Triumpfgebrüll
Prolog
Minskberge, Strana
Metschty Kerensky-Sternhaufen, Clan-Raum14. Februar 3059
Vor der Höhle jagte der Sturm den Schnee wie eine weiße Wand waagerecht vorbei, so daß sie kaum etwas erkennen konnte. Sterncaptain Angela Bekker zog den Parka enger um ihren Körper, als der bitterkalte Wind die Finger nach ihr ausstreckte. Das kleine Feuer am Eingang der Höhle bot etwas Trost, aber nicht allzuviel. Nicht nach dem, was sie durchgemacht hatte.
Weiter hinten in der Höhle lag Sprange und stöhnte immer noch unter den Nachwirkungen des Geisterbärenangriffs vor zwei Tagen. Er und Angela waren Teil einer Gruppe aus achtundvierzig ClanKriegern gewesen, die sich im alljährlichen Tatzenschlagritual den Gefahren der Minskberge ausgesetzt hatten. Nur die höchstrangigen unbetatzten Krieger jedes Sternhaufens - einer Militäreinheit, die ungefähr einem Regiment gleichkam - waren zur Teilnahme berechtigt. Nach Erreichen des Gebirges hatte sich die Gruppe in kleinere Jagdtrupps aus je zehn Kriegern aufgeteilt.
Es war ein erhabener Ritus. Geisterbären-Krieger stiegen ins ewige Eis von Strana Metschty auf, um dort Jagd auf die gewaltige Kreatur zu machen, von der ihr Clan seinen Namen ableitete. Nur die stärksten und tapfersten unter ihnen konnten hoffen, nur mit langen Speeren bewaffnet einen Geisterbär im Zweikampf zu erlegen. Die Hälfte dieser Jagdtrupps kehrte nie zurück, aber mindestens einem Krieger gelang es in der Regel, einen Bären zu töten.
Angela Bekkers Team hatte allerdings wenig Glück gehabt. Kurz vor Ausbruch des Unwetters hatten sie sich aufgeteilt, in der Hoffnung, so ein größeres Gebiet nach der Beute absuchen zu können. Sie hatten alle Überlebensausrüstung und sogar eine Laserpistole zur Verteidigung dabei, aber bei der Jagd durfte nur der Speer eingesetzt werden. Proviant hatten sie auch mitgenommen, aber schon vor mehreren harten Tagen aufgebraucht. Jetzt hatte der Schneesturm aus der rituellen Jagd einen Test ihrer Überlebensfähigkeiten gemacht.
Angela und Sprange waren von einem Unwetter nahezu vollständig geblendet gewesen, das dem momentanen an Heftigkeit kaum nachgestanden hatte, als sich plötzlich ein unter einer Schneewehe versteckter Geisterbär unmittelbar vor ihnen aufgerichtet und angegriffen hatte. Das Raubtier hatte Sprange mit Fängen und Klauen fast zerrissen, noch bevor er reagieren konnte. Sein Speer war für alle Zeiten im Schnee verschwunden. Er hätte die Begegnung nicht überlebt, wenn Angela den riesigen Bären nicht verwundet und in die Flucht geschlagen hätte. Sie hatte Sprange das Leben gerettet. Das war ihnen beiden klar.
Angela sog in einem tiefen Atemzug durch die Nase die Lungen voll Bergluft und fühlte, wie die Eiseskälte ihre Nasenlöcher zerstach. Mit einem Blick hinüber zu der verkrümmten Gestalt Spranges dachte sie an die Jahre zurück, die sie einander schon kannten. Die beiden waren aus demselben Genmaterial gezüchtet und seit ihrer Geburt zusammen. Sie hatten die gesamte Jugend gemeinsam in einer Geschko verbracht und zusammen die harte Ausbildung zum ClanKrieger absolviert.
»Du solltest ins Tal steigen«, stöhnte er. Er hatte sich die rechte Schulter und mehrere Rippen gebrochen und schien Schwierigkeiten beim Luftholen zu haben. Ohne Zweifel schmerzte jeder Atemzug.
»Sei still«, befahl sie, ohne ihre Stimme hart klingen zu lassen. »Wir sind Geisterbären. Wir sind Kogeschwister. Ich werde keinen einwandfreien Krieger verschwenden, nur um mich zu retten.«
»Du warst schon immer die Stärkere von uns beiden«, erwiderte Sprange und verlagerte sein Gewicht ein wenig. »Du hast dir in kurzer Zeit den Blutnamen und einen höheren Rang erworben. Ich bin dir nicht ebenbürtig, das wissen wir beide. Du solltest dich selbst retten.« In seiner Stimme lag Respekt. ClanKrieger schätzten einen Blutnamen über alles andere. Das Recht, einen Familiennamen zu tragen, der in direkter Linie von einem der Gründer der Clans stammte, mußte auf dem Schlachtfeld erworben werden. Nur die besten Krieger konnten sich um einen Blutnamen bewerben. Nur den besten gelang es, einen zu erringen.
Und nur der Elite unter denen gelingt es, im Tatzenschlag einen Geisterbären zu erlegen, dachte Angela.
