Kapitel 94
Der Morgen war nicht mehr fern. Delacroix sah dem Tag gleichermaßen mit Hoffen und Bangen entgegen. Je mehr Zeit sie verloren, desto geringer war die Aussicht, sie noch zu finden. Doch im Hellen würden sie sie wenigstens sehen können, würden nicht einfach in der Dunkelheit blind an ihr vorbeireiten.
Durch die Ansammlung von Nonnen zu rennen hatte etwas von einem Lauf über einen Hühnerhof gehabt. Sie waren vor seinem wilden Auftreten ängstlich gackernd auseinandergestoben. Und von Orven war hinter ihm drein gelaufen und hatte sich den ganzen Weg über bis zu ihren Pferden bei den Damen entschuldigt. Zu irgendeinem anderen Zeitpunkt hätte Delacroix das tatsächlich komisch gefunden.
Niemand hatte sich an ihren Reittieren zu schaffen gemacht, was er insgeheim befürchtet hatte. Doch die Zuschauer hatten nur gebannt dem Feuer, dem Tod der Klosterbrüder und dem Schicksal der Menschen auf dem Dach zugesehen. Allerdings waren die Pferde sehr nervös. Sie zerrten an ihren Zügeln und rollten mit den Augen. Von Görenczys Pferd schlug aus und verfehlte ihn nur knapp. Das Feuer ließ sie panisch werden. Zudem hatten sie nach einem anstrengenden Ritt in der Kälte gestanden. So ging man nicht mit Pferden um. Doch eine Wahl hatte es nicht gegeben.
Er mußte sie finden. Er hatte kaum mehr Hoffnung, daß er sie lebend finden würde. Doch wenigstens mußte er es versuchen. Er konnte nicht anders. Er bemühte sich, nicht daran zu denken, wie gering seine Aussichten waren. Wie gering ihre waren. Er konnte jetzt nicht aufgeben. Wenn sie nur ein wenig früher gekommen wären, wenn er ihr nur nachgegangen wäre, als sie sie alle im Korridor hatte stehenlassen. Doch es half kein Wenn und Aber. Sein Magen hatte sich zu einem Steinklumpen verwandelt, seine Zähne waren so hart aufeinandergepreßt, daß sie schmerzten.
Leutnant von Orven ritt wieder voran. Mit seiner mickrigen Laterne versuchte er, mal in diese, mal in jene Richtung zu leuchten. Das brennende Haus lag hinter ihnen, sein Schein erleuchtete den Nachthimmel und färbte ihn dunkelrot. Das Münchner Refugium der Bruderschaft brannte aus. Nicht einer war entkommen. Letztlich waren sie so gestorben wie die Ketzer, die sie seit Jahrhunderten jagten: auf einem riesigen Scheiterhaufen.
Im Haus hatte er schnell umkehren müssen, ohne sie zu finden. Zwischen Rauch und Flammen hatte er den alten Mann gesehen, wie der versuchte, in Sicherheit zu kriechen, das Kalteisenmesser noch in der Hand. Er hatte den gleichen Satz immer wiederholt. Giuseppe hatte den Pater ermordet.
Delacroix wußte nicht, wer Giuseppe war, vermutlich der große Mann auf dem Dach. Und der Pater würde Emanuele sein. Einen der Mönche hatten sie im Erdgeschoß erschossen. Den Alten hatte er selbst aus den Flammen getragen. Den Magier hatte er gar nicht gesehen. Vielleicht war er im Feuer umgekommen.
Er fragte sich, wie es zu dem Feuer gekommen sein mochte. Und wie Corrisande es bis aufs Dach geschafft hatte. Sie kann einfach gut klettern, hatte Marie-Jeanette gesagt. Er war sich sicher, sie hatte dabei einiges unerwähnt gelassen.
Doch das war jetzt nebensächlich. Es hatte ihr nicht geholfen. Die Szene, wie sie in die Dunkelheit gestürzt war, ließ ihn nicht los. Wie eine Puppe war sie gefallen, still und stumm, gekettet an das Handgelenk ihres Peinigers. Keine Hoffnung zu entkommen.
So nah war sie gewesen. So verdammt nah. Dennoch hatte er ihr nicht helfen können. Er war nicht einmal sicher, ob sie ihn bemerkt hatte. Es machte vermutlich keinen Unterschied mehr, doch er hätte gewünscht, sie wüßte, daß er gekommen war, daß er da war.
