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Planetares Hauptquartier Able's Aces, Gillfillan's Gold Randgemeinschaft, Peripherie23. Februar 3059
»Ich glaube kaum, daß Sie irgend etwas finden werden das Sie nicht schon gesehen haben.« Livia Hawke sah abrupt von dem leuchtenden Hologramm auf, das vor ihr in der Luft hing, und nahm Haltung an. Die Stimme war unverwechselbar. Sie gehörte Jerry Able, dem Kommandeur der Söldnereinheit Able's Aces.
Ihr rechter Zeigefinger lag knapp über der Augenbraue, als sie zackig salutierte. »Sir. Ich habe Sie nicht hereinkommen hören, Sir.«
»Stehen Sie bequem, Oberleutnant.« Kommandanthauptmann Able trat in das kleine Zimmer. Er war ein kompakter Offizier von knapp über dem Durchschnitt liegender Körpergröße, aber durch seine kerzengerade Haltung erschien er größer. Einmal hatte Hawke ihn bei einem höllischen Feuer im Hauptquartier, das alle jungen Offiziere in Panik versetzt hatte, in die Zentrale kommen und mit einem einzigen stahlharten Blick den ganzen Raum zur Ordnung bringen sehen.
»Danke, Sir.« Sie nahm Ruhehaltung an und war froh, eine frisch gestärkte Uniform angelegt zu haben bevor sie in die Infothek der Basis gekommen war. Im Feld galt kein strenger Uniformzwang, und Offiziere trugen keine Insignien. Aber im Hauptquartier achtete Kommandanthauptmann Able streng auf die Kleiderordnung
Able's Aces verfügte über drei Bataillone und war damit faktisch ein Regiment. Die Aces hatten sogar ein eigenes Sprungschiff, das die meiste Zeit auch funktionierte, obwohl es schon Jahrhunderte alt war. Aber das Rangsystem der Einheit hatte nicht mit ihrem Wachstum Schritt gehalten, als sie sich zum stehenden Heer der Randgemeinschaft entwickelt hatte. Normalerweise wurde ein Regiment von einem Colonel geführt, aber Jerry Able hatte diesen Rang nie für sich beansprucht. Dementsprechend hätte Livia Hawke als Kommandeurin der Kompanie Eins eigentlich Hauptmannsrang haben müssen, war aber noch Oberleutnant. Sie war sich nicht sicher, ob es eine reine Förmlichkeit war, daß die Ränge in den letzten Jahren nicht angehoben worden waren, oder ob Kommandanthauptmann Able darauf bewußt verzichtet hatte, um den Sold nicht erhöhen zu müssen. Die Mittel waren schon einige Zeit recht knapp, besonders nach der jüngsten Zunahme der Piratenaktivitäten.
Able musterte die über dem Projektionstisch
hängende Holovidszene. Hawke betrachtete sein von Narben und
Erfahrung gezeichnetes Gesicht, konnte aber aus seinem Mienenspiel
oder der Art, wie er sich die Projektion ansah, keine Rückschlüsse
darauf ziehen, was in seinen Gedanken vorging.
Die Infothek unterhielt neben Trainingsprogrammen und anderen
Dateien komplette Unterlagen über die Aktivitäten der Aces. Sie war
Teil der Hauptquartieranlage der Einheit. In den letzten zwei Tagen
hatte Hawke hier mehr Zeit verbracht als irgendwo sonst, ihr
Quartier eingeschlossen.
»Die Aufzeichnungen vom Vogelsangkamm«, stellte Able leise fest, und sein Blick wanderte über die Projektion.
»Ja, Sir.« Die Daten stammten aus den GefechtsROMs, die von den Bergungsteams vom VogelsangKamm zurückgebracht worden waren. GefechtsROMs zeichneten technische Daten und Bilder der Geschütz-Kameras auf. Für Hawke waren sie eine Chance, nachzuvollziehen, wie es zu der Niederlage gekommen war, und zumindest zu versuchen, es zu verstehen.