Sie hatte sich ihren Blutnamen im Cockpit eines alten Warhawk- OmniMechs erkämpft. BattleMechs und OmniMechs stellten den Gipfel der militärtechnologischen Entwicklung dar und beherrschten das Schlachtfeld jetzt schon seit dreihundert Jahren. Die fast drei Stockwerke hohen und mehr oder weniger humanoiden, schwer gepanzerten Mechs konnten sich mit schier unglaublicher Geschwindigkeit bewegen. Darüber hinaus verfügten sie über die Feuerkraft eines Panzerzugs: ein beeindruckenes Arsenal aus Raketenlafetten, Laserkanonen und anderen Werkzeugen des Todes und der Zerstörung.
Eine neue Windbö fuhr in die letzten Funken ihres kleinen Lagerfeuers, das zu qualmen begann und erlosch. Sie hatten nicht mehr viel, womit sie die Flammen hätten füttern können. Und inzwischen wurde es hell. Es blieb ihnen nicht viel Zeit, wenn sie je erreichen wollten, wozu sie aufgebrochen waren. Es lag keine Schande darin, während des Tatzenschlags keinen Geisterbären zu erlegen, aber Angela Bekker gehörte nicht zu den Menschen, die bereit waren, einen Traum aufzugeben. Es schien unmöglich, eines der gewaltigen Raubtiere anzulocken. Der Geisterbär war berüchtigt für seine Taktik, sich in riesigen Schneewehen zu verstecken und geduldig zu warten, bis ihm eine Beute geradewegs vors Maul lief. Es mußte eine andere Möglichkeit geben, diese Prüfung zum Abschluß zu bringen. Wenn nicht, würden Sprange und sie hier in der Kälte den Tod finden.
In Gedanken spulte sie alles ab, was sie über die legendären Geisterbären wußte, während ihr Körper gegen einen Kälteschauder ankämpfte. Sie waren Jäger, mächtige, weißbepelzte Raubtiere, die auf die Hinterbeine aufgerichtet über fünf Meter hoch aufragten. Die Kälte schien sie nicht zu stören. Sie beherrschten dieses gnadenlose Gebirgsmassiv, in dem sie nicht nur überleben konnten, sondern geradezu gediehen. Es hieß, daß sie Blut über Kilometer riechen konnten und ihre Beute allein mit der Nase suchten.
Dann kam ihr die Idee. Es war ein düsterer Gedanke, der ein großer Opfer von ihr verlangte. Aber ihre Ehre stand auf dem Spiel, und für Angela Bekker spielte wenig anderes eine Rolle. Soweit sie an ihre Zeit in der Jagender-Bär-Geschko zurückdenken konnte, hatte dieses Konzept ihr Denken bestimmt. Von einer Kriegerin wurde erwartet, daß sie für Ruhm oder Sieg zu Opfern bereit war, und sie war entschlossen, sich die Ehre zu erwerben, die mit dem Erlegen eines Geisterbären verbunden war. Wortlos und mit äußerster Sorgfalt stieß sie den Schaft ihres Speers in den festen Lehm des Höhlenbodens, dann stemmte sie ihn sicher gegen einen groß aufragenden Felsen. Die geschärfte Spitze deutete zum Höhleneingang.
»Was machst du, Angela Bekker?« fragte Sprange schwach.Sie drehte sich nicht zu ihm um. Sie war zu sehr damit beschäftigt, sicherzustellen, daß der Speer dem Gewicht des Bären standhalten würde. »Ich werde einen Geisterbären erlegen«, stellte sie schließlich fest.
»Kommt denn einer?« In Spranges Stimme lag keine Furcht. Er klang beinahe erleichtert. Eine zweite Begegnung mit einem Bären würde er nicht überleben, und er hatte sich mit dem Tod abgefunden. Der Tod gehörte zum Leben als Krieger, und den Gefahren des Tatzenschlagrituals zu erliegen, brachte ihm keine Schande.
Sie sah sich zu ihm um. »Noch nicht.« Dann zog sie ihr Fahrtenmesser aus der Scheide. Die Klinge glänzte im ersterbenden Licht des Feuers, und Angela betrachtete sie einen Moment. Dann trat sie an den Eingang der Höhle. Unter ihren Stiefeln knirschte der Schnee.
Mit einem schnellen Schlag trennte sie sich
Ringfinger und kleinen Finger der linken Hand ab.
Angela schrie, aber es lag mehr vom wilden Aufheulen eines Tieres
in diesem Schrei als vom Schmerzensschrei eines verwundeten
Menschen. Blut spritzte durch die Gebirgsluft und über die
Höhlenwand. Sie fühlte eine Hitzewelle durch ihren Körper branden,
dann zwangen die Schmerzen sie in die Knie. Das Messer rutschte ihr
aus der Hand und verschwand fast augenblicklich unter dem Schnee,
der sich vor der Höhle auftürmte. Angela Bekker zog ihre leichte
Laserpistole und feuerte auf die verletzte Hand, um die Wunde zu
kauterisieren. Ein dünner Rauchfaden trug den Geruch von
verbranntem Fleisch an ihre Nase. Wieder heulte sie auf, nicht so
laut wie zuvor, aber diesmal war es purer Schmerz.