Die Häuser, an denen sie vorbeiritten, waren noch dunkel. Sie standen frei, waren nicht so eng aneinander gebaut wie im Stadtzentrum. An manchen Fenstern konnte er Menschen sehen, die besorgt nach draußen schauten. Feuer in der Stadt war eine gefährliche Sache. Ein großes Feuer konnte auf ein ganzes Viertel übergreifen.
Doch das Feuer war nicht sein Problem. Es war Sache der hier ansässigen Bevölkerung, sich damit zu befassen. Er konnte nicht helfen, selbst wenn er es gewollt hätte.
Sie hörten den Bach nun wieder und ritten dem Klang entgegen. Der Tunnel öffnete sich, und Delacroix erblickte eine Art Wasserkreuzung. Zwei kleinere Rinnsale wurden abgeteilt und flossen nach rechts und nach links, wo sie wiederum in gemauerten Tunneln verschwanden. Diese schienen kaum breit genug, als daß ein Mensch hindurchgepaßt hätte. Schon gar nicht zwei Menschen. Zusammengekettet.
Der Leutnant schwenkte seine Laterne.
„Der linke Kanal versorgt die Kasernen mit Wasser“, sagte er. „Der rechte führt ins Dianabad. Ich glaube aber nicht ...“
„Nein. Zu schmal. Wohin führt der Hauptarm?“
„In den Englischen Garten. Das ist ein künstlich angelegter Lustpark. Ziemlich groß. Hat einen See. Der Bach fließt dort überirdisch. Vielleicht finden wir sie da.“
Es war klar, daß von Orven nicht erwartete, sie noch lebend zu finden. Doch er hatte nie begriffen, wie stark und mutig sie war. Für ihn war sie nur ein kleines, niedliches, liebes Mädchen gewesen.
„Reiten Sie zum Hotel zurück“, ordnete der Colonel an. „Sie können hier nichts mehr tun. Ich muß versuchen, sie zu finden. Sie müssen das nicht. Die anderen werden Sie vielleicht brauchen. Und“, er hielt kurz inne, „ich danke Ihnen, Herr Leutnant. Ich weiß sehr wohl, wieviel Mut und Überwindung Sie das alles heute nacht gekostet hat. Ich werde es nicht vergessen.“
Der junge Offizier salutierte. Dann reichte er Delacroix die Laterne.
„Bringen Sie sie zurück“, sagte er nur. „Lebendig“ fügte er nicht hinzu. Er ritt davon.
Delacroix spornte sein Pferd an und ritt weiter nordwärts am Bach entlang. Im Osten konnte er den ersten grauen Hinweis auf den anbrechenden Morgen sehen. Er ritt langsam, blieb so nah wie möglich am Ufer des Baches, der schnell und turbulent an ihm vorbei floß. Er konnte in der Dunkelheit nicht allzu viel erkennen, aber zumindest sah er, daß keine Menschen ans Ufer angeschwemmt worden waren, und sah auch keine Körper, die im Wasser an ihm vorbeitrieben.
Das Tauwetter des Frühlings hatte den kleinen Strom zu einer ernsten Gefahr anschwellen lassen. Er floß so reißend dahin, daß Delacroix sich sicher war, es würde nicht leicht sein, sich aus dem Gewässer an Land zu ziehen. Die Strömung war weitaus schneller als Delacroix, der nebenher ritt, und er erwartete jeden Moment in der Dunkelheit schwarze Schemen an sich vorbeitreiben zu sehen.
Er sah nichts. Manchmal, wenn eine besonders hohe Welle sich neben ihm erhob, dachte er, daß sie darunter versteckt sein mochten. Doch dann brach sich die Welle, eine andere stieg hoch oder verlor sich in der Strömung. Und er sprang nicht in die eisigen Fluten, um zu sehen, ob sie es nicht doch war. Das Licht war so schlecht. Er konnte nicht genug erkennen.
Sicher war er sich nie. Vielleicht waren sie längst an ihm vorbeigespült worden, und er hatte es gar nicht bemerkt. Vielleicht trieb sie am Grund entlang, Seite an Seite mit ihrem Peiniger. Vielleicht hatten sie den Tunnel nie verlassen, waren dort steckengeblieben und würden dortbleiben, bis ihre Leichen sich im Wasser zersetzten. Dann würde er sie nie finden. Der Gedanke schmerzte. Seine Phantasie lief ihm davon, zeigte ihm Wassernager und Fische, die ihren toten Körper in der Dunkelheit anfressen würden. Er fluchte und schob das Bild gewaltsam aus seinem Bewußtsein.
