17

Planetares Hauptquartier Able's Aces, Gillfillan's Gold Randgemeinschaft, Peripherie
12. April 3059

Harley betrat das Büro und salutierte zackig. Der Offizier, der ihn hinter dem Schreibtisch erwartete, erwiderte den Gruß mit knapper Geste. Es war ein Oberleutnant, ein Rang, der bei Able's Aces einiges Gewicht hatte. Harley hatte Befehl erhalten, sich im Befehlszentrum der Aces im Büro von Oberleutnant Hershorn zu melden. Er ging davon aus, daß es sich bei dem Mann um Hershorn handelte.

Er nahm den Platz an, den der Oberleutnant ihm anbot. Der Offizier war von schlaksiger Gestalt, mit einem Schnurrbart und faltiger Haut, wie man sie von langen Aufenthalten im Freien bekam. In der Luft hing ein Hauch von Rasierwasser, der Harley unangenehm aufstieß. »Sie haben bei den Aces ziemlichen Eindruck gemacht, Schütze«, stellte der Mann fest. Von seinem Platz aus konnte Harley jetzt das Namensschild auf der Uniform des Offiziers lesen und stellte befriedigt fest, daß er richtig vermutet hatte. Er sprach mit Oberleutnant Hershorn.

Harley zuckte kurz die Schultern. »Ich habe nur meine Pflicht getan, Sir. Nichts Außergewöhnliches.«

Hershorn schüttelte den Kopf. »Ich rede nicht von ihrer Aktion bei der Schlacht um Rectortown, Schütze. Es ist reichlich ungewöhnlich für ein neues Mitglied der Einheit, geheime Analysedaten oder Gefechts-ROM-Ausdrucke eines Kampfes anzufordern. Erst recht ohne die Zustimmung seiner Vorgesetzten.«

Es war etwa eine Woche her, seit Harley zum erstenmal den bittersüßen Geschmack des Kampfes gekostet hatte, aber er hatte darüber nicht den Grund vergessen, aus dem er zu Able's Aces gestoßen war. Oberleutnant Hershorn war der Analyseoffizier der Söldnereinheit und verantwortlich für die interne Sicherheit und die Bereitstellung von Informationen für Kommandanthauptmann Able und die Bataillons- bzw. Kompanieführer. Es hatte nicht viel Mühe gekostet, festzustellen, wo die Daten des Vogelsangkammgefechts lagerten und wer sie verwaltete. Aber Harley hatte einige Zeit warten müssen, bis er die Genehmigung erhalten hatte, mit dem Oberleutnant zu reden.

