8
Kore-Lanciers-Zentrale, Kore Peripherie11 April 3060
Die Zentrale der Kore-Lanciers war in Feindeshand. Lon Volker erkannte einen Teil der grimmig blikkenden Soldaten, die auf den Korridoren Wache standen, als er an ihnen vorbeigeführt wurde. Viele von ihnen waren Teil einer Wartungscrew aus Niffelheims, Techs und andere
Arbeiter des Stützpunkts. Ein paar anderen war er schon in der Stadt begegnet, was darauf schließen ließ, daß irgend jemand diese Operation von langer Hand vorbereitet hatte.
Eines wußte er mit Sicherheit: Wer auch immer diese Gestalten waren, sie waren keine Clanner. Die Mechs, die seinen Panther abgeschossen und Brinkmann und Oberleutnant Holt getötet hatten, waren eindeutig Clan-Mechs gewesen, aber die Truppen im Innern der Zentrale waren keine Clanner, es sei denn, alles was Lon jemals über die Clans gehört hatte, war maßlos übertrieben gewesen. Diesen Soldaten ging die straffe militärische Effizienz und Würde der Clans völlig ab. Ihre Uniformen waren bunt zusammengewürfelt, und für ihre Ausrüstung galt weitgehend dasselbe. Sie benahmen sich auch nicht wie disziplinierte, ausgebildete Militärs aus einer Gesellschaft, die Krieg und Kampf verherrlichte. Sie ähnelten eher heruntergekommenen Söldnern, vielleicht sogar Piraten.
Nachdem die Invasoren seinen flüchtenden Mech zur Strecke gebracht hatten, war Lon nicht viel anderes übriggeblieben, als sich zu ergeben. Sein Panther hatte lang ausgestreckt in der Tundra gelegen, mit von einem doppelten PPK-Treffer nahezu vollständig pulverisierter Rückenpanzerung, und zwei ClanMechs waren angerückt, um ihm den Todesstoß zu versetzen. Er hatte nicht einmal die Rettungsautomatik auslösen können, solange der Kopf des Mechs auf dem Boden lag. In dieser Situation hätte der Schleudersitz ihn höchstens mit Wucht in den Boden gerammt und ihm sämtliche Knochen gebrochen. Und Lon Volker war ein Überlebenskünstler. Er dachte nicht daran, bei der Verteidigung eines eisstarrenden Felsklumpens wie Kore sein Leben zu opfern, nicht so wie Oberleutnant Holt. Der hatte für nichts und wieder nichts bis zum letzten Atemzug gefochten. Trotzdem kontrollierten jetzt die Invasoren Kore. Nein, Lon lebte noch, und er hatte nicht vor, daran etwas zu ändern.
Er hatte den Invasoren über Funk seine Kapitulation mitgeteilt und die Mechsysteme abgeschaltet. Einen Moment hatte er befürchtet, sie würden ihn aus bloßem Prinzip trotzdem töten, aber nach allem, was er über die Clans gehört hatte, entsprach das nicht deren Stil. Und wie sich dann herausstellte, ließen sie ihn tatsächlich am Leben. Sein Panther war zwar arg mitgenommen, aber die entscheidenden Sektionen - Reaktor, Gyroskop, Cockpit - waren noch intakt und konnten weiterverwertet werden. Das machte ihn zu wertvollem Bergegut, und kein Pirat oder Söldner vernichtete einen derartigen Gegenwert in C-Noten, wenn die Möglichkeit bestand, den Mech zu bergen.
Also wurde Lon aus seinem Mech geholt und zurück zur Zentrale gebracht, die sich bereits in der Hand der Invasoren befand. Sie brachten ihn in einem bewachten Raum unter, in dem sich bereits die übrigen Lanciers aufhielten, die Dienst gehabt hatten, als die Zentrale gefallen war. Vor wenigen Minuten hatten die Wachen ihn dann abgeholt. Er hielt die Augen nach einer Fluchtgelegenheit offen, aber es wimmelte von Bewaffneten, während mögliche Fluchtrouten sich als Mangelware erwiesen.