Er ritt weiter, suchte die beiden Ufer des schmalen Stroms ab. Wo war sie?
Sie hatten ihr nicht schnell genug folgen können. Sie hätten viel schneller bei den Pferden sein müssen, doch ein überwältigendes Gefühl von Verlust, Zorn und Selbstvorwürfen hatte ihn kurzfristig gelähmt, als er gesehen hatte, wie der Bach in der gemauerten Tunnelröhre verschwand. Er erinnerte sich dunkel daran, daß eine Frau zu ihm gesprochen hatte. „Jetzt kannst du sie nicht mehr verderben“ hatte sie gesagt. Eine Sybille, eine Cassandra, die seinen Verlust voraussagte. Sie hatte ihn für einen Mörder gehalten, für einen Brandstifter, für einen Dämon vielleicht sogar. Und wahrscheinlich hielt sie die Bruderschaft für einen freundlichen Orden frommer und hilfsbereiter Brüder.
Er zwang sich, langsam zu reiten. Das Licht wurde schon grauer, seine körnige Substanz ließ die Welt unwirklich erschienen. Trotzdem war es immer noch zu dunkel, um gut zu sehen. Der Schnee begann zu schmelzen, doch noch strahlte die Umgebung in weißem Glanz. Knospende Bäume und Büsche faßten das Ufer ein, und er mußte immer wieder anhalten und unter dem Gebüsch nachsehen, das bis ins Wasser ragte. Leichen konnten sich in so etwas verhaken.
Es war früh am Morgen, und er war allein im Park. Es war eiskalt. Sein dicker, wollener Mantel versagte zusehends dabei, ihn warm zu halten. Der eisige Nachtwind schnitt durch das schwere Material. Ihm war nur selten kalt, doch heute fror er.
Er verstand genug Deutsch, um die Bedeutung des Wortes „Eisbach“ zu verstehen. Vermutlich hatte man ihn nach seinen Temperaturen so getauft. Er konnte nicht viel wärmer sein als eben getautes Eis. Wie lange überlebte man in solcher Kälte, ehe einem das Herz stehenblieb? Sekunden? Minuten? Wie lange ritt er nun schon dem Strom hinterher? Zehn Minuten? Eine halbe Stunde?
Er hatte keine Chance. Nein. Sie hatte keine Chance. Dennoch konnte er nicht aufgeben. Ihm fiel wieder die Szene im Korridor vor Steinbergs Zimmer ein. Ihr plötzliches, unerwartetes Lächeln hatte ihn tief berührt und gewärmt. Warum hatte sie gelächelt? Er wußte es nicht. Einen guten Grund konnte es kaum geben. Doch er hatte Kraft aus diesem Lächeln gezogen, den sturen Willen weiterzumachen, weiterzukämpfen, die gottverdammte Welt zu retten und vielleicht sogar für sie.
Er fühlte noch den Schock, als sie plötzlich zu der brennenden Gestalt trat, die einst Mrs. Parslow gewesen war. Erst verstand er nicht, was sie da machte. Dann wußte er, daß sie es für sie alle tat. Als er das Ausmaß ihres Opfers begriff, hätte er beinahe vor Schmerz und Wut getobt. Es war verdammt noch mal nicht ihre Aufgabe, für ihn zu sterben.
Der Bach floß nach rechts weg in einen kleinen See. Eine winzige, runde Insel war in die Mitte des Weihers gesetzt. Um den See führte ein Spazierpfad. Er ritt hin. Der See sah flach aus. Im Sommer war er vermutlich die Heimat von Wasservögeln aller Art. Ein hübscher Ort für Spaziergänge.
An der Insel mit den winternackten Weiden ritt er vorbei. Und dann sah er sie. Angeschwemmt am anderen Ende des Sees lagen zwei menschliche Körper im Wasser. Sie bewegten sich nicht.
Er galoppierte den kurzen Weg auf die andere Seite des Sees. Er sprang vom Pferd, warf die Zügel über eine Parkbank, die gleich in der Nähe stand. Er würde die Stute noch brauchen.
Das Ufer war flach, und er erreichte den See ohne Probleme. Der Boden war schneeglatt, doch gefährlich war es nicht. Und selbst wenn, hätte er es nicht bemerkt.
Der Mönch lag dem Ufer am nächsten. Mit dem Bauch nach unten lag er im flachen Wasser, genau wie das Mädchen. Ihre Gesichter waren unter Wasser. Der Arm des Bruders schwamm unter der Oberfläche, mit Handschellen immer noch an Corrisandes schmalem Handgelenk befestigt. Ihr Haar trieb im See wie Tang. Ihr zerrissenes Kleid klebte an ihrem zierlichen Körper. Eiskristalle hatten sich auf ihrem weißen Nacken gebildet.