»Glauben Sie ernsthaft, daß Sie hier irgend
etwa: entdecken werden, was Sie nicht bereits wissen?«
Hawke zögerte. »Ich hatte gehofft, daß die Bilder mir helfen
könnten, mich an etwas zu erinnern. Der MedTech äußerte, daß
Traumata häufig zu partieller Amnesie führten, und ...«
Able sah ihr geradewegs in die Augen. Er hielt sich trotz der
langen Stunden, die er bereits im Dienst war kerzengerade. Es
gingen Gerüchte, daß der Kommandanthauptmann es einmal geschafft
hatte, fünfzig Stunden am Stück wachzubleiben, als es darum ging,
sich bei Kontraktverhandlungen gegen die einheimischen Politiker
durchzusetzen. »Ihre Erinnerung ist äußerst vollständig,
Oberleutnant. Ich weiß, daß es so ist, denn ich habe Ihren Bericht
gelesen. Und ich habe mir die Gefechtszone selbst angesehen, nicht
nur Vidbilder.«
»Ja, Sir.«
»Ihre Kompanie rückte gegen Plünderer vor, die sich als Piraten aus
Morrisons Bande herausstellten, und geriet in einen Hinterhalt. Der
Gegner griff aus erhöhter Position und verschiedenen Richtungen
zugleich an so daß er Ihre Einheit innerhalb einer Minute
aufbrechen konnte. Es war ein Hinterhalt, Hawke. Gut geplant gut
vorbereitet, gut durchgeführt. Gleichgültig, wie Sie es
analysieren, Sie haben verloren. Wir
haben verloren.« Ables Stimme war nüchtern und enthielt keine Spur
von Vorwurf. »In Wahrheit können Sie von Glück sagen, daß Sie es
überlebt haben, besonders angesichts der Verletzungen, die Sie
erlitten haben.«
Er hatte recht. Sie hatte sich den linken Unterarm gebrochen und
reichlich Brandwunden, Abschürfungen und Prellungen erlitten, die
medizinisch hatten versorgt werden müssen. Wie viele Schnittwunden
an ihrem Körper verarztet worden waren, konnte sie selbst nicht
sagen.
»Die anderen nicht.«
»Richtig, aber das ist nicht Ihr Fehler. Hätten Sie angesichts
dessen, was Sie zu jenem Zeitpunkt wußten, irgend etwas anders
gemacht?«
Kommandanthauptmann Able hatte recht. Selbst wenn sie die Zeit
hätte zurückdrehen können, hätte sie genau dieselben Entscheidungen
getroffen. Ihre Kompanie hatte vier der Piratenmechs ausgeschaltet,
aber dafür hatten all ihre Leute das Leben gelassen.
»Nein, Sir«, stellte sie schließlich fest. »Wahrscheinlich hätte
ich exakt dieselben Entscheidungen getroffen, aber das bedeutet
nicht, daß ich bereit bin, die Verantwortlichen für dieses Debakel
damit durchkommen zu lassen.«
Hawke wußte, daß das Untersuchungs- und Bergungsteam das
Schlachtfeld abgegrast vorgefunden hatte. Vier Piratenmechs waren
erledigt worden, aber auf Kosten einer kompletten Kompanie der
Aces. Morrisons Ausbeuter hatten alles Bergungsgut aus den
Maschinen entfernt und mitgenommen und die Toten Aces in einem
Massengrab verscharrt. Manche waren nicht mehr zu identifizieren
gewesen. Auch Benjamins Leiche war so verkohlt gewesen, daß man sie
nur an den wenigen verbliebenen Uniformfetzen und seiner
Erkennungsmarke noch hatte identifizieren können.
