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Landungsschiff General Gordon,
im Anflug auf Gillfillan's Gold Randgemeinschaft,
Peripherie
Livia Hawke saß in ihrem Büro an Bord der General Gordon und studierte den Bericht auf dem Datenschirm wohl schon zum tausendsten Mal. Zumindest schien es ihr so. Sie hatte ihren Rekruten ein hartes Trainingspensum verordnet, und allem Anschein nach machten sie Fortschritte.
Vor acht Tagen hatten die General Gordon und die Handelsraumer unter ihrem Schutz planmäßig am Rumpf des Händlersprungschiffs angedockt und waren ins System von Gillfillan's Gold gesprungen. Jetzt flogen die drei Landungsschiffe auf den Planeten zu. Noch konnte eine Menge schiefgehen, und Hawke hatte nicht vor, unvorsichtig zu werden. Am Vogelsangkamm hatte sie gelernt, daß selbst ein »Spaziergang‹‹ tödlich enden konnte.
Noch zwei Tage, dann würden sie aufgesetzt
haben Sie freute sich darauf, nach Gillfillan's Gold
zurückzukehren. Es war die einzige Heimat, die sie derzeit hatte.
Aber bis die Händler ihre Geschäfte erledigt hatten und sicher
wieder unterwegs waren, würde sie wachsam bleiben.
›König‹ Morrison‹ hatte inzwischen auf allen Welten der
Randgemeinschaft zugeschlagen, nur nach Gillfillan's Gold hatte er
sich bis jetzt nicht gewagt. Kommandanthauptmann Able war sich aber
sicher, daß das nur eine Frage der Zeit war. Wenn Morrison
versuchte den Rat der Planeten in Angst und Schrekken zu versetzen
und Zweifel an der Fähigkeit der Aces zu säen seinen
Regierungsbereich zu schützen, gab es keinen geeigneteren Ort.
Gillfillan's Gold war nicht nur der Standort des
Söldnerhauptquartiers. Hier hatte auch die Regierung der
Randgemeinschaft ihren Sitz.
Das Problem war, daß es schon eine gewaltige Aufgabe war, einen einzigen Planeten zu verteidigen, geschweige denn derer sechs. Kommandanthauptmann Able hatte die drei Bataillone der Aces bei dem Versuch, die lebenswichtigsten Bereiche der Randgemeinschaft zu sichern, gefährlich aufgesplittert. Hawke verdrängte diese Sorgen aus ihren Gedanken und widmete sich wieder dem Studium der Berichte. Gunney Coombs hatte die neuen Rekruten bis an ihre Grenzen und darüber hinaus getrieben. Gymnastik, Nahkampf- und Schußwaffentraining und stundenlange Simulatorgefechte füllten jede wache Minute. Sie hatte auf einem vollen Stundenplan mit minimaler Freizeit bestanden. Ihre Rekruten waren gute Milizionäre, aber jetzt mußten sie sich als Frontsoldaten bewähren. Sie wußte aus eigener Erfahrung, daß manche Milizionäre das einfach nicht packten, und es war besser, sie jetzt gleich auszusieben, als sie später im Gefecht zu verlieren.
Diese Gruppe machte sich bis jetzt wirklich gut, und es beunruhigte sie, Harley Rassors Namen an der Spitze der Bewertungsliste zu sehen. Zu Beginn des Trainings war er ein harter Brocken gewesen, beinahe waghalsig. Aber er hatte sich bei den Übungen gut an die verschiedensten Mechs angepaßt und trotz jener ersten Simulation, die nichts derartiges hatte erwarten lassen, zeigte er eine Begabung für Teamwork. Rassors Werte in Mechführung und Treffsicherheit lagen gute zehn Prozent über denen seiner Kameraden. Im Nahkampf konnte ihn nur ein einziger der anderen besiegen. Wichtiger noch war, daß er bewiesen hatte, aus seinen Fehlern lernen zu können, eine der wichtigsten Fähigkeiten überhaupt für einen MechKrieger.
Das war noch nicht alles. Er teilte einige der körperlichen Merkmale und Eigenheiten seines Bruders. Das hätte sie nicht überraschen dürfen, aber es setzte ihr ständig zu. Es war, als würde Bens Schatten sie verfolgen und sie konstant an den Vogelsangkamm erinnern. Wann immer sie Harley sah, blickte sie in Benjamins Gesicht. Es war wie ein ständiger Vorwurf für die Art und Weise seines Todes.
