14
Kore-Lanciers-Basis, außerhalb Niffelheims, Kore Peripherie16. April 3060
Susie Ryan war in keiner guten Stimmung. Nach fünf Tagen auf einer Ödwelt am Rande der Peripherie waren all ihre Anstrengungen zu finden, weshalb sie hergekommen war, gescheitert. Beinahe hätte sie sich gefragt, ob an den Gerüchten und Erzählungen, die sie gehört hatte, überhaupt etwas Wahres war, wäre da nicht ein Punkt gewesen. In den letzten zwei Nächten waren ihre Leute von Clan-BattleMechs unbekannter Herkunft angegriffen worden, die das Emblem der Stahlvipern getragen hatten. Aber wer waren diese Angreifer? Waren sie wirklich Stahlvipern? Wie waren sie nach Kore gekommen, und was wollten sie hier?
Bis jetzt waren mindestens zwei ClanMechs an den Angriffen gegen die Rebellen beteiligt gewesen: ein Goshawk und ein Hellhound, beides typische Stahlviper-Modelle, beide knochenweiß lackiert, mit einem Totenschädelmotiv auf der Kopfpanzerung. Vor zwei Nächten war Karl Yaeger im Kampf gegen den Goshawk gefallen, und sein Uller war kampfunfähig geschossen worden. Niemand sonst hatte den Mech auch nur gesehen. Als die Verstärkungen eintrafen, war er bereits verschwunden gewesen. Sie wußten nur aus Yaegers letztem Funkspruch an die Basis, daß er von einem Goshawk angegriffen worden war.
Der Hellhound hatte in der darauffolgenden Nacht den auf Streife befindlichen Puma angegriffen. Diesmal hatte Ryan dafür gesorgt, daß Hilfe in der Nähe war. Als sie in ihrem Mad Cat eintraf, hatte sie einen Blick auf den schneeweißen Mech erhascht, bevor er im Gebirge verschwunden war. Sie hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, ihn zu verfolgen, aber sie hatte nicht wissen können, ob der Pilot irgendwo Verbündete hatte, die für eben diesen Fall im Hinterhalt auf der Lauer lagen, also hatte sie sich dagegen entschieden. Der Puma war nicht wirklich schwer beschädigt, aber es würde Zeit kosten, die verlorene Panzerung zu ersetzen. Wenigstens hatten die Techs inzwischen den erbeuteten Panther wieder in Gang gebracht. Er konnte fürs erste die Funktion des Uller übernehmen, und Ryan hatte genug MechKrieger für die Aufgabe mitgebracht, für die sie gekommen war. Yaeger zu ersetzen, stellte also kein Problem dar, aber das beantwortete die Frage nicht, woher diese Angreifer kamen.
Ryan war nicht so dumm, zu glauben, daß die geheimnisvollen Mechs unbedingt von Clannern gesteuert werden mußten. Schließlich hatte sie selbst Clan-Maschinen mit Clanwappen benutzt, um Kores Verteidiger zu täuschen. Dasselbe Spiel konnte ohne weiteres auch jemand anderes spielen. Aber was, wenn es tatsächlich Stahlvipern waren! Was, wenn sie zurückgekehrt waren?
»Nein, unmöglich«, stieß Ryan aus, während sie durch das Kommandeursquartier der LancierZentrale tigerte. »Es können keine Clanner sein.«
Sie hatte diese Unterkunft übernommen, kurz nachdem die Basis gesichert war. Die Einrichtung war spartanisch, aber sie hatte schon schlechter gewohnt. Alle persönlichen Besitztümer und sonstiger Müll, der Oberleutnant Holt gehört hatte, dem Kommandeur der Lanciers, hatte sie in eine Kiste geworfen, um sie loszuwerden.
Auf einem Tisch lagen Meßblätter Kores, auf denen die Stellen, an denen Ryans Mechs ungewöhnliche Magnetwerte gemessen hatten, grün markiert waren, und die Punkte, an denen die geheimnisvollen Mechs zugeschlagen hatten, rot.