Selbst wenn es ihm gelungen wäre, die Wachen zu überwältigen und die Flucht zu ergreifen, sich eines Jeeps oder Schwebers zu bemächtigen und es zurück nach Niffelheims zu schaffen, hätte ihm das nichts eingebracht. Er rechnete relativ sicher damit, daß die Invasoren in Kürze auch die Stadt kontrollieren würden. Schließlich hatten sie Mechs und die Mittel der Lancier-Basis, und die BattleMechs der KoreLanciers hatten sie neutralisiert. Die einzige Verteidigung, die Niffelheims noch hatte, bestand aus ein paar Bodenfahrzeugen und Infanterie, und die waren den riesigen Vernichtungsmaschinen der Angreifer nicht gewachsen. Nein, es machte mehr Sinn, so viel über die Invasoren in Erfahrung zu bringen, wie er konnte, die Augen offenzuhalten und auf eine günstige Gelegenheit zu warten.
Seine Bewacher führten Lon in einen anderen Raum, in dem ein alter Mann mit einem graumelierten Dreitagebart ihm ein Bündel Kleidung zuwarf.
»Anziehen«, knurrte der Mann. Lon trug noch, was er im Mechcockpit getragen hatte: enge Shorts, hohe Stiefel und seine Kühlweste. Er streifte die Weste ab und zog das Khakihemd an, dann zog er die Hose über die Shorts. Der Mann reichte ihm einen Lancier-Parka.
»Gehen wir«, herrschte er Volker an, der nicht so dumm war, nachzufragen wohin. Offensichtlich irgendwo nach draußen, und zumindest vorerst planten seine Kerkermeister nicht, ihn erfrieren zu lassen. Das war für sich schon eine nützliche Information.
Die Wachen nahmen ihn mit auf den weiten Stahlbetonhof zwischen der Zentrale und dem jetzt leerstehenden Mechhangar. Zwei der BattleMechs der Invasoren hielten sich auf dem Gelände auf, der Fenris und der Mad Cat. Lon arbeitete schon seit Jahren mit BattleMechs, aber die furchteinflößende Größe des Mad Cat, der keine fünfzig Meter entfernt auf dem Hof stand, ließ ihm trotzdem den Atem stocken. Normalerweise sah er andere Mechs aus dieser Nähe nur auf dem Sichtschirm seines eigenen Cockpits oder im Simulator. Als er jetzt vom Boden aus zu ihm hinaufschaute, wurde ihm klar, wie winzig er im Vergleich war, wie leicht der Mech ihn wie ein Insekt zertreten konnte.
Der Mad Cat kam näher. Er überbrückte die Distanz mit zwei gewaltigen Schritten, die den Boden erbeben und Lon das Herz bis zum Hals schlagen ließen. Der OmniMech blieb keine fünf Meter vor ihm stehen und schien auf ihn herabzublicken. Dann öffnete sich zischend die Cockpitluke, und eine Gestalt stieg heraus. Obwohl sie zum Schutz gegen den eisigen Wind, der durch die Anlage pfiff, in einen langen Kapuzenmantel gehüllt war, erhaschte Lon einen Blick auf wohlgeformte, muskulöse Beine in nichts als hautengen Shorts, als die Pilotin an der Kettenleiter herabkletterte, die vom Kopf des Mad Cat hing.
Auf dem Boden angekommen, drehte die Pilotin
des ClanMechs sich um und kam auf Volker zu, wobei sie den Mantel
zum Schutz gegen die Kälte fest um ihren Körper zog. Dunkles,
volles Haar quoll aus der Kapuze und rahmte ein zugleich grausames
und äußerst hübsches Gesicht ein, das um nichts wärmer war als der
Polarwind, der über die Tundra fegte. Ihre Züge waren bleich und
makellos, abgesehen von einer schwarzen Augenklappe, unter der auf
beiden Seiten die verblaßten Ausläufer einer alten Narbe
hervorlugten. Unter dem Mantel erkannte Lon die ziemlich
alltägliche MechKriegermontur aus Shorts, Kampfstiefeln und einer
Kühlweste über einem kurzen Hemd. Was er von ihrem Körper sehen
könnte, war in ausgezeichneter Verfassung, aber Lon war völlig im
Bann ihres Gesichts und des stechenden Blicks ihres gesunden Auges,
das von fahl eisblauer Farbe war.