Einen Punkt gab es allerdings, in dem er sich grundlegend von Ben unterschied: Harley Rassor haßte sie. Es war unübersehbar. Sein gesamtes Auftreten ihr gegenüber schrammte tagtäglich haarscharf an Insubordination vorbei. Aus genau diesem Grund hatte sie ihn heute zu sich bestellt. Sie mußten sich unterhalten, mußten die Spannungen abbauen. Kommandanthauptmann Able hatte ihr verboten, über die Geschehnisse am Vogelsangkamm zu sprechen, aber sie würde versuchen müssen, dieses Verbot so weit wie irgend möglich zu umgehen.
Es klopfte. »Herein«, sagte sie und stand auf.
Harley Rassor kam herein und schloß die Luke. Dann nahm er Haltung
an. »Schütze Harley Rassor meldet sich wie befohlen,
Ma'am!«
»Stehen Sie bequem, Schütze«, forderte sie ihn auf und deutete auf
den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. »Bitte, setzen Sie
sich.«
Harley nahm Platz und saß ihr so steif gegenüber, als stünde er
noch immer stramm. Das würde nicht einfach werden. Sie ließ sich
langsam auf ihren Platz sinken, und wieder starrte ihr aus Harleys
Gesicht Benjamin entgegen.
»Schütze Rassor, Sie haben sich seit Ihrer Ankunft hier
bemerkenswert entwickelt. Sie haben die Spitzenposition in den
Gefechtsbewertungen. Meinen Glückwunsch.«
»Danke, Ma'am«, erklärte er steif und sah über sie hinweg, an ihr
vorbei, wohin auch immer, nur nicht zu ihr.
Hawke faltete die Hände und legte sie vor sich auf den
Schreibtisch, um sich zu sammeln. »Schütze Rassor«, stellte sie mit
einer gewissen Förmlichkeit fest. »Ich habe Sie hierher bestellt,
um zu sehen, ob es uns gelingt, ein paar unserer Probleme aus der
Welt zu schaffen.«
»Keine Probleme, Ma'am.« Sein Tonfall war knapp und
korrekt.
»Schütze Rassor«, versuchte sie es noch einmal, und wählte ihre
Worte mit Überlegung. »Seit Sie hier bei den Aces sind, spüre ich
Ihre Feindseligkeit. Ich würde sagen, wir wissen beide, woher sie
kommt.«
Harleys Wangen röteten sich leicht. »Ich weiß nicht, was Sie
meinen, Ma'am.«
»Ihr Bruder Benjamin hat unter mir gedient.«
»Ja, Ma'am.«
»Er ist unter meinem Befehl gefallen.«
»Ja, Ma'am. Das ist er, Ma'am.«
»Und Sie geben mir die Schuld für seinen Tod.«
Diesmal antwortete er erst nach einer kurzen, aber spürbaren Pause.
»Ich weiß nicht, Ma'am.« Etwas von der Verbissenheit in seiner
Stimme war verklungen, aber nicht viel.
Irgendwie drängte es Livia Hawke, Harley zu sagen, wie sehr sie
Benjamin geliebt hatte. Sie wollte ihm erzählen, daß ihre Nächte
eine einzige Folter waren, in der sie schweißgebadet aufwachte und
sich fragte, ob sie tatsächlich verantwortlich für seinen Tod
gewesen war. Sie wollte ihm deutlich machen, daß auch sie einen
furchtbaren Verlust erlitten hatte.
Aber sie konnte es nicht. Sie war eine Offizierin. Er war ein ihr
unterstellter Soldat. Es wäre unangemessen gewesen, über etwas
Derartiges mit ihm zu sprechen. Bei seinem Bruder hatte sie diese
unsichtbare Linie überschritten, und dafür zahlte sie jetzt einen
hohen Preis.
»Um ehrlich zu sein, Schütze, habe ich meine Aktionen am
Vogelsangkamm auch in Frage gestellt. Ich habe mir die Begegnung
noch einmal vorgenommen, habe jedes Quentchen an Daten überprüft,
das wir von diesem Gefecht besitzen, alles, was wir wußten, alles,
was wir gesehen haben, alles, was wir gehört haben alles, was dort
geschehen ist. Ich habe nach etwas, irgend etwas, gesucht, was ich
hätte tun können, um das Ergebnis anders ausfallen zu lassen. Ich
habe nichts gefunden. Mit dem Wissen, daß ich damals besaß, hätte
ich nichts anders machen können.« Es hatte eine Weile gedauert,
aber schließlich hatte sie eingesehen, daß Kommandanthauptmann Able
recht gehabt hatte.