»Ich wußte nicht, daß ich dafür die Genehmigung Oberleutnant Hawkes benötige, Sir.«
Hershorn hob die linke Augenbraue. »Es besteht kein offensichtlicher Bedarf für Sie, Informationen über dieses Gefecht einzusehen. Daher ist in der Regel eine Genehmigung des vorgesetzten Offiziers notwendig, damit ich derartige Informationen freigeben kann.«
»Sir, mein Bruder ...«
»... war ein hochangesehenes Mitglied dieser Einheit«, stellte Hershorn fest öffnete einen Faltordner auf seinem Schreibtisch, warf einen kurzen Blick hinein und schloß ihn wieder. »Ich bin über Ihre Verbindung zu den Aces sehr wohl informiert. Ich weiß, daß Ihr Bruder bei den Kämpfen auf Caldarium ums Leben kam. Ich habe die Gefechtsberichte durchgesehen und an der Entsatzmission zur Bergung unserer Toten teilgenommen.«
»Dann wissen Sie auch, warum ich diese Daten angefordert habe.«
»Rache?«
»Ich will die Wahrheit darüber erfahren, was Benjamin zugestoßen ist. Ich will wissen, wie dieser Hinterhalt gelegt wurde, wer Zugang zu den Einsatzparametern dieser Mission hatte.«
»Sie reden, als würden Sie jemandem in der Einheit verdächtigen, Schütze.«
Harley verstummte. Er hatte Angst, zu schnell zu viel preisgegeben zu haben. Immerhin saß er hier dem Mann gegenüber, der für alle nachrichtendienstlichen Aktivitäten der Einheit verantwortlich war. Wenn irgend jemand den Verdacht hatte, daß es sich bei dem Hinterhalt um das Werk eines Verräters gehandelt hatte, dann sicherlich er. »Ich weiß nicht, welchen Verdacht ich haben soll. Ich habe die Daten nicht gesehen. Aber eines kann ich sagen: Meine Familie genau wie ich findet es verdächtig, daß mein Bruder und praktisch seine gesamte Einheit abgeschlachtet worden sind.«
Hershorn trommelte nachdenklich mit den Fingern auf dem Schreibtisch. »Ihre Sorgen und die Ihrer Familie rechtfertigen keine Verletzung stehender Befehle über den Zugriff auf Analysedaten. Warum fragen Sie Oberleutnant Hawke nicht einfach nach der Erlaubnis, die Dateien einzusehen?«
Harley war sich nicht sicher, wie er darauf reagieren sollte. Dann entschied er, daß er keine andere Wahl hatte, als die Wahrheit zu sagen. »Es wäre mir unangenehm, sie darum zu bitten, Sir.«
»Verständlicherweise.« Hershorn schien zu zögern, fast, als ob Harleys Antwort seine eigenen Gedanken tangierte. »Ich kannte Ben, Schütze. Er war kein Offizier, aber wir bestehen hier nicht alle auf Formalitäten. Ben war ein guter Freund. Er war auch ein guter MechKrieger. Ein sehr guter sogar. Es hat mich getroffen, wie er gestorben ist, was ihm als Caldarium zugestoßen ist.« Hershorn schob einen Faltordner über den Schreibtisch zu Harley herüber. »Das ist ein Bericht, der die Fragen anspricht, auf die Sie Antworten suchen.«
Harley streckte zögernd die Hand aus und nahm den Ordner. Er wollte ihn öffnen, dann stockte er. »Das ist ein Verstoß gegen die Vorschriften, oder?«
»Nicht wirklich. Es wäre gegen die Vorschriften, wenn ich als Analyseoffizier Ihnen dieses Material übergeben würde. Ich übergebe es Ihnen aber nicht. Die Akte lag auf meinem Schreibtisch, und Sie ist Ihnen zufällig in die Finger gefallen. Sie haben Sie durchgeblättert, aber sie hat dieses Büro zu keinem Zeitpunkt verlassen. Und das Material in dieser Akte ... sagen wir, es war nicht erkennbar als Geheimsache markiert. Es muß mir irgendwie entgangen sein. Ich bin schließlich auch nur ein Mensch. Da wir eine Besprechung hier hatten, hat sich nichts in irgendeiner Weise Bemerkenswertes ereignet. Verstehen wir uns, Schütze?«
Mit diesen Worten drehte Oberleutnant Hershorn seinen Sessel um, stand auf und trat an sein kleines Fenster, um durch die Schlitze der Jalousie hinaus zu schauen.
Harley sah ihn einen Moment an, dann öffnete er die Akte und las. Der Bericht war nicht sonderlich umfangreich, gerade einmal drei Seiten. Er trug den Titel »Zusammenfassende Analyse« und war von Oberleutnant Weldon Hershorn verfaßt. Die Schlußfolgerung war dieselbe, zu der auch Harley gekommen war: Der Hinterhalt, in den Hawke's Talons auf Caldarium geraten waren, war das Ergebnis eines Geheimnisverrats an den Feind. Es war nicht bekannt, wo die undichte Stelle gewesen war, aber nur relativ wenige Personen hatten Zugriff auf die Missionsbefehle gehabt. Kommandanthauptmann Able und Hauptmann Max Chou, der befehlshabende Offizier des Bataillons Eins. Livia Hawke, ihre direkten Untergebenen, die sämtlich ums Leben gekommen waren, und eine Reihe von Kommoffizieren.