Sie hielt einen knappen Meter vor ihm an und musterte ihn von oben
nach unten. Es war Lon, der als erster sprach.
»Susie Ryan«, stellte er fest, und bereute es augenblicklich, als er einen Gewehrschaft in den Magen gerammt bekam. Er klappte zusammen, kauerte auf dem eisigen Beton und bemühte sich, sich nicht zu übergeben.
»Sieh an«, meinte Ryan mit einem bösen Lächeln. »Mein Ruf eilt mir voraus, sogar bis hierher an den Arsch der Galaxis. Wenn du mich kennst, MechBoy, dann solltest du auch wissen, daß du den Mund zu halten hast, solange dich niemand zum Reden auffordert. Vergiß nicht, daß hier ich das Sagen habe, und du nur noch lebst, weil dein Mech hundert Mal mehr wert ist als deine erbärmliche Haut.«
Sie erhob kaum die Stimme, aber Lon verstand sie laut und deutlich. Er kam langsam wieder auf die Füße, ohne für einen Moment die Augen von Ryan zu nehmen.
Susie Morgraine Ryan, legendäre Piratenkönigin der Peripherie. Tochter zweier der berüchtigsten Raumpiraten der Weltraumregion am äußeren Rand der Inneren Sphäre, durch die Clan-Invasion zur Vollwaise gemacht.
»Ich könnte wertvoller für Sie sein als Sie
glauben«, erklärte er.
Der Posten hob wieder die Waffe, aber Ryan stoppte ihn mit einer
Handbewegung. »Ach? Und wie bildest du dir ein, mir nützen zu
können?« fragte sie und zog die Braue über ihrem gesunden Augen
hoch.
Volker versuchte, das überzeugendste Lächeln aufzusetzen, zu dem er
imstande war, das Lächeln, mit dem er schon eine Menge Mädchen in
Niffelheims schwach gemacht hatte, auch wenn er erhebliche Zweifel
hatte, damit das Herz einer Eiskönigin wie »Einauge« Ryan
verzaubern zu können. »Ich kenne mich aus auf Kore. Ich habe mein
ganzes Leben hier verbracht. Und ich bin ein ausgebildeter
MechKrieger.«
Ryan verzog verächtlich den Mund. Lon machte sich auf eine
abschätzige Bemerkung über seine Fähigkeiten als MechKrieger
gefaßt, in Anbetracht der Tatsache, daß er ihr Gefangener war.
Statt dessen musterte sie ihn noch einmal abschätzend von oben bis
unten.
»Hmmm, du könntest tatsächlich nützlich sein«, meinte sie beinahe
bei sich. »Aber was ist mit deiner Loyalität deiner Einheit
gegenüber, deiner Heimatwelt? Du sagst, du bist hier aufgewachsen.
Du weißt, daß ich diesen ganzen Felsbrocken einäschern werde, wenn
ich nicht bekomme, was ich will. Was sagst du dazu?«
Lon Volker schluckte. Ryan sprach von Massenmord und Verwüstung in
einem Ton, der nach höflicher Konversation klang. Andererseits, was
kümmerte es ihn? Seine Eltern waren tot, bei der ClanInvasion ums
Leben gekommen, und er hatte keine anderen Verwandten auf Kore. Es
gab niemanden hier, der ihm wirklich etwas bedeutet hätte. Ihm ging
es nur darum, von diesem öden Eisklumpen weg und in die Innere
Sphäre zu kommen, wo wirklich etwas los war. Er hatte die
Kore-Lanciers für seine Fahrkarte ins All gehalten, aber die waren
erledigt. Soweit er das sehen konnte, war er allein noch von der
Einheit übrig, abgesehen von den Schlammstampfern.
