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Jotunberge, Kore Peripherie11. April 3060
Es war die Kälte, die Sturm aufweckte. Als der dunkle Nebel um seine Gedanken sich allmählich lichtete, kehrte das Bewußtsein zurück, und mit ihm das Wissen um seine Lage. In diesen ersten Augenblicken war Sturm Kintaro klar, daß er aller Voraussicht nach ein toter Mann war.
Er wachte auf einem Felssims hoch über dem Talkessel auf. Er hatte keine Ahnung, ob er den Schleudersitz selbst hierher gelenkt hatte oder durch pures Glück hier gelandet war. Er war immer noch auf der gepolsterten Pilotenliege festgeschnallt, die ihn aus dem untergehenden Mech gerettet hatte. Sie lag auf der Seite, und die Gurte schnitten unangenehm in Sturms Schultern. Außerdem fühlte er stechende Schmerzen in der linken Seite. Er hob den Arm und öffnete das Gurtschloß, so daß er aus der Liege auf den eiskalten Fels rutschte. Als er versuchte, sich herumzuwälzen und aufzustehen, verwandelten sich die Schmerzen in glühende Nadeln, sich in sein Schultergelenk bohrten.
Verdammt! dachte er Der Sturz muß meinen Arm gehörig mitgenommen haben. Vorsichtig tastete er die linke Schulter und den Oberarm ab, die besonders stark schmerzten. Es schien nichts gebrochen zu sein, also war es vermutlich nur eine Prellung oder Zerrung. Er versuchte noch einmal, sich herumzuwälzen, diesmal zur anderen Seite, und behielt den verletzten Arm dabei dicht am Körper Es gelang ihm, sich aufzusetzen und seine Lage zu begutachten. Abgesehen von dem gezerrten Arm war er bei Ausstieg und Landung mit geringfügigen Schnittwunden und ein paar blauen Flecken davongekommen. Alles in allem konnte er froh sein.
Als er hinunter ins Tal blickte, war Sturm allerdings ganz und gar nicht froh. Die Überreste seines Mechs qualmten noch. Die Überlastung des kleinen Fusionsreaktors im Torso des Thorn hatte wenig mehr als verschmolzene Schlackereste der Mechglieder und einen großen schwarzen Krater übrig gelassen. Und was der Reaktor nicht zerstört hatte, durfte die Detonation der verbliebenen Raketenmunition erledigt haben. Selbst wenn er in der Lage gewesen wäre, hinunterzuklettern, konnte Kintaro sicher sein, in den Trümmern seines alten Mechs nichts mehr zu finden, was eine Bergung gelohnt hätte. Sein einziger Trost bestand darin, daß auch die Clan-Invasoren mit seinem Mech nichts mehr anfangen konnten.
Sturm schaute ans andere Ende des Tals. Die Schneemassen der von ihm ausgelösten Lawine waren weggegraben und zerschmolzen, und an ihrer Stelle blieb eine halbgefrorener Mischung aus Schneematsch und Eiszapfen zurück. Tiefe Spuren zeigten, wo die ClanMechs sich bewegt hatten, aber davon abgesehen war von ihnen nichts zu entdecken. Offensichtlich hatte sich der Puma freigegraben, wahrscheinlich mit der Hilfe des Uller, und dann waren beide Mechs abgezogen.
Sturm fragte sich, wie lange er bewußtlos gewesen war, und plötzlich wurde ihm klar, daß er am ganzen Körper zitterte. Es war weit unter Null, und außer dünnen Shorts und der Kühlweste hatte er nichts an. Seine Gliedmaßen wurden bereits taub, und wenn er nicht schleunigst einen Unterschlupf fand, würde er erfrieren.
Auf die umgekippte Pilotenliege gestützt zog Sturm sich langsam hoch und ging um den Sitz herum auf die andere Seite, um nach der Notfallausrüstung zu sehen.