»Es können keine Clanner sein«, wiederholte Ryan wie eine Beschwörungsformel. Die Insula hatte keine Ankunft eines anderen Sprungschiffs im System gemeldet. Es war natürlich denkbar, daß ein Clanschiff am Nadirsprungpunkt in das System eingetaucht war, auf der gegenüberliegenden Seite der Sonne, wo es durch das Zentralgestirn vor einer Ortung durch ihr Sprungschiff geschützt war. Aber sie hatte auch keine Warnung vor anfliegenden Landungsschiffen erhalten, weder von ihrem Sprungschiff noch vom Satellitennetz des Planeten. Andererseits war dieses Netz alles andere als umfassend. Ein kleines Landungsschiff hätte unbemerkt durchschlüpfen können, aber ... Nein. Es war einfach unmöglich, daß die Clans BattleMechs auf Kore abgesetzt hatten, ohne daß sie davon erfahren hatte.
Natürlich bestand immer die Möglichkeit, daß die Clans über Technologien und Ressourcen verfügten, die in der Inneren Sphäre völlig unbekannt waren, aber wenn sie tatsächlich über einen Weg verfügt hätten, auf einem Planeten zu landen, ohne bemerkt zu werden, hätte sich das mit Sicherheit schon bis zu ihr herumgesprochen. Sie kämpfte seit zehn Jahren gegen die Clans und kannte sie so gut wie jeder andere. Außerdem paßten Guerillakriegsführung und Überraschungsangriffe einfach nicht zu den Clans, nicht einmal zu den Stahlvipern. Sie zogen die offene Feldschlacht vor. Hätten die Clans Mechs auf Kore gehabt, hätten sie ihre Zeit nicht mit Hinterhalten für einzelne Rebellenmechs vergeudet, sie wären einfach aufmarschiert und hätten angegriffen, erst recht, wenn sie im Vorteil gewesen wären. Selbst mit einem einzigen Mechstern wären sie der einzelnen Lanze der Rebellen zahlenmäßig überlegen gewesen, warum griffen sie dann nicht an, erst recht jetzt, wo der Uller außer Gefecht war? Falls die ClanMechs aber nicht nach den Rebellen eingetroffen waren, gab es nur eine andere Erklärung: Sie waren schon auf Kore gewesen, bevor Ryan und ihre Leute hierher gekommen waren. Das bestärkte sie darin, recht damit gehabt zu haben, nach Kore zu kommen. Aber irgend jemand hatte ihr die Trophäe, auf die sie es abgesehen hatte, vor der Nase weggeschnappt. Noch war Zeit, den Spieß umzudrehen und die Situation in einen Sieg umzumünzen, aber dazu mußte sie sich erst sicher sein, daß ihre Einschätzung stimmte.
Sie setzte sich aufs Bett und drückte einen Knopf am Interkom. Augenblicklich meldete sich eine Stimme.
»Ja, Skipper?«»Haben die Techs schon Fortschritte beim
Zugriff auf die Computerdateien der Basis gemacht?«
»Ähmm, nein, noch nicht, Skipper. Sie waren damit beschäftigt, den
Schaden an den Mechs zu reparieren, und es war kein ...«
»Ich will keine Entschuldigungen«, unterbrach Ryan. »Ich will diese
Dateien. Hol ein paar der eingesperrten Techs und setz sie an die
Arbeit. Tu, was immer nötig ist, um die Paßwörter aus ihnen
herauszuholen, oder ich komme runter und demonstriere ein paar neue
Verhörmethoden an dir,
verstanden?«
»Jawohl!« bestätigte die Stimme am anderen Ende. »Ich mache mich
sofort an die Arbeit.«
Susie Ryan schaltete das Gerät ab und ließ sich nach hinten aufs
Bett fallen.
Verdammt! dachte sie und schlug mit der
Faust auf die harte Matratze. Alles war perfekt abgelaufen. Sie
hatten den Plan fehlerlos abgewickelt, das nach Kore fliegende
Landungsschiff in ihre Gewalt gebracht, um ihre Mechs auf die
Oberfläche zu bringen, die planetaren Verteidiger sauber und
schnell aus dem Weg geräumt. Sie hatten sich die Stadt und die
wissenschaftlichen Mittel gesichert, die sie zur Unterstützung
ihrer Suche brauchten. Alles war perfekt abgelaufen, bis diese
»Geister« aufgetaucht waren.
Hör' sich das einer an, verspottete sie
sich in Gedanken selbst. Jetzt nenne ich sie
schon selber so. Unter ihren Leuten zirkulierten Gerüchte,
daß die geheimnisvollen BattleMechs, die ihre Rebellen
attackierten, gar keine echten Mechs waren, sondern Gespenster aus
einer Legende der Einheimischen über ein »Väterchen Frost«.