Die Überprüfung aller Funkverbindungen und Kommunikationslogs hatte keine Verbindungsaufnahme mit Hopper Morrison ans Licht gebracht, aber der Zeitpunkt, an dem das Sicherheitsleck aufgetaucht war, konnte recht genau eingegrenzt werden. Zwischen dem Moment, an dem Able die Mission angeordnet hatte, und jenem Tag auf dem Vogelsangkamm, an dem die Söldnerkompanie niedergemetzelt worden war, waren nur zwei Monate vergangen, und es mußte Morrison eine gewisse Zeit gekostet haben, seine Leute für der Hinterhalt in Stellung zu bringen.
Die Liste der Hauptverdächtigen war äußerst kurz. Sie bestand aus nur zwei Namen. Einer war der eines Kommoffiziers, von dem Harley noch nie etwas gehört hatte und dessen Vetter bei Morrisons Ausbeutern diente. Der andere war Oberleutnant Livia Hawke.
Harley wußte nicht, wie lange er da saß und auf der Bericht starrte. Schließlich klappte er den Ordner leise zu und legte ihn wieder auf den Schreibtisch. Was er gerade gelesen hatte, war kein Beweis, aber es brachte ihn einen Schritt weiter auf dem Weg zur Wahrheit. Und jetzt glaubte er, einen Blick auf diesen Weg erhaschen und sogar die Gestalt erkennen zu können, die an seinem Ende auf ihn wartete Oberleutnant Livia Hawke.
»Danke, Sir«, sagte er und stand auf.
»Ich habe keine Ahnung, wofür Sie mir danken Schütze«, gab Hershorn zurück, nahm den Ordner vom Schreibtisch und legte ihn zurück in eine der Schubladen. »Aber da wäre noch eine Sache, über die wir reden sollten.«
»Sir?«
Hershorn kehrte nicht an seinen Platz zurück, sondern verschränkte die Arme und sah Harley an. »Wie ich bereits erwähnte, war ich Teil des Teams, das die Entsatz- und Rettungsaktion zum Vogelsangkamm anführte. Ich habe die sterblichen Überreste Ihres Bruders geborgen. Da wir erst mehrere Tage später eintrafen, war ein normales Begräbnis nicht mehr möglich, und wir haben seinen Leichnam eingeäschert. Es ist vorgesehen, die Asche mit dem nächsten Transitflug nach Slewis an Ihre Familie zu überstellen. Wenn Sie eine Botschaft an Ihre Familie verfassen möchten, kann ich Sie beilegen.«
Diese Eröffnung berührte Harley tief, aber er ließ sich nichts anmerken. »Ich verstehe, Sir. Danke. Ich würde meinem Da und meiner Schwester gerne eine Nachricht zukommen lassen.«
»Wir schicken die Urne mit der Asche diese Woche ab. Lassen Sie mir Ihren Brief bis dahin zukommen, und ich sorge dafür, daß er sie nach Slewis begleitet.«
Jord MacAuld übersprang drei Stufen, um Harley einzuholen. Auf der anderen Seite tat Bixby Finch dasselbe. Im Verlauf der letzten Woche waren die drei gute Freunde geworden. Bix war ein strohblonder Bauernbursche, der in derselben Gruppe wie Harley als Rekrut von Waypoint nach Gillfillan's Gold gekommen war. Er und Harley hatten so viel gemeinsam, daß sie sich vom ersten Moment an bestens verstanden hatten. Jord und Harley hatten sich angefreundet, nachdem er den jungen Rassor in Rectortown in Aktion gesehen hatte.
»Und, Teufelskerl, wie war's beim Gespenst?« fragte MacAuld.
»Beim Gespenst?« Harley ging nicht auf den Spitznamen ein, den er seit der Schlacht weghatte. Er hatte den starken Verdacht, daß einer seiner Freunde für diesen Beinamen verantwortlich zeichnete, und hoffte, ihn durch bewußtes Ignorieren wieder in der Versenkung verschwinden lassen zu können. Bis jetzt allerdings schien das nicht zu funktionieren.
»So nennen die Jungs in der Flugstrecke Oberleutnant Hershorn.«
»Gespenst, weil er im Spionagegeschäft ist?« fragte Bixby.
Jord zuckte die Achseln. »Mehr oder weniger. Er war ein paar Jahre MechKrieger. Es heißt, er soll ziemlich merkwürdig gewesen sein. Er hat kaum Freunde in der Einheit und ist reichlich verschlossen. Ich habe gehört, daß er häufig vor sich hin murmelt. Er ist ein wenig weggetreten.«
»Also zu mir war er ganz nett«, stellte Harley fest.
»Hast du herausgefunden, was mit deinem Bruder passiert ist?« hakte Jord nach.
»Ja und nein. Ich habe erfahren, daß wir möglicherweise einen Verräter in der Einheit haben.«
»Darauf sind die meisten von uns auch schon gekommen«, erklärte Jord. »Ich bin nur geschockt, daß du ernsthaft glaubst, es könnte Oberleutnant Hawke sein.« MacAuld war erst beim Wiederaufbau zu Hawkes Kompanie gestoßen. Er bestand darauf, daß sie kein Verräter sein konnte, aber das konnte Harleys Meinung nicht erschüttern.
»Sie war die einzige Überlebende«, insistierte Harley, während die drei weitergingen. »Und im letzten Gefecht hat ihr Mech kaum eine Schramme abbekommen, während alle anderen durch die Mangel gedreht wurden.«