Kommandanthauptmann Able drehte sich wieder zu den Filmbildern der
Holovidprojektion um. »Sie werden damit nicht durchkommen,
Oberleutnant. Nicht gegen diese Einheit und nicht gegen die
Menschen, deren Schutz wir übernommen haben.«
»Sir. Ich wollte nicht andeuten, daß ...«
»Ich weiß, was Sie sagen wollten, Oberleutnant. Und ich bin mir
auch darüber im klaren, welche Wirkung diese Sache auf Sie hatte.«
Er machte eine kurze Pause, schien seine nächsten Worte zu
überdenken. »Sie standen Benjamin Rassor nahe, nicht wahr? Wenn ich
mich recht entsinne, hat man ihre Beziehung in der Einheit als
›intim‹ umschrieben.«
Hawke verschlug es die Sprache. Unter den Aces war es eine
ungeschriebene Regel, daß ein Kommandeur niemals ein Wort über
intime Beziehungen zwischen seinen Untergebenen verlor, solange
diese die Leistung im Feld nicht beeinträchtigten. In aller Regel
machten Verhältnisse mit Mitgliedern der Zivilbevölkerung, zu deren
Schutz sie unter Vertrag stunden, mehr Probleme als die innerhalb
der Einheit.
»Sir, ich wüßte nicht, wie ...«
»Nein«, unterbrach Able sie. »Das ist mir klar. Deshalb bringe ich
es hier und jetzt zur Sprache. Ob Sie es glauben oder nicht, Hawke:
Ich bin über das meiste, was zwischen meinen Leuten vorgeht,
informiert. Ich befehlige ein volles Regiment. So etwas ist nicht
zu schaffen, wenn man seine Leute nicht kennt. Ihre Beziehung mit
Rassor war nicht Allgemeinwissen, und daran wird sich auch nach
unserem Gespräch hier nichts ändern.«
Hawkes Gesicht brannte, und sie blickte bewußt in guter
militärischer Tradition starr geradeaus auf einen imaginären Punkt
wenige Zentimeter über Ables Augen. »Ja, Sir. Danke, Sir.« Sie
bemühte sich um einen emotionslosen, professionellen
Tonfall.
»Sie brauchen mir nichts vorzuspielen, Oberleutnant. Ich bin mir
durchaus bewußt, wie hart das für Sie ist. Ich kann Ihnen
versichern, daß es mir nicht viel angenehmer ist. Ich kenne Sie
jetzt schon ziemlich lange als eine meiner Offizierinnen, und ich
habe mich noch nie in Ihr Privatleben eingemischt.«
Das stimmte. Zögernd und immer noch höchst verlegen sah Hawke dem
Kommandanthauptmann in die Augen.
»Ich würde diese Beziehung jetzt auch nicht ansprechen«, stellte
Able fest und ging auf die andere Seite des Holovidtisches. Er
beugte sich vor, stützte die Knöchel auf die Tischplatte und sah
sie durch die stummen Bilder kämpfender BattleMechs an. Die
rubinrotenLichtlanzen von Lasergeschützen zuckten über sein
Gesicht, gefolgt von wogenden schwarzorangeroten Explosionen in der
Baumlinie. »Aber wir stehen vor einem ernsteren Problem. Sie haben
es in Ihrem Bericht selbst angesprochen.«
Hawke nickte traurig. »Sie wußten, daß wir kamen, und sie kannten
unseren Schlachtplan. Sie wußten, von wo Benjamins Lanze anrücken
würde. Es gab ein gutes Dutzend Hohlwege, die wir hätten benutzen
können, und sie standen genau an dem, für den wir uns entschieden
hatten.«
»Wir haben einen Verräter in unserer Mitte«, stellte Able leise
fest.
»Es ist die einzige Erklärung, Sir.«
Jerry Able richtete sich wieder auf und rieb sich nachdenklich das
Kinn. »Unsere Analytiker kommen in ihrem Abschlußbericht, der
gestern auf meinem Schreibtisch gelandet ist, zu genau demselben
Schluß. Da Sie die einzige Überlebende des Hinterhalts sind und die
Operation geleitet haben, werden alle Finger auf Sie
zeigen.«
Hawke lief vor Wut rot an. »Sir, ich habe die Einheit
nicht...«
Able schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort an. »Ich weiß, daß
Sie es nicht waren. Aber unsere Analytiker genau wie ich auch
werden die Leute glauben lassen, was sie wollen, bis wir den wahren
Verräter gefunden haben. Zumindest eine Weile werden eine Menge
Acer Sie als Hauptverdächtige betrachten. Ich werde diese
Verdächtigungen noch unterstützen, indem ich Sie ausschließlich zu
leichtem Garnisons- und Trainingsdienst hier auf Gillfillan's Gold
einteile. Lassen Sie die Leute reden, wie sie wollen, Oberleutnant.
