der Handelsschiffe neue Rekruten
eingetroffen sind. Es heißt, er schickt in ein paar Tagen einen
Transporter, der sie nach Gillfillan's Gold bringen soll. Bis dahin
solltest du wieder reisefähig sein.«
Ich nickte und bereute die Bewegung sofort, als die Kopfschmerzen
zwischen meinen Schläfen hin und her hämmerten.
»Was meinst du, Junge?« fragte Da.
Ich wußte, es war letztendlich meine Entscheidung. Er ließ mir
immer die Wahl. »Es ist nötig«, stellte ich fest. »Und ich eigne
mich am besten dafür, es zu tun.«
»So sehe ich es auch.«
»Aber es macht mir Angst.«
»Dein Zuhause zu verlassen?«
Ich dachte an den Nachthimmel, an all die hell und kalt glitzernden
Sterne. »Da draußen zu sein. Da draußen in so viel - Leere.«
»In einem Schiff oder Mech bekommst du nicht viel davon mit«,
beruhigte Da mich.
Ich hoffe, er hat recht. Irgendwie ist mir der Weltraum sehr viel
freundlicher vorgekommen, solange ich nur Ben zugehört habe, wie er
davon erzählte.
»Die Männer und Frauen, denen du begegnen wirst«, stellte Da fest,
»die in Ables Kerneinheit, sie sind nicht alles gute
Menschen.«
»Das habe ich auch nicht erwartet.«
»Sie haben ihre eigene Art, die Dinge anzugehen, irre eigene Art,
sie zu sehen. Manchmal unterscheiden sie sich kaum von den
Handelsvertretern. Es hängt davon ab, wer sie anführt.« Danach
stand er auf und ging in sein Zimmer.
Nach einer Stunde oder so gab ich den Versuch auf, einzuschlafen.
Ich ging barfuß ans Fenster nach Osten und machte es auf. Da hat
uns absichtlich hier untergebracht, damit uns die Sonne morgens
weckt... an den Tagen, an denen wir wenigstens bis zum
Sonnenaufgang schlafen durften.
Ich kletterte raus und packte die Regenrinne. Ich hatte so lange
gelegen, daß meine Muskeln schmerzten. Und meinen hämmernden
Kopfschmerzen bekam die Anstrengung auch nicht gerade.
Ich zog mich zur Regenrinne hoch und krabbelte die Dachschräge
rauf. Da hat es steil genug gemacht, daß der Schnee sich nicht
lange hält, aber es ist dabei doch rauh genug, daß Ben und ich
häufig hier gelegen haben. Wir haben im Laufe der Jahre über so
vieles geredet. Wir waren nicht in allem einer Meinung, aber
geredet haben wir trotzdem darüber.
Ich habe ihn ungeheuer vermißt in jenem Augenblick, als mir klar
wurde, daß ich nie wieder die Chance haben würde, mich einfach
auszustrecken, zu den Sternen hochzublicken und mit meinem Bruder
über alles zu reden, was mir in den Sinn kam. Nach einer Weile bin
ich eingeschlafen, aber es war ein unruhiger Schlaf mit Alpträumen
über Ben und die Handelsvertreter und heißes, helles Blut.