»Dann dürfen wir wohl beide dankbar dafür sein, daß Sie nicht noch
einmal vor dieser Entscheidung stehen«, stellte Harley kalt
fest.
Sie ignorierte seinen Sarkasmus. »Als ich sah, daß Sie den Aces
zugeteilt werden sollten, habe ich versucht, Sie aus der Liste zu
streichen, Harley. Wie es scheint hat Ihr Vater Einfluß bei
Kommandanthauptmann Able.«
»Mein Vater war derjenige, der wollte, daß ich mich zu den Aces
melde.«
»Warum?« Hat eure Familie noch nicht genug
Opfer gebracht?
»Die Wahrheit bedeutet uns viel. Ich bin hier, um herauszufinden,
was wirklich mit Benjamin geschehen ist.«
»Ich war da.«
»Ja, Ma'am, das weiß ich. Sie waren die einzige
Überlebende.«
Da war sie, die unausgesprochene Anschuldigung »Schütze, wollen Sie
behaupten, ich hätte etwas mit dem Hinterhalt zu tun gehabt, in dem
Ihr Bruder ums Leben gekommen ist?« Sie kannte die Antwort bereits.
So hatte Kommandanthauptmann Able es gewollt, aber es schmerzte sie
um so mehr zu wissen, daß auch Bens Bruder sie für schuldig hielt.
Ihre eigenen Schuldgefühle lasteten schon schwer genug auf
ihr.
»Nein, Ma'am«, gab er kühl zurück. »Ich stelle nur fest, daß Sie
allein den Hinterhalt überlebt haben. Nicht mehr und nicht weniger
Es gibt andere, die der Ansicht sind, daß Sie möglicherweise Ihre
eigene Kompanie verraten und in den Hinterhalt geführt haben, um
sie abschlachten zu lassen.«
»Glauben Sie dieses Gerede auch, Schütze?«
Harley zuckte leicht die Schultern. »Ehrlich gesagt, Oberleutnant,
bin ich mir nicht sicher. Ich bin erzogen worden, selbst die
Wahrheit herauszufinden, bevor ich ein Urteil fälle. Das einzige,
worum es mir geht, ist die Wahrheit. Mehr verlangt meine Familie
nicht.«
»Wenn Sie Schuld zuweisen wollen, dann bin ich verantwortlich für Benjamins Tod. Ich hatte
an jenem Tag den Befehl über die Kompanie. Ich habe die Befehle
erteilt.«
»Und mein Bruder ist gestorben.«
»Wenn ich Ihnen sagen würde, daß ich sie nicht absichtlich in einen
Hinterhalt befohlen habe, würden Sie mir glauben, Schütze?« Sie
beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch.
»Sie können sagen, was immer Sie wollen, Ma'am. Wie ich Ihnen
gerade erklärt habe, interessiert mich nur die Wahrheit.«
Hawke erkannte, daß sie gegen eine Wand redete. Sie war sich nicht
sicher, was für einen MechKrieger Harley abgeben würde, aber sie
mußte Regeln für ihn aufstellen. Sie hätte eine Rüge geradezu
eingeladen, hätte sie darauf verzichtet.
»Na schön, Schütze Rassor. Sie haben sich einiges aufgebürdet. Sie
trauen mir nicht, und sie mögen mich nicht. Damit kann ich
fertigwerden. Schon mancher gute Soldat hat unter mir gedient,
obwohl er mich nicht ausstehen konnte. Aber keiner hat es dermaßen
zur Schau gestellt. Wenn Sie mich hassen wollen, dann hassen Sie
mich, aber dann gefälligst in Ihrer Freizeit. Wenn ich anwesend
bin, werden Sie mich mit dem Respekt behandeln, den Sie meinem Rang
schulden. Das heißt, Sie werden mich ansehen, wenn Sie mit mir
reden, und Sie werden sich Ihre Aufmüpfigkeit
verkneifen.«
Harley nickte einmal langsam. »Ja, Ma'am. Respekt. Ja,
Ma'am.«
Sie stand auf, ohne den Blick von ihm zu nehmen. »Ihr Bruder hat
mir auf eine Weise vertraut, die Sie nie verstehen werden, Schütze.
Das war eine Sache zwischen uns. Im Laufe der Zeit werden Sie
lernen müssen, mir ebenfalls zu vertrauen. Ich bin Ihre
befehlshabende Offizierin, aber ich weiß, daß ich Ihnen das nicht
befehlen kann. Es ist etwas, das Sie selbst erreichen müssen, wenn
Sie unter mir dienen wollen.«
»Wenn Sie es sagen, Ma'am.« Harley stand ebenfalls auf und riß die
Hand zu einem schnellen Salut hoch.