Früher oder später werden wir herausfinden, wer hinter diesem
Verrat steckt.«
»Wer immer es ist, er wird dafür bezahlen, Sir«, sagte sie. »Ich
schwöre es.«
Able nickte. »Sie haben mein Wort, Oberleutnant wenn es soweit ist,
dürfen Sie sich die Hundesöhne als erste vornehmen. Aber bis dahin
steht Ihnen einiges bevor. In ein paar Tagen wird ein
Händlerkontingen: auf seinem vierteljährlichen Rundflug von Slewis
nach Gillfillan's Gold aufbrechen. Ich teile Sie für den
Geleitschutz ein. Um den Schein aufrechtzuerhalten, daß ich Sie für
eine mögliche Verräterin halte, werden Ihrem direkten Befehl nur
ein Bataillon Milizinfanterie und eine Lanze Acermechs unterstehen.
Ich habe kommerzielle Sprungschiffpassagen von Slewis gebucht. Sie
kommen an Bord des Händlersprungschiffs zurück. Außerdem werben wir
drei Dutzend Randweltler an die meisten auf Caldarium, und ein paar
auch auf Slewis, weil Rassor der einzige Einheimische war, den wir
beim Vogelsanggefecht verloren haben. Die Anwerbung auf Slewis ist
bereits angelaufen. Sie werden dort den Befehl über die Rekruten
übernehmen und sich um alle notwendigen PR-Maßnahmen mit den
Händlern kümmern. Kurz gesagt, Sie machen sich auf den Weg, landen,
sichern die LZ, schaffen die Händler zum Sprungschiff und bringen
sie hierher. Während Ihrer Abwesenheit werde ich mir ein paar
Überraschungen ausdenken, um zu sehen, ob es mir gelingt, unseren
Intriganten ans Tageslicht zu locken. In der Zwischenzeit spielen
Sie die Rolle der niedergeschlagenen und verbitterten Offizierin.
Schaffen Sie das?«
Hawke glaubte nicht, daß sie dazu in der Lage war, aber das war
nicht die Antwort, die Able hören wollte. »Ja, Sir«, erwiderte sie
in dem vollen Bewußtsein, daß seine Frage rein rhetorischer Natur
gewesen war. Die Niederlage auf Caldarium war eine Ohrfeige für das
ganze Regiment, und der Rat der Planeten würde sie nicht vergessen,
wenn die Verhandlungen über eine Kontraktverlängerung
anstanden.
»Ich brauche Sie sicher nicht daran zu erinnern«, erklärte Able,
»daß ein Teil der Bezahlung der Aces aus einer Kommission für die
jährlichen Exporteinnahmen der Randgemeinschaft besteht, aber ich
tue es trotzdem.
Wenn die Händler Ware verlieren, verlieren wir Profit. .. - wenn
wir Profit verlieren, verlieren wir das Potential zum Einkauf neuer
Mecheinheiten und Ersatzteile für die Maschinen, die beschädigt
werden oder sich abnutzen.«
»Ich weiß, Sir.«
»In dieser Armee bedeutet guter Wille C-Noten. Unter dem
Strich.«
»Ja, Sir.«
Able streckte die Hand aus und schaltete den Holovidprojektor ab.
Die Bilder der Schlacht, die sie beide so viel gekostet hatte,
verschwanden. »Der Basispsychologe hat noch nichts von Ihnen zu
sehen bekommen, Oberleutnant. Statten Sie ihm einen Besuch ab.
Dafür bezahle ich ihn. Soweit es mich betrifft, ist das, was auf
dem Vogelsangkamm geschehen ist, Vergangenheit. Lassen Sie es
hinter sich, sonst verpassen Sie die Zukunft.«
Bevor Hawke darauf eine Antwort geben konnte, drehte Jerry Able um
und ließ sie in dem schummrig erleuchteten Zimmer zurück, damit sie
die Vergangenheit begrub und sich der Zukunft stellte.