Mit der unverletzten Rechten hob Angela die beiden abgetrennten
Finger auf und warf sie hinaus in den Schnee. Dann stolperte sie
zurück ins Innere der Höhle, zu ihrem Speer. Ihr Atem ging
keuchend, und Dampfwolken stiegen vor ihrem Gesicht auf, als sie
gegen die wütenden Schmerzen in ihrer Hand ankämpfte.
»Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit«, erklärte sie und
richtete sich zu voller Größe auf, als wolle sie den Schmerz
einschüchtern. Ihr Blut würde den Bären anlocken.
»Wir werden beide hier sterben«, stellte Sprange fest.
Sie sah ihn an und lächelte. »Es gibt kein passenderes Schicksal
für zwei Geisterbären, frapos?«
Zum erstenmal, seit der Bär ihn angefallen hatte, lachte Sprange.
»Pos.«
Die Minuten dehnten sich, dann verdüsterte sich plötzlich der
Höhleneingang, als eine riesenhafte Gestalt sich vor die Sonne
schob. Angela duckte sich etwas. Ihr Atem ging immer noch
stoßweise. Sie spürte das Pochen des Herzschlags am ganzen
Körper.
Der gewaltige Geisterbär wuchtete sich in die Höhle. Er war so
riesig, daß er kaum durch den Eingang paßte. Als er näherkam,
bewegte er sich seltsam lautlos, so gespenstisch, wie sein Name es
ausdrückte. Er war gigantisch, und sein weißes Fell glänzte silbern
in der Glut des Feuers, besonders um seine Halspartie, ein Zeichen
hohen Alters. Der Bär entdeckte seine Beute im hinteren Teil der
Höhle und stieß ein Gebrüll aus, unter dem die Felsen
erbebten.
Angela zuckte mit keinem Muskel. Sie konzentrierte sich auf die
Augen des Geisterbären, sah tief in seine Seele. Dieser Bär hatte
ein hohes Alter erreicht. Es war kein Zweifel daran möglich, daß
sie einer lebenden Legende gegenüberstand. Er starrte zurück, nicht
wie ein Tier, sondern wie ein Krieger, der seinen Gegner
abschätzte. Er trat einen Schritt vor, dann schien er etwas
zurückzuweichen. Sie wußte genau, was er tat. Der große Bär
bereitete sich zum Sprung vor.
Angela duckte sich etwas und griff nach dem Speer. Der Geisterbär
zögerte keinen Augenblick. Er sprang mit einer Geschwindigkeit und
Behendigkeit, die für eine Kreatur seiner Größe unmöglich erschien.
Er kam direkt auf sie zu. Seine Augen ließen die ihren nicht
los.
Es war, als spränge dieses erhabenste aller Raubtiere geradewegs in
ihre Seele.
In diesem Moment zog sie die Speerspitze direkt in die Flugbahn des
anspringenden Bären, ohne den Schaft aus der Verankerung zu lösen.
Der im Flug getroffene Geisterbär spießte sich mit der Wucht seines
Angriffs auf. Der Speer durchstieß glatt seinen Körper und trat aus
dem Rücken wieder aus. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, und
die Höhle und Angelas Bewußtsein des Geschehens verschwammen. Die
Geräuschkulisse verzerrte sich in ihren Gedanken zu einem dumpfen
Tosen. Sie erinnerte sich nicht daran, weggerollt zu sein, aber
irgendwie kam sie neben der gewaltigen Kreatur wieder hoch, die tot
zwischen ihr und Sprange lag. Die riesigen Fangzähne des
Geisterbären hatten im Sturz ihren hellblauen Parka
zerfetzt.
Das Ende kam so abrupt, so schockierend plötzlich, daß sie kaum
wußte, wie sie reagieren sollte. Sie mußte sich überzeugen, daß der
Bär tatsächlich tot war und stieß ihn mit dem Fuß an. Das Tier
röchelte leise, ein Geräusch, das sie noch Jahre später in ihren
Träumen verfolgen sollte. Benommen, möglicherweise vom Blutverlust
oder der Anstrengung, sah sie zu ihrem Kameraden hinüber. Sprange
starrte das Tier, das ihn beinahe getötet hatte, mit weit offenem
Mund und aufgerissenen Augen an. Er drehte sich langsam zu ihr
um.
»Ich glaube es nicht«, sagte er.
Angela nickte. »Der Geisterbär ist ein Jäger, der die Weisheit des
Wartens versteht. Ich habe nur in die Tat umgesetzt, was er
lehrt.«
»Aber was hast du dir angetan?«
Angela blickte auf die verbrannte Wunde an ihrer linken Hand. »Ich
habe getan, was nötig war. Ich bin schließlich eine
Geisterbären-Kriegerin.«
Sie stand auf und holte ihr Messer. »Jetzt werden wir tun, was
nötig ist... um zu überleben.«
Zwei Tage später fand eine Streife die beiden. Angela Bekker war in
das Fell des großen Geisterbären gehüllt, den sie erlegt hatte.
Sprange zog sie auf einer improvisierten Trage hinter sich her.