MechKrieger waren an sich schon eine abergläubische Bande, und
Raumpiraten erst recht. Manche von ihnen glaubten allen Ernstes,
Kore sei verflucht oder von Gespenstern befallen oder was auch
immer, und wollten so schnell wie möglich wieder abfliegen. Ryan
hielt von derartigem Schwachsinn überhaupt nichts, aber sie war auf
ihre Männer angewiesen. Je länger diese Sache dauerte, um so weiter
würden diese Gerüchte und Horrorgeschichten ausufern, und um so
mehr würden die Männer sich gegen eine Aufgabe sträuben, in der sie
ohnehin keinen Sinn erkennen konnten. Möglicherweise würde sie
sogar gezwungen sein, ihnen den wahren Grund zu verraten, aus dem
sie nach Kore gekommen waren. Die Verlockung des möglichen Gewinns
konnte vielleicht etwas von der Unzufriedenheit in den Reihen der
Truppen ersticken.
Was sie jetzt brauchte, war schnelles und entschlossenes Handeln,
eine Aktion, mit der sie das Unternehmen zurück in sichere Bahnen
brachte und ihre Leute davon überzeugte, daß sie selbst mit
»Väterchen Frost« fertigwurde. Als es an der Tür klopfte, lächelte
Ryan und setzte sich auf.
»Herein.«
Lon Volker betrat den Raum, gefolgt von einer bewaffneten Wache.
Volker trug Zivilkleidung, hatte es aber geschafft, sich ein
präsentables Aussehen zu bewahren. Sein blonder Bart war perfekt
gestutzt, und er wirkte sauberer als sein Bewacher. Auf Ryans
Befehl hatten die Piraten den Gefangenen Zugang zu den sanitären
Einrichtungen gewährt. Sie wollte den Eindruck fördern, daß die
Koren durch Zusammenarbeit ihr Leben retten konnten.
Sie nickte der Wache zu. »Warte draußen und sorg dafür, daß wir
nicht gestört werden.« Der Mann nickte und zog sich zurück. Die Tür
zog er hinter sich ins Schloß.
Volker beobachtete Ryan mißtrauisch, als sie auf den Lehnstuhl
neben dem Tisch deutete.
»Setz dich«, forderte sie ihn auf. Kurz zuckte Trotz durch den
Blick des Koren, aber dann ging er zum Tisch und setzte sich. Dabei
umklammerte er mit den Händen die Armlehnen des Stuhls.
»Du wolltest eine Gelegenheit, mir deinen Wert zu beweisen«,
stellte sie fest. »Jetzt hast du sie.«
»Was wollen Sie?« fragte Volker.
»Informationen«, meinte Ryan. »Erzähl mir von dem MechKrieger, der
den Thorn gesteuert hat.«
Volker zog überrascht die Stirn kraus. »Kintaro? Warum?«
»Weil ich dich höflich darum gebeten habe«, erwiderte sie mit
gefährlich leiser Stimme. »Zwinge mich nicht, die Bitte zu
wiederholen.«
Volker schluckte und senkte den Blick, dann sah er wieder zu Ryan
hoch. »Er war noch ein Kind. Er hat vor zehn Jahren als Anwärter
angefangen. Der Oberleutnant und Krenner haben ihn seiner Mutter
wegen gefördert. Sie war die Kommandeurin unserer Einheit, bis sie
vor zehn Jahren im Kampf gegen die Clans gefallen ist.«
»Wie gut ist er als Pilot?«
»Nicht so gut wie ich«, erklärte Volker und wagte ein Lächeln. Dann
meinte er in nüchternerem Ton: »Er war ganz gut, schätze ich. Bei
den Manöverübungen und im Simulator hat er sich ganz ordentlich
gehalten, aber er hatte noch keinen echten Kampf
mitgemacht.«
Jetzt war es an Ryan, zu lächeln. »Genausowenig wie du bis vor ein
paar Tagen, Mech-Boy. War er für alle Mechs der Einheit
qualifiziert?«
»Ja, das waren wir alle. Für verschiedene Klassen und Modelle
ausgebildet. Krenner legte Wert darauf, daß wir uns mit allen Mechs
auskannten, die wir hatten, und wußten, wie wir damit umzugehen
hatten, von innen und von außen.«
»Wie steht es mit ClanMechs?«
»ClanMechs?« fragte Volker zurück. »Na, wir haben im Simulator
gegen eine Menge ClanMechs gekämpft. Die Programme basierten auf
Daten, die die Sturmreiter vom VerCom-Militär hatten. Ich weiß aber
nicht, wie akkurat die waren.«
»Könnte Kintaro einen ClanMech steuern?«
Volker runzelte nachdenklich die Stirn. »Schätze schon. Ich meine,
Mech ist Mech. Ich weiß, daß ich einen steuern könnte, also könnte
Kintaro das möglicherweise auch schaffen, nehme ich an.«
Ryan stand auf und wanderte zu einem kleinen Tisch hinüber, wo sie
ein CenturionModell aufhob und langsam
in den Händen drehte.