Jord runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Soll das heißen, du hältst sie für schuldig, nur weil sie das Glück hatte, einen Hinterhalt zu überleben, und eine gute MechKriegerin ist? Da mußt du schon mit besseren Argumenten kommen, Teufelskerl.«
Bixby mischte sich ein, bevor Harley antworten konnte. »Ich bin ja noch nicht lange in der Einheit und das alles, aber in den Rängen erzählt man sich, daß sie ein wenig verärgert darüber ist, daß Chou zum Hauptmann befördert wurde. Es ist bloß ein Gerücht, aber vielleicht hat es gereicht, daß sie sich entschlossen hat, gegen Kommandanthauptmann Able zu arbeiten.«
Wieder schüttelte Jord den Kopf. »Tut mir leid, aber ich bin jetzt schon eine Weile bei den Aces. Was du da aufgeschnappt hast, ist ein völlig haltloses Gerede. Chou hatte schon den Befehl über das Einserbataillon, bevor Hawke überhaupt bei den Aces angefangen hat. Er war von Anfang an ihr direkter Vorgesetzter, auch wenn der Kommandanthauptmann mit all seinen Kompanieführern engen Kontakt hält. Außerdem, wenn es Probleme zwischen ihnen gäbe, wäre Chou sicher hier auf Gillfillan's Gold und würde nicht auf All Dawn Milizionäre trainieren. Tut mir leid, Bix, aber als Neuling muß du dir erst noch anständige Beziehungen zur Gerüchteküche aufbauen.«
»Warum gehen wir nicht runter in die Stadt und sehen nach, ob das neue Holovid da ist?« fragte Bix und wechselte das Thema, auch wenn er seine Verärgerung darüber, als Neuling bezeichnet zu werden, nicht verbergen konnte. Harley war es genauso gegangen, aber dank der Schlacht um Rectortown hatten die Veteranen der Einheit inzwischen aufgehört, ihn damit aufzuziehen.
Bixby war versessen auf die Holovids um den Unsterblichen Krieger, die hier in der Randgemeinschaft immer erst mit reichlich Verspätung eintrafen. Die meisten Episoden der Holoserie, die jetzt den Weg in die Peripherie fanden, waren in der Inneren Sphäre schon vor Jahren gedreht worden.
»Geht schon voraus«, sagte Harley. »Wir sehen uns.«
»Du willst doch wohl nicht in der Kaserne Trübsal blasen?« fragte Jord.
»Nein. Ich muß einen Brief an meinen Vater schreiben.«
»Lieber Da«, schrieb Harley. »Es tut mir leid, daß ich Bens Asche nicht selbst zurück nach Slewis bringen kann, aber ich habe noch nicht genug Ausgang angesammelt. Als ich erfahren habe, daß Euch die Urne zugeschickt wird, habe ich Erlaubnis bekommen, diesen Brief mitzuschicken.
Ihr könnt Euch sicher vorstellen, wie sehr ich Dich und Jolee vermisse und wie leid es mir tut, nicht da sein zu können, wenn dieses traurige Paket Euch erreich: Es geht mir gut. Da, und ich habe kurz nach meine: Ankunft hier auf Gillfillan's Gold meine erste Schlacht geschlagen. Wir haben gegen dieselben Banditen gekämpft, die Ben ermordet haben, und ich habe einen von ihnen ehrenhafter getötet als sie ihm gegenüber waren. Nach dem Kampf habe ich Kommandanthauptmann Able getroffen, und er hat sehr lobend von Dir gesprochen.
Keine Sorge. Ich bin in diesem Kampf nicht verletzt worden, und es geht mir gut hier bei den Aces. Ich habe sogar ein paar Freunde gefunden.
Ich habe nicht vergessen, warum Du mich hierher geschickt hast, und ich versuche die Wahrheit über Bern Tod herauszufinden. Ich habe eine Ahnung, wer seine Einheit verraten haben könnte, und es könnte jemand gewesen sein, der Ben recht nahe stand. Ich kann es noch nicht beweisen, aber wenn es soweit ist, werde ich dafür sorgen, daß diesen Jemand die gerechte Strafe trifft.
Ich wollte Dir noch etwas sagen, was Ben und ich uns früher versprochen haben. Als Kinder sind wir häufig den Kahlenberg hinaufgestiegen und haben im Schatten des großen Baums gesessen, der auf seiner Kuppe steht. Du weißt, welchen ich meine. Wir waren uns einig, daß wir, wenn wir einmal sterben, auf diesem Berg begraben werden wollten, mit dem Blick über das Tal. Und wir haben einander geschworen, dieses Versprechen niemals zu vergessen.
Wir können Ben nicht mehr begraben. Die Piraten die ihn ermordeten, haben seine Leiche auf dem Schlachtfeld zurückgelassen, damit sie verrottet. Das ist noch etwas, wofür sie bezahlen müssen. Ich bitte Dich, mit Jolee dort hinauf zu gehen und Bens Asche auf dem Hügel und über dem Tal auszustreuen und an mich und meinen Bruder zu denken, und an die besseren Zeiten in denen wir alle noch zusammen waren.
Ich sende Dir und Jolee meine ganze Liebe, und ich hoffe, daß ich Dir eines nicht allzu fernen Tages werde sagen können, daß ich erreicht habe, wozu ich hierher gekommen bin.
Dein Sohn, Harley.«

BattleTech 50: MechWarrior Trilogie
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