Hawke entließ ihn, aber sie war alles andere als zufrieden damit,
wie sich die Dinge entwickelten.
Zehn Stunden später trat sie auf die Brücke der General Gordon, einen Becher Kaffee in der Hand.
Tagar Edelstein, der Skipper des Schiffs, hatte sie gerufen. Gunney
Coombs war ebenfalls da und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Es
war spät, sehr spät sogar. Das konnte nur bedeuten, daß etwas
vorlag, das nicht warten konnte.
Kapitän Edelstem befehligte die General
Gordon schon, seit sein Vater vor zwanzig Jahren in Pension
gegangen war. Mehr noch, seit das Schiff vor Jahrhunderten vom
Stapel gelaufen war, hatte es immer ein Edelstein kommandiert.
Dieser wirkte trübsinnig und reichlich phlegmatisch, aber
Kommandanthauptmann Able vertraute ihm, und das genügte Hawke.
Außerdem schaffte er es, das Jahrhunderte alte Landungsschiff in
Betrieb zu halten, was mehr war, als sie von anderen Skippern sagen
konnte, denen sie in ihrer Laufbahn schon begegnet war.
»Ich nehme an, Sie haben einen guten Grund, uns aus den Federn zu
holen, Skipper?« fragte sie.
»Tut mir leid wegen der Uhrzeit, aber das ist Standardverfahren für
einen Fall wie diesen.«
»Einen Fall wie welchen,' Kapitän?«
»Vor zwanzig Minuten haben wir die Verbindung zum primären
Kommunikationssatelliten verloren, der Funksignale an anfliegende
Raumschiffe weiterleitet. Wir haben auf den Reservesatelliten
umgeschaltet. Der funktionierte fünf Minuten, dann war er auch
weg.«
»Irgendwelche Satelliten fallen ständig aus«, stellte Coombs
fest.
»Stimmt. Aber wir haben die Langstreckenoptik eingesetzt. Die
Satelliten sind nicht mehr da.«
Hawke verstand sofort. »Satelliten verschwinden nicht
einfach.«
Coombs runzelte besorgt die Stirn. »Wir haben
Gesellschaft.«
Edelstein nickte. »Wegen einer einfachen Fehlfunktion hätte ich Sie
nicht geweckt. Aber wenn beide Satelliten plötzlich verschwinden,
ist die einzige vernünftige Erklärung, daß sie jemand abgeschossen
hat.«
»Wie weit sind wir noch entfernt?« fragte Hawke.
»Dreiundvierzig Stunden«, erwiderte der Kapitän. »Wenn Sie einen
schnelleren Rücksturz wollen, kann ich die Bremsphase verzögern.
Dadurch werden wir die letzten paar Stunden mehrere G aushalten
müssen, aber wir kommen ein paar Stunden früher an.«
Hawke nickte. »Machen Sie's.«
»Was ist mit den Händlern?« fragte Coombs.
»Wir behalten sie lieber in der Nähe, für den Fall, daß es Ärger
gibt. Sie setzen zeitgleich mit uns am selben Ort auf, und wir
geben ihnen den nötigen Schutz Wie sieht es mit unserer
Gefechtsbereitschaft aus, Gunney?«
»Die Mechs sind voll einsatzklar. Das Problem ist, daß Glancy sich
auf Slewis einen astreinen Dünnpfiff eingehandelt hat. Sie kann
kaum gehen, geschweige denn einen Mech steuern. Selbst wenn sie es
augenblicklich schaffen würde, nicht mehr alle zwei Sekunden aufs
Klo zu rennen, würde sie noch ein paar Tage brauchen, sich zu
erholen.«
»Wen schlägst du vor, Gunney? Du hast mit diesen Rekruten
gearbeitet.«
»Sie sind alle noch Grünschnäbel, Ma'am. Aber wenn Sie einen von
ihnen mitnehmen wollen, würde ich Rassor nehmen.«
Sie hatte natürlich gewußt, wen er ihr empfehlen würde. »Geben Sie
die Information an die Händler weiter, Feldwebel. Halten Sie die
Meldung beiläufig. Diese Handelsfahrer neigen zur Nervosität, wenn
sie das Gefühl bekommen, daß sie statt eines Marktplatzes eine
heiße LZ erwartet. Wecken Sie Rassor und geben Sie ihm und dem Rest
der Lanze Bescheid, daß sie sich um 7 Uhr in meinem Büro
versammeln. Wir haben eine Schlacht vorzubereiten.«