Volker drehte den Kopf zu ihr um. »Warum all die Fragen über
Kintaro? Wozu das? Er ist tot.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, stellte Ryan fest, mehr zu sich
selbst als für Volker.
»Wovon reden Sie? Er kann nicht überlebt haben! Er war tagelang mit
nichts als einfachster Notfallausrüstung da draußen, und Ihre Leute
haben ihm den Mech unter dem Hintern weggeschossen. Es ist
unmöglich, daß er das überlebt hat.«
»Du könntest ihn unterschätzen. Aber ich kann mir das nicht
leisten.«
Volker sprang auf. Sein Mund war zu einem wütenden Strich
verkniffen. »Ich? Diesen Dreikäsehoch unterschätzen? Hören Sie mal,
der war überhaupt nur in der Einheit,
weil...«
»Ich bin nicht an deiner Meinung interessiert, Volker.« Ryans
Stimme war pures Eis, als sie ihren Gefangenen fixierte. »Nur an
deinen Antworten auf meine Fragen.«
»Na schön«, erwiderte Volker. »Ich sage Ihnen, Kintaro ist die
geringste Ihrer Sorgen ... Es sei denn, er ist als Väterchen Frost
von den Toten zurückgekehrt.« Ryan wirbelte zu Volker herum, und
das Mechmodell zerplatzte unter dem plötzlichen Druck ihrer Hand
mit einem lauten Knall, der wie ein Pistolenschuß durch das Zimmer
hallte.
»Das war es doch, nicht wahr?« Volker wagte ein Grinsen. »Sie
glauben, Kintaro hat was mit den Angriffen auf Ihre Leute zu tun.«
Als er Ryans überraschten Gesichtsausdruck sah, zuckte er nur die
Schultern. »Die Gerüchte bekommt man selbst im Arrest mit. Ich weiß
alles über diese ›Geister‹-Mechs.«
»Was weißt du?« fragte Ryan. Sie warf die zersplitterten
Plastikteile des Modells auf den Tisch und klopfte die
behandschuhten Hände sauber.
»Ich weiß, daß Ihre Leute Angst haben«, erklärte Volker. »Manche
von ihnen glauben wirklich an Väterchen Frost.«
»Aber du nicht?«
»He, wenn's ein Mech ist, ist er aus Metall und Plastik, und dann
kann ich ihn abschießen. Setzen Sie mich in ein Mechcockpit, und
ich erledige Ihnen ›Väterchen Frost‹.«
»Interessanter Gedanke«, meinte Ryan. »Aber ich habe andere Pläne
für dich.«
»Was für Pläne?« fragte Volker mißtrauisch, als Ryan einen Schritt
näher kam und ihn verschlagen anlächelte.
»Wie ich schon sagte, du wolltest eine Gelegenheit, dich zu
beweisen, und die gebe ich dir jetzt.« Sie packte Volker an den
Schultern und stieß ihn hart nach hinten.
Er stolperte ein paar Schritte zurück, bis er an die Bett-Kante
stieß. Seine Knie knickten ein, und Volker fiel auf die
Matratze.
Bevor er wußte, wie ihm geschah, war Ryan schon auf ihr Bett
gesprungen und preßte ihren Mund auf den seinen. Sie küßte ihn
gierig und fühlte, wie er den Kuß erwiderte. Er versuchte, sie zu
umarmen, aber Ryan packte seine Handgelenke und preßte sie über
seinem Kopf aufs Bett. Sie sah zu ihm hinab und lächelte.
»Du glaubst also, du wärst soweit?« Sie lachte leise aber das dumme
Grinsen des jungen MechKriegers und dessen Versuche, unter ihrer
Annäherung cool zu bleiben. Manche Verhörtechniken machten richtig
Spaß, dachte sie. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie alles
hatte, was sie brauchte, um die Hindernisse auf dem Weg zu ihrem
Ziel aus dem Weg zu räumen. Aber jetzt sollte Volker ihr erst
einmal zeigen, wie gut er wirklich war.