Gott sei Dank, es ist noch alles da, dachte er, als er die schmale Kiste unter der Rücklehne hervor zog. Darin lagen eine wärmeisolierte Hose, die er hastig über die Schuhe zog, und eine leichte, ebenfalls wärmeisolierte Jacke. Die Kühlweste behielt er unter der Jacke an. Ohne Pumpe, um die Kühlflüssigkeit zirkulieren zu lassen, half sie seine Körperwärme zu speichern. Fertig angezogen stöberte Sturm in der Notfallausrüstung nach allem, was er in seiner Situation noch gebrauchen konnte. Er nahm den Notfalltornister einschließlich der Erste-Hilfe-Ausrüstung heraus und schnallte sich den dazugehörigen Maschengürtel um die Hüfte. Außerdem hatte er noch die Laserpistole und das Fahrtenmesser in der Knöchelscheide. Beide Waffen hatten den rasanten Ausstieg aus dem Thorn unbeschadet überstanden.
Nachdem er sich ausgerüstet hatte, wurde es Zeit, sich um eine Unterkunft zu kümmern. Er fühlte sich zwar bereits etwas wärmer als noch kurz zuvor, aber es konnte nicht mehr lange dauern, bis es Nacht wurde, und dann würde es wirklich kalt werden. Eine Nacht im Freien konnte er unmöglich überleben. Er brauchte einen windgeschützten Unterschlupf, an dem er möglicherweise ein Feuer machen konnte.
Kurz dachte er an den Thorn. Nein, von seinem Mech war nicht genug übrig geblieben, um ihm Schutz zu bieten, selbst wenn Sturm das Risiko eingegangen wäre, ins Tal hinabzuklettern. Er spielte auch kurz mit dem Gedanken, einen Iglu oder eine Eishütte zu bauen. Während des ArktisÜberlebenstrainings, das für alle Lanciers auf Kore zum Pflichtprogramm gehörte, hatte er es gelernt, aber auch dazu hätte er hinunter ins Tal steigen müssen, und er wußte nicht, ob er dieses Wagnis eingehen wollte.
Die Alternative bestand darin, aufwärts zu klettern. Die Talwände waren ziemlich steil, und er hatte keine Kletterausrüstung. Außerdem würde ihn sein verletzter Arm behindern. Aber aus den Forschungsergebnissen seines Vaters wußte Sturm, daß die Jotunberge von Höhlen und Tunneln durchsetzt waren. Die zahlreichen vulkanischen Formationen Kores waren ein beliebtes Gesprächsthema Dr. Kintaros. Das Gebirgsmassiv war voll von alten Lavatunneln und Dampfschloten, in denen häufig spektakuläre Kristall- und Erzstrukturen zu finden waren. In einem davon würde Sturm unterschlüpfen können, und wenn er Glück hatte, fand er sogar einen aktiven Dampfschlot oder eine heiße Quelle, in deren Nähe er sich wärmen konnte, ohne gleich bei lebendigem Leib gesotten zu werden. Das würde ihm eine Chance geben, sich sein weiteres Vorgehen zu überlegen.
Einen Moment stand er auf dem Felssims und schaute die Bergwand hinauf. Das ganze Ausmaß dessen, was er sich da vorgenommen hatte, raubte ihm fast den Atem. Selbst wenn er einen Unterschlupf fand, war er immer noch zwei Dutzend Kilometer von der Heimatbasis in einer lebensfeindlichen Umgebung gestrandet, und daheim erwarteten ihn die Clanner. Falls sie nicht einfach alle umbrachten und ...
Nein! Er schüttelte heftig den Kopf, um derartige Gedanken zu vertreiben. Es brachte ihm gar nichts, sich jetzt selbst Angst einzujagen. Er mußte sich auf die aktuelle Situation konzentrieren. Sturm erinnerte sich daran, was Krenner ihn gelehrt hatte: »Erst einmal geht es darum, am Leben zu bleiben. Um alle anderen Probleme kannst du dich später kümmern.« Er biß die Zähne zusammen und machte sich auf den Weg den Berg hinauf.
Er kam nur langsam voran. Mehrmals rutschte er auf dem glatten Fels fast ab und stürzte, aber es gelang ihm doch noch, sich festzuklammern. Schon nach wenigen Minuten pochte und brannte seine Schulter, aber Sturm klammerte sich an die Schmerzen, wie er es gelernt hatte, und benutzte sie dazu, sich weiter zu treiben, wach und aufmerksam zu bleiben. Der Schmerz war wie eine Hitzewelle, die sich durch den restlichen Körper ausbreitete. Auf eine perverse Art und Weise war er fast angenehm.
Kintaro zog sich auf einen anderen Sims und brach zusammen. Er mußte sich ein paar Sekunden ausruhen. Allzu lange konnte er nicht bleiben. Es wurde bereits dunkel. Nicht mehr lange, und er würde nicht genug sehen können, um weiterzuklettern. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon unterwegs war, aber es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Er blieb kurz auf einer Seite liegen, und sein stoßweiser Atem kondensierte in der eisigen Luft zu kleinen Dunstwolken.
Plötzlich hörte er etwas ganz in der Nähe, ein
dumpfes, knurrendes Geräusch. Er blieb einen Moment reglos liegen
und versuchte herauszufinden, woher das Geräusch kam, dann wurde
ihm abrupt klar, daß er auf der um seine Hüfte geschnallten
Laserpistole lag. Als er sich umdrehte, blickte Sturm auf und sah
eine große, weißbepelzte Gestalt aus einem dunklen Spalt in der
Bergwand treten. Die Gestalt war groß, fast so groß wie Sturm,
bewegte sich auf vier Beinen und hatte ein bleiches Fell, dessen
Farbe den Schneeflecken auf dem Felssims entsprach. Ihre lange
Schnauze war mit scharfen weißen Zähnen bestückt, die zwischen den
schwarzen Lippen und unter der ebenso schwarzen Nase drohend
bleckten, als sie knurrend näherkam.
Ein Winterwolf! Der Winterwolf war eine
einheimische Tierart Kores. Die Eierköpfe der biologischen
Forschungsabteilung vermutete, daß er zusammen mit anderen
Lebensformen vor Jahrhunderten im Rahmen eines fehlgeschlagenen
Kolonisierungsversuchs auf Kore heimisch gemacht worden war und
ursprünglich von terranischen Vorfahren abstammte, die genetisch an
das Überleben in der Polarwildnis angepaßt worden waren.
Winterwölfe gehörten zu Kores größten und gefährlichsten
Raubtieren. Sie hatten breite Pfoten, die es ihnen gestatteten,
ihre Beute über die Schneewüsten zu hetzen und sich durch das
zerklüftete Terrain der Berglandschaften zu bewegen, in denen sie
auch ihre Bauten etablierten. Dieser Wolf war keine vier Meter von
Sturm entfernt, und er wirkte hungrig. Normalerweise griffen
Winterwölfe keine Siedlungen an, aber es gab Berichte von Angriffen
auf einzelne Personen in der Wildnis.
Und ich muß wie ein lahmes Mitglied der Herde wirken, dachte Sturm. Er wälzte sich langsam, vorsichtig herum und griff nach der Laserpistole. Er öffnete die Holsterklappe und legte die tauben Finger um den Griff. Sein Pech, daß er sich als Linkshänder ausgerechnet den linken Arm verletzt hatte. Dadurch mußte er die Waffe mit der schwächeren Hand ziehen. Als der Wolf erneut knurrte, warf sich Sturm zur Seite und riß die Pistole aus dem Holster so schnell er konnte.
Der Winterwolf griff an. Sturm Kintaro schoß. Der Laserimpuls brannte mit einem Krachen abrupt erhitzter Luft und dem Gestank verbrannten Fells und Fleischs eine Spur an der rechten Flanke des Tiers entlang. Das hundert Kilo schwere Raubtier krachte gegen Sturm, und beide rollten über den Sims, bis sie gefährlich dicht an der Kante zum Stillstand kamen.
Sturm versuchte, dem Wolf einen Schlag auf den Hals zu versetzen, aber sein verletzter linker Arm war zu schwach, um dem Hieb die nötige Wucht zu geben. Der Winterwolf stürzte sich mit gefletschten Zähnen auf Sturms Kehle. Sturm riß den Laser herum und feuerte wieder. Ein leuchtender, rubinroter Lichtstrahl zuckte aus der Mündung und bohrte sich durch den Hals des Tieres.
Ein furchtbares Bruzzeln wurde vom Knall des Laserstrahls beendet, dann brach das Aufheulen des Winterwolfs abrupt ab, als der Energiestrahl seine Kehle und Stimmbänder wegbrannte. Ein gewaltiges Gewicht fiel auf Sturms Brust, und vom Gestank des verkohlten Fells und Fleischs wurde ihm übel.
Es gelang Sturm, den toten Winterwolf mit den Beinen zur Seite zu stoßen. Er lag mehrere Sekunden keuchend nur da, bevor er nachsah, ob er verletzt war. Die Krallen und Zähne des Winterwolfs hatten ihm ein paar kleinere Kratzer an den Armen eingetragen, und eine lange, blutige Schnittwunde, wo die Hinterpfoten des Wolfs seine Hose aufgerissen hatten, aber davon abgesehen, war er unverletzt.
Kintaro, dachte er. Was bist du doch für ein Glückspilz.Aber es war trotzdem zu empfehlen, daß er sich in Bewegung setzte, bevor sein Glück ihn verließ. Er richtete sich mühsam auf und starrte auf das tote Raubtier hinab, als ihm plötzlich etwas einfiel.
Er blickte hoch zu der dunklen Felsspalte, aus der der Winterwolf aufgetaucht war. Eine Höhle! Eine Höhle bedeutete Unterschlupf, Wärme, Überleben. Natürlich konnte diese Höhle, wenn sie der Winterwolf als Bau benutzt hatte, auch zusätzliche Gefahr in Gestalt eines zweiten erwachsenen Wolfs oder eines Wurfs von Jungen bedeuten, aber inzwischen war Sturm zu mitgenommen, um sich noch abschrecken zu lassen, und wählerisch zu sein, konnte er sich nicht mehr leisten. Er ging zu der dunklen Höhlenöffnung hinüber und duckte sich hinein. Im schwächer werdenden Tageslicht erkannte er, daß sie reichlich eng war - mit ausgestreckten Armen konnte er beide Seitenwände berühren -, aber die Höhle erstreckte sich bis tief in den Berg und verlor sich in der Dunkelheit. Der Boden war glattgeschliffen und mit den Knochenresten verschiedener Beutetiere des Winterwolfs übersät.
Beinahe instinktiv stellte Sturm einen Näherungssensor aus dem Notfallset am Höhleneingang auf und heizte mit dem Laser einen kleinen Stapel Steinbrokken als Wärmequelle auf. Dann brach er an der Höhlenwand zusammen. Er wußte wohl, daß er die Kratzer von dem Kampf mit dem Winterwolf so schnell wie möglich reinigen mußte, und daß er wahrscheinlich auch gut daran getan hätte, seinen verletzten Arm zu versorgen, aber im Augenblick war er nur müde, so müde, daß ihm alles egal war. Seine letzten Gedanken, bevor er einschlief, drehten sich um die Hoffnung, daß der Wolf ein Einzelgänger gewesen war und die Frage, welchen Grund die Clans gehabt haben könnten, nach Kore zurückzukehren. Dann umfing ihn die Nacht.