Delacroix kam nicht an sie heran, ohne den riesigen Mann zuerst aus dem Wasser zu ziehen. Leicht war das nicht. Der Mann war sperrig und schwer und sehr, sehr tot. Und der Untergrund war glitschig, und Delacroix beabsichtigte nicht, auch noch ins Wasser zu fallen.
Er rollte den toten Körper aufs Ufer. Die offenen Augen waren dunkel und leblos. Sein Gesicht war in einer haßerfüllten Grimasse erstarrt. Sein Arm war quer über seinen Körper gestreckt, und Delacroix zog daran, bekam die Ketten zu fassen, dann ihr Handgelenk, faßte zu und zog erneut. Er rollte sie über den Leichnam des Mannes und legte sie im Schnee auf den Rücken neben ihren Peiniger. Ihre Hände waren immer noch zusammengekettet.
Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Kleid war zerfetzt und gab den Blick frei auf die obere Hälfte ihrer Brüste. Sie sahen leicht blau aus vor Kälte.
Er beugte sich über sie. Sie atmete nicht.
Sie atmete nicht!
„Corrisande“, rief er und schüttelte sie heftig an den Schultern. „Mach das nicht mit mir! Bitte!“
Er berührte ihr eisiges Gesicht, ihren Hals, ihre Schlagader. Kein Leben war zu merken, und er wünschte sich das Talent des Vampirs einen Puls zu fühlen. Er beugte sich hinunter zu ihrem Herz, legte sein Ohr an ihre kalte Brust.
Das Herz schlug. Es schlug langsam und leise, aber es schlug.
„Corrisande!“
Sie reagierte nicht. Und sie atmete nicht. Ihr Gesicht bekam langsam einen bläulichen Schimmer. Sie starb. Sie konnte nicht atmen. Es war mehr als ein Wunder, daß ihr Herz noch schlug.
„Corrisande! Verdammt noch mal! Atmen Sie!“ Das hatte er ihr schon einmal befohlen. Damals hatte es geholfen.
Er holte sein Schlüsselbund mit den Dietrichen aus der Tasche und versuchte, die Handschellen aufzuschließen. Sie waren aus normalem Stahl, nicht aus Kalteisen. Seine Hände zitterten. Die Kälte. Es mußte die verdammte Kälte sein, deshalb zitterte er.
Ein Jahrzehnt schien zu vergehen, bis er das Schloß aufbekam, und er sprach die ganze Zeit zu ihr, rief ihren Namen.
Als er sie von der Kette zu ihrem Peiniger befreit hatte, zog er sie hoch. Sie hing schlaff in seinen Händen, ein toter Körper, mehr nicht.
Er legte sie rückwärts gegen seinen Oberkörper, schlang den linken Arm unterhalb ihrer Brüste um sie herum. Ihr Kopf hing nach vorne herunter. Nasses Haar wehte im eisigen Wind. Mit seiner anderen Hand öffnete er ihren Mund. Nereide, hatte der Sí gesagt. Nereiden waren Wasserkreaturen. Wasserkreaturen lebten in kalten Ozeanen. Er betete darum, daß sie nicht so menschlich war, wie sie aussah.
Er schlug ihr mit der flachen Hand auf den Rücken, zog sie ruckartig mit der Linken zu sich heran. Einmal, zweimal, dreimal, und wieder. Dann beugte er sie vor, hielt sie mit dem linken Arm um die Taille. Ihr Kopf hing herunter, ihr Körper war von der Taille ab nach unten gebeugt.
Er schlug sie noch einmal auf den Rücken. Und plötzlich begann sie zu husten und zu würgen. Hauptsächlich spuckte sie Wasser. Zunächst dachte er, es wäre Wasser, das sie geschluckt hatte, dann begriff er, daß sie ihre Lungen leerte. Sie kämpfte um Luft, doch ihre Atmungsorgane waren noch voller Wasser.
Er schlug wieder zu, und sie hustete und röchelte schmerzerfüllt, Wasser floß ihr aus Mund und Nase. Es dauerte eine lange Weile an. Ihre Atmung kam nicht in Gang. Wie am Tag zuvor, als er sie gebrandmarkt hatte, hatte sie die Lungen gegen Luft verschlossen.