»Ich halte Sie für eine Frau, die immer bekommt, was sie will«,
erwiderte er vorsichtig. Ryan schenkte ihm erneut ihr böses
Lächeln. »Was Sie mit dieser Welt machen, kümmert mich nicht. Ich
will nur weg von hier.«
»Gute Einstellung«, erklärte Ryan. Sie sah sich auf dem öden,
schneebedeckten Gelände um. »Ich kann verstehen, daß du diesem
Eisklumpen keine sentimentalen Gefühle entgegenbringst. Was für ein
Loch.«
Das machte Lon neugierig. »Was wollen Sie dann hier? Und wieso mit
Mechs in Clanfarben?« »Du steckst ja wirklich voller Fragen, was?«
entgegnete Ryan. Einen Moment dachte Volker, er hätte einen Fehler
gemacht, aber sie verschränkte nur die Arme vor der Brust. »Die
Mechs sind eine kleine Belohnung dafür, daß ich so viele
Clanner-Schädel gespalten habe. Sie jagen den Leuten eine panische
Angst ein, und wenn sie meine Überfälle den Clans anhängen statt
moi, um so besser. Was den Rest angeht, das wirst du noch
früh...«
Ein Fiepen unterbrach sie, und Ryan zog ein kleines Funkgerät unter
dem Mantel hervor und hob es an den Mund. »Ryan, ich
höre.«
»Skipper, hier is' Yaeger. Wir haben den letzten Mech eingeholt,
den Thorn.«
Kintaro, dachte Lon. Er hatte gewußt, daß der Kleine nicht
entkommen konnte. Er hätte es gar nicht erst versuchen sollen.
»Bericht.«
»Wir sind im Gebirge, etwa zwanzig Klicks von der Mechbasis
entfernt. Der Thorn ist Schrott. Nach
ein paar Treffern ist der Reaktor durchgegangen. Aber vorher hat
der verdammte Drecksack noch irgendwie eine Lawine ausgelöst, die
Darnells Puma unter tonnenweise Schnee
begraben hat. Er ist okay, aber wir müssen ihn erst noch
ausbuddeln.«
»Was ist mit dem Thorn-Pilot?« fragte
Ryan. »Scheint ausgestiegen zu sein. Ich hab' das Kanzeldach
wegfliegen sehen, bevor der Mech explodiert is'. Sollten wir nach
ihm suchen?«
Ryan überlegte einen Moment, bevor sie antwortete. »Nein, spart
euch die Mühe. Wozu Munition verschwenden. Wenn er so weit von hier
ausgestiegen ist, nimmt uns das Wetter die Arbeit ab. Und selbst
wenn er es schafft, irgendwie bis hier durchzukommen, bleibt ihm
dann auch nichts anderes, als sich zu ergeben. Holt Darnells Mech
da raus und sagt ihm, wenn seine Maschine beschädigt ist, kann er
sich auf was gefaßt machen. Ryan Aus.«
Sie steckte den Kommunikator ein und wandte sich wieder Lon zu.
»Scheint, daß der Rest deiner Lanze damit vollzählig ist. Zu schade
um den Mech, aber so ergeht es Dummköpfen nun mal.« Sie betrachtete
ihn einen Moment.
»Wie heißt du?« fragte sie plötzlich.
»Volker. Lon Volker.«
»Nun, Volker, du bist kein Idiot. Soviel will ich dir zugestehen.
Du weißt, wann du geschlagen bist und wie man am Leben bleibt.
Halte das durch, und du könntest diese Intermezzo überleben. Steckt
ihn zurück zu denen anderen«, befahl sie seinen Bewachern.
»Möglicherweise will ich später nochmal mit ihm reden.« Sie drehte
sich wieder zu Lon um. »Du wirst deine Chance bekommen, mir deinen
Wert zu beweisen, Mech-Boy. Früher oder später.«
Als die Wachen ihn abführten, blickte Lon hinaus über die Tundra zu
den fernen Gipfeln der Jotunberge und dachte an Kintaro da draußen,
allein und ohne seinen Mech. Ich hoffe, du
hast es geschafft, dir an irgendeinem Felsen das Hirn
einzuschlagen, Kleiner, denn ich würde ganz sicher nicht so
krepieren wollen, wie es dir bevorsteht falls
nicht.
Nein, Lon Volker war ein Überlebenskünstler, und er plante, das
alles bei lebendigem Leib zu überstehen, so oder so.