„Atmen Sie, Corrisande! Erinnern Sie sich daran, wie das geht! Es ist einfach. Es ist einfacher als Wasser zu atmen.“
Vielleicht stimmte das nicht. Vielleicht war es schwieriger, trockene Luft zu atmen. Er wußte es nicht.
Er hob sie in seine Arme, hielt sie fest, drehte sie zu sich um. Ihre Augen waren halb geöffnet, doch ihr Blick ging ins Leere. Sie sah ihn nicht. Ihr Atem gurgelte. Sie war so kalt wie Eis.
Ganz kurz setzte er sie ab, zog seinen Mantel aus und wickelte sie darin ein. Mit seinem Taschentuch wischte er ihr Mund und Nase ab. Dann hob er sie wieder hoch wie ein Bündel Lumpen.
„Wir gehen jetzt nach Hause“, sagte er und trug sie zurück zu seinem Pferd. „Ich möchte, daß Sie wach bleiben. Sprechen Sie mit mir. Sagen Sie was! Los. Irgendwas! Reden Sie! Tun Sie’s für mich!“
Er hatte das Pferd fast erreicht, als er sie flüstern hörte.
„Kal...“
„Ja, es ist kalt. Wir reiten jetzt nach Hause, und dort bekommen wir Sie wieder warm. Marie-Jeannette wird Ihnen viele schöne Wärmflaschen machen. Aber zuerst müssen wir nach Hause.“
Sie antwortete nicht, und er war sich nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte. Er legte sie sich über die Schulter, während er aufstieg. Dann setzte er sie vor sich hin, ergriff ihren rechten Oberschenkel, zog ihn rüber. So war es leichter, sie zu halten, leichter als im Damensitz. Ihre Kleidung war so zerrissen, daß er die eisige Haut ihres Schenkels berührte.
Sie lehnte schlaff und reglos an seiner Brust. Er hielt sie mit dem rechten Arm. Sie war so entsetzlich kalt. Wie konnte jemand so kalt sein und noch am Leben? Er setzte sein Pferd in Bewegung. Er konnte nur langsam reiten oder sie würde ihm entgleiten. Sie hing wie eine Stoffpuppe in seinem Arm.
„Reden Sie mit mir, Corrisande! Schlafen Sie nicht ein! Ich will, daß Sie wach bleiben. Nehmen Sie sich zusammen!“
Doch sie sagte nichts, und er fürchtete plötzlich, sie könnte in seinem Arm gestorben sein.
„Corrisande! Na los! Reden Sie mit mir. Sagen Sie etwas!“
Ihr Kopf rollte gegen seine Brust. Mit einem Arm hielt er sie fest, der zweite hielt die Zügel. Er konnte sie nicht noch untersuchen.
Doch er konnte sie noch atmen hören, langsam und unter Schmerzen. Ihr Körper bebte vor Kälte. Ihm war auch kalt, doch keinesfalls so kalt wie ihr sein mußte. Er wünschte sich, er könnte sie dadurch wärmen, daß er sie nahe an sich heranzog, doch auch er war nicht mehr warm genug dafür. Ihre Zähne klapperten.
Nicht wichtig. Solange sie zitterte, lebte sie noch.
Und im nächsten Moment erschlaffte sie wieder in seinem Griff. Er kämpfte seine aufsteigende Panik nieder.
Der Morgen zog langsam herauf, und er konnte erkennen, wohin sie ritten. Am liebsten wäre er galoppiert, doch er zwang sich selbst zur Ruhe. Sie war nur ohnmächtig, redete er sich ein. Nur das. Sie konnte jetzt nicht gestorben sein, nicht nachdem sie all das andere überlebt hatte.
„Corrisande! Aufwachen! Los jetzt! Sie müssen kämpfen!“
Ihr Kopf bewegte sich auf seiner Brust.
„Das ist gut, mein Mädchen! Schön kämpfen. Denken Sie an das warme Bett, das auf Sie wartet. Durchhalten!“
Sie versuchte zu sprechen, doch ihre Worte waren undeutlich und verwischt.
„Sie sind da...“
„Natürlich bin da. Ich habe Sie gesucht. Ich wünschte, ich wäre schneller gewesen. Ich wünschte, ich hätte Ihnen das alles ersparen können, meine arme, kleine Nixe.“
Ganz plötzlich sagte sie deutlich:
„Ich bin nichts.“
Er kannte die Aussage. Er wußte, wo sie sie zu hören bekommen hatte.
„Sie sind mein Leben“, antwortete er.
Sie fiel wieder schlaff in seinem